Stolperfallen

Bratsche solo
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Kim Kashkashian, eine amerikanische Bratschistin armenischer Abstammung, hat sich seit rund zwanzig Jahren intensiv mit Kurtág auseinandergesetzt, dem neben György Ligeti wichtigsten ungarischen Komponisten der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts.

Pierre Boulez hat György Kurtág einmal gefragt, wie eine Passage aus einem seiner Werke zu dirigieren sei: Kürzer oder länger? Schneller oder langsamer? Auf die Antwort ließ er ein paar Jahre warten, sie kam dann in Form einer Komposition, in der sich Kurtág der Worte Franz Kafkas bediente: "Der wahre Weg geht über ein Seil, das nicht in der Höhe gespannt ist, sondern knapp über dem Boden. Es scheint mehr bestimmt, stolpern zu machen, als begangen zu werden." Ein taoistischer Meister hätte es nicht besser sagen können.

Vielleicht ist der 1926 geborene Komponist ja ein Daoist und weiß es nur noch nicht. Der Satz mit all seiner dialektischen Tücke ist jedenfalls eine exzellente Beschreibung der Kunst Kurtágs. In der äußersten Reduktion auf das Wesentliche entsteht eine Komplexität, die mehr als Stolperfalle denn als Leitfaden taugt, obwohl sie natürlich einer ist. Ein Versuch, zu verdichten, was einem unweigerlich durch die Hände rinnt: den Ton, die Form, die Zeit. Das Leben.

Kim Kashkashian, eine amerikanische Bratschistin armenischer Abstammung, hat sich seit rund zwanzig Jahren intensiv mit Kurtág auseinandergesetzt, dem neben György Ligeti wichtigsten ungarischen Komponisten der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Beide stellt sie auf ihrer neuen CD zueinander, die den schlichten Titel "Music for Viola" trägt. Solo-Musik für Bratsche, das riecht nach starkem Tobak und ist es auch.

Von Kurtág interpretiert sie "Zeichen, Spiele und Botschaften", eine 1989 begonnene Werkreihe, die er bis heute fortschreibt. Kratzig-derbe geht es in "Chromatisch aufreizend" zu, "Eine Blume für Dénes Zsigmondy" ist so fragil, dass sie beim kleinsten Windhauch knicken müsste, "In Memoriam Blum Tamás" kommt wie ein unsicherer Schreittänzer daher, der prompt die Balance verliert. Da ist es schon wieder, das Stolpern. Oder das Stammeln, das der Ungar mitunter als seine Muttersprache bezeichnet hat.

Ligetis "Sonata for Viola solo", in den Neunzigern entstanden, schließt sich daran an. Der erste Satz beginnt mit einer folkloristischen vertraut wirkenden Weise, der immer wieder ein Halbton verrutscht. Gleich einem ungeübten Sänger, der gedankenverloren vor sich hin summt, bis ihm Luft und Klang abhanden kommen.

Wie Kim Kashkashian diesen abrupten Wechsel vom fünffachen forte zum - in Flageoletts gespielten - pianissimo umsetzt, ist atemberaubend. Ebenso die Interpretation der folgenden Sätze, deren Anforderungen physische Grenzen allenfalls am Rande wahrnehmen, rhythmisch, melodisch und harmonisch. Geradezu irrwitzig das prestissimo im vierten Satz, das schon auf einer Geige zum Fürchten wäre. Muss das sein? Ja, weil das, "was leicht liegt, nicht gut ist". Würde György Kurtág dazu sagen.

Kurtág/Ligeti - Music for Viola. Kim Kashkashian. ECM New Series 2240.

Ralf Neite

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