Gibt es Gott?

Wie Theologie die Entfremdung zwischen Glaubenssprache und heutiger Erfahrung aufhebt
Sternennacht in den Alpen. Foto: dpa/Alessandro Della Bella
Sternennacht in den Alpen. Foto: dpa/Alessandro Della Bella
Blockaden gegenüber dem Religiösen resultieren aus einer Blindheit gegenüber bestimmten Präsenzerfahrungen, analysiert der Zürcher Professor für Theologische Ethik Johannes Fischer und skizziert einen Ausweg.

Wir sind auf die Anfänge unseres Verstehens zurückgeworfen." Diese Feststellung Dietrich Bonhoeffers (1906-1945) findet sich oft in Texten, die sich mit der Krise des christlichen Glaubens in der Gegenwart befassen. Zumeist wird sie als tief reichender Sprachverlust beschrieben. Und wenn es in dieser Situation überhaupt eine Therapie gibt, scheint sie darin zu bestehen, Ausdrücke wie Gott, Schöpfung und Erlösung so zu erschließen, dass sie an die heutige Lebenswirklichkeit zurückgebunden sind. Diese Denkweise entspricht einer hermeneutischen Tradition, die die Theologie des 20. Jahrhunderts dominierte und die bis heute nachwirkt. Für sie gilt als ausgemacht: Die Wirklichkeit, auf die sich der christliche Glaube bezieht, erschließt sich über das Verstehen.

Dieses hermeneutische Vorgehen ist ein rein intellektuelles. Man sucht im Denken eine Beziehung zwischen den Gehalten der christlichen Glaubensüberlieferung und der Wirklichkeitserfahrung heutiger Menschen herzustellen. Aber so holt man diese Gehalte nicht in die Erfahrung zurück. Vielmehr bleibt diese Beziehung eine rein gedankliche. Daher konnte diese Hermeneutik nicht die Krise überwinden, an der sie sich abarbeitet. Stattdessen hat sie innerhalb der Theologie eine enorme Intellektualisierung der Glaubensthematik zur Folge gehabt. Und übersehen wird, dass die Glaubenssprache selbst bereits Erfahrung artikuliert.

Um die Entfremdung zwischen Glaubenssprache und heutiger Erfahrung zu überwinden, müsste man die Erfahrung erhellen, die die Glaubenssprache ausdrückt. Darüber hinaus wäre zu untersuchen, was für heutige Menschen diese Erfahrung verstellt. Die folgenden Überlegungen begeben sich hier auf Spurensuche. Und die zentrale These dabei: Das religiöse Fragen und Denken wird durch Erfahrungen der Präsenz der Wirklichkeit in Gang gesetzt. Blockaden gegenüber dem Religiösen resultieren dagegen aus einer eigentümlichen Blindheit für derartige Präsenzerfahrungen.

Tiefes Glücksgefühl

Ich erinnere mich, dass ich als Kind, wenn die Dämmerung hereinbrach, im Garten meines Großvaters auf einen Zaunpfosten kletterte. Und von dort bot sich ein Blick über Felder und Wiesen und einen bewaldeten Höhenzug. Mit der hereinbrechenden Dämmerung verlor die Landschaft ihre Kontur und verschmolz zu einem einzigen, umhüllenden Raum. Und das löste bei mir ein tiefes Glücksgefühl aus.

Viel später, als Theologiestudent, las ich, was Friedrich Schleiermacher unter "Frömmigkeit" verstanden hatte: "Die unmittelbare Gegenwart des ganzen, ungeteilten Daseins". Das drückte für mich aus, was ich als Kind empfunden hatte. Natürlich hatte ich nicht ein Wort wie Dasein benutzt. Es waren schlicht "die" Dämmerung und "die" Nacht, die über Wiesen, Felder und Hügel hereinbrachen. Später lernte ich, dass die identische Wiederholung der einen Nacht in jeder neuen Nacht ein Kennzeichen mythischer Erfahrung ist. Diese Urerfahrung der Nacht spiegelt sich noch in unserer Umgangssprache. Wir sagen: "Die" Nacht bricht an und nicht "eine" Nacht bricht an..."

Betrachten wir im Unterschied hierzu den Satz: "Die vergangene Nacht war eine stürmische Nacht." Hier ist nicht von "der" Nacht die Rede, sondern von "einer" Nacht, nämlich der vergangenen, die in der zeitlichen Abfolge einen bestimmten Platz einnimmt. Sie ist vergangen im Verhältnis zu der Gegenwart, in der sich Sprecher und Adressat des zitierten Satzes befinden. Sie ist nicht im Modus ihrer Präsenz da, sondern der Gegenständlichkeit, als Gegenstand der Verständigung über sie vom Standpunkt der Kopräsenz der daran Beteiligten. Mit Kopräsenz ist gemeint: Nur Sprecher und Adressat dieser Äußerung sind anwesend, aber nicht das, worüber sie sich verständigen. Dementsprechend ist der Ausdruck vergangene Nacht nicht sprachliche Artikulation einer präsenten Realität, sondern Bezeichnung von etwas in der raumzeitlich lokalisierbaren und datierbaren Wirklichkeit.

Sprachliche Gestalt

Man kann sich an diesem Beispiel verdeutlichen: 1. Wir bewegen uns ständig in verschiedenen Präsenzräumen, einerseits im Raum der unmittelbaren Präsenz eines Phänomens, andererseits im Raum der Kopräsenz mit anderen. Mit diesen anderen verständigen wir uns über ein Phänomen und lokalisieren es dabei innerhalb der Welt, wie sie für die Perspektive dieses Raumes gegenständlich ist - also innerhalb der gegenständlichen Welt, wie diese Welt im Folgenden genannt werden soll.

2. Es gibt Phänomene, die uns nur über die Erfahrung ihrer Präsenz erschlossen sind. Die Nacht als eine singuläre Realität ist nur im Raum ihrer umhüllenden Präsenz da. Sie lässt sich nicht in der gegenständlichen Welt auffinden, etwa unter der Fragestellung: "Gibt es die Nacht, existiert die Nacht?". In dieser Welt gibt es nur viele Nächte. 3. Der Unterscheidung der Präsenzräume entspricht die Unterscheidung der sprachlichen Funktionen der Artikulation und der Bezeichnung. Der Ausdruck "die Nacht" artikuliert, was in seiner Präsenz erlebt wird. Er gibt dem Erlebten sprachliche Gestalt und bezieht von ihm her seine Bedeutung.

Bei der Bezeichnungsfunktion der Sprache hingegen haben die Wörter bereits eine Bedeutung. Deshalb können sich hier Fragen der korrekten Bezeichnung stellen, nämlich ob sich ein gegebener Gegenstand unter die Bedeutung eines Wortes subsumieren lässt. Hier ist die Frage sinnvoll, ob es das mit einem Wort Bezeichnete gibt und dieses existiert.

Aufgeklärtes Denken

An diesem Beispiel lässt sich das Eigentümliche der Wirklichkeitsauffassung verdeutlichen, die sich dem modernen, aufgeklärten Denken eingeschrieben hat. Zwar sind auch wir wie die Menschen der mythischen Zeit fähig, die Nacht in ihrer umhüllenden Präsenz zu erleben. Anders aber als für jene ist für uns die Nacht nichts Reales, etwas, das es wirklich gibt. Denn sie kann nirgendwo in der gegenständlichen Welt aufgefunden werden, derer wir uns in der Verständigung vergewissern. Daher ordnen wir sie der ästhetischen Erfahrung zu, dem Bereich des schönen Scheins. Und sie beflügelt die Phantasie der Poesie.

Im Unterschied zum Mythos ist für uns nur wirklich, was in dieser Welt aufgefunden werden kann. Nicht als wirklich gelten daher Phänomene wie die Nacht, die allein über ihre Präsenz erschlossen ist. Um als wirklich gelten zu können, müsste es sie nach dieser Sicht "geben", müsste sie "existieren". Wie aber soll man sich diese Existenz denken? Wo in aller Welt sollte die Nacht existieren?

Paradigmatisch für diese Vergegenständlichung des Wirklichkeitsbezugs ist das wissenschaftliche Denken. Der Konflikt zwischen wissenschaftlichem Weltbild und religiösem Glauben, der sich in der Moderne auftut, entzündet sich genau daran, dass die Vergegenständlichungsperspektive auf den religiösen Glauben projiziert wird. Dieser scheint ein Glaube daran zu sein, dass es das mit dem Wort Gott Bezeichnete "gibt", dass Gott "existiert", so wie in dieser Perspektive die mythische Erfahrung der Realität der Nacht ein Glaube daran zu sein scheint, dass es die Nacht gibt. Und solcher Glaube erscheint primitiv und absurd.

Präsenzerfahrungen

Jenseits dieses Denkens liegt, dass mythische und religiöse Erzählungen vom Ursprung der Dinge nicht primitive und durch das wissenschaftliche Weltbild überholte Weisen der Welterklärung sind, sondern Bestimmungen dessen, womit der Mensch es in derartigen Präsenzerfahrungen zu tun hat.

Und so kommt es zu einem eigentümlichen Verdrängungsprozess. Denn auch der durch die Aufklärung hindurchgegangene Mensch ist ja permanent mit der Präsenz der Wirklichkeit konfrontiert. Gleichzeitig aber muss er die Realität dessen verleugnen, was er als präsent erlebt.

Augenfällig wird das am Phänomen des Bösen. Auch der aufgeklärte Mensch kann es in seiner schrecklichen Präsenz erleben wie in den Bildern vom 11. September 2001. Aber er kann es nicht als etwas Reales verstehen, da er sich dessen Realität nur in der Weise denken kann, dass es das Böse "gibt". Und das wäre für ihn Rückfall in ein voraufklärerisches Weltbild, das mit der Existenz des Teuflischen oder Dämonischen rechnet. Einen Realitätsgehalt kann er diesem Phänomen nur in der Weise abgewinnen, dass er es in die gegenständliche Welt einordnet, zum Beispiel durch dessen Psychologisierung.

Erleben von Gut und Böse

Philipp Reemtsma hat die These vertreten, die Frage, wie der Holocaust geschehen konnte, sei "albern", da durch die historische Wissenschaft längst beantwortet. Doch ist mit einer historischen Erklärung tatsächlich die Frage beantwortet, wie dieses Entsetzliche geschehen konnte, eine Frage, die auf die Präsenz dieses Geschehens reagiert, die die Bilder der Vernichtungslager zeigen? In solchen Fragen zeigt sich: Der Präsenz der Wirklichkeit können wir nicht dadurch entrinnen, dass wir die Wirklichkeit auf die Eindimensionalität der gegenständlichen Welt in Gestalt psychologischer, historischer und naturwissenschaftlicher Erklärungen reduzieren. Dies wäre damit erkauft, dass wir sprach- und orientierungslos werden in Bezug auf die erlebte Wirklichkeit, in der sich unser Leben recht eigentlich abspielt, im Erleben von Gutem und Bösem, Liebe und Hass, Glück und Leiden, Gesundheit, Krankheit und Sterben.

Diese metaphysischen Fragen, ausgelöst durch derartige Präsenzerfahrungen, führen in jenen Bereich, mit dem es Religion zu tun hat. Allerdings wäre es ein Missverständnis zu meinen, dass die Religion derartige Fragen beantwortet und solche Entsetzlichkeiten mit einem höheren Sinn versieht. Wenn man sich die Psalmen anschaut, gibt es auf die Klagen, die dort vor Gott gebracht werden, kaum je eine Antwort. Worin liegt dann der Trost der Psalmen?

Vielleicht kann hier eine Parallele zum Mythos erhellend sein: Der von den Erinnyen gehetzte Oedipus findet Zuflucht in einem heiligen Hain, der dem Gott Apoll geweiht ist. Die Rachegöttinnen können dort nicht hinein, denn der Hain ist von der Präsenz des Apoll erfüllt. Und sie wird zur Zuflucht vor einer anderen Präsenz, der der Erinnyen.

Trost der Psalmen

Die christlich-religiöse Erfahrung ist ähnlich. Aber hier geht es nicht um heilige Orte, sondern um Texte, spirituelle Praktiken und rituelle Vollzüge. Sie vermitteln in den Präsenzraum des Rettenden in Gestalt der Gegenwart des Heiligen - angesichts der Präsenz der lebensbedrohlichen Chaosmächte. Dann wäre es dies, was den Trost der Psalmen ausmacht.

Wird Gott in dieser Weise aufgesucht, dann bezeichnet das Wort Gott nicht etwas, das es "gibt" und in der Lebenswirklichkeit des heutigen Menschen gefunden werden kann. Vielmehr artikuliert es eine Wirklichkeit, in deren Präsenzraum die Texte, Praktiken und rituellen Vollzüge vermitteln, die für den christlichen Glauben konstitutiv sind. Und das Wort Gott bezieht seine Bestimmtheit und Bedeutung von diesem Präsenzraum her.

Diesbezüglich besteht aber ein sehr wesentlicher Unterschied zum Beispiel der Nacht. Deren Präsenz können wir unmittelbar sinnlich erleben. Und ähnliches gilt für die mythischen Götter, Aphrodite kann in der erotischen Liebe, Ares im Krieg und Poseidon im Toben des Meeres erlebt werden. Doch anders ist das beim Gott der jüdisch-christlichen Überlieferung. Er ist anders als die mythischen Götter keine innerweltliche Realität, sondern transzendent. Während für Oedipus der Präsenzraum des Rettenden ein heiliger Hain ist, vermittelt für den Beter des 31. Psalms ein Text diesen Raum.

Religiöser Kahlschlag

Wie der Philosoph Kurt Hübner in seinem Buch "Die Wahrheit des Mythos" gezeigt hat, gibt es zwischen Mythos und christlichem Glauben enge Strukturanalogien. Dies hat seine Erklärung darin, dass beide Mal die Präsenz der Wirklichkeit im Fokus des Fragens und Denkens steht. Eine Entmythologisierung des christlichen Glaubens, wie Rudolf Bultmann sie vorschlug, hält Hübner daher für einen religiösen Kahlschlag. Der entscheidende Punkt liegt vielmehr darin, dass der christliche Glaube als solcher trotz dieser Strukturähnlichkeiten einen entmythologisierenden Grundzug hat. Er sucht den Präsenzraum des Heiligen jenseits innerweltlicher Erfahrungen auf und befreit den Menschen so aus der Abhängigkeit von der Präsenz innerweltlicher Schicksalsmächte, von Götzen. Natürlich kann auch Gottes Präsenz innerweltlich erfahren werden. Man denke nur an den Schöpfungspsalm 104. Aber wessen Präsenz hier erfahren wird, gewinnt für den christlichen Glauben seine Eindeutigkeit erst aus dem in den Raum dieser Präsenz vermittelnden Wort.

Mit der Zertrümmerung dieser Transzendenz des Heiligen, wie sie unter der Keule der Frage erfolgt, ob Gott überhaupt existiert, droht in einer zur reinen Immanenz geschrumpften Welt die Wiederkehr des Mythos. Das 19. und das 20. Jahrhundert liefern für die Renaissance innerweltlicher Schicksalsmächte, miteinander ringender Klassen, Nationen, Völker und Rassen, reiches Anschauungsmaterial. Es handelte sich hierbei ja nicht bloß um soziologische, ethnologische oder biologische Kategorien, sondern Phänomene von geschichtsmächtiger Präsenz, wie sie in Massenaufmärschen sinnenfällig erlebt wurde oder in der Mythifizierung der Rasse. Verbunden war dies mit einem tiefen Schicksals- und Vorsehungsglauben. So wie für den Mythos vor Troja nicht nur Menschen miteinander kämpften, sondern dies den Kampf zwischen den Göttern spiegelte, schien hier das Schicksal der Menschen im Kampf derartiger Schicksalsmächte entschieden zu werden. Hier sieht man: Die Frage, welche Mächte und Kräfte durch ihre Präsenz das menschliche Leben bestimmen und lenken, und worauf der Mensch daher letztlich sein Vertrauen setzen kann, lässt sich nicht aus der Welt schaffen. Vielmehr kehrt sie gerade da - in umso kruderer Form - wieder, wo sie durch aufgeklärte Kritik erledigt zu sein scheint.

Johannes Fischer

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Foto: Privat

Johannes Fischer

Johannes Fischer (Jahrgang 1947) war von 1993 bis 1997 Professor für Systematische Theologie in Basel und von 1998 bis zu seiner Emeritierung 2012 Professor für theologische Ethik an der Universität Zürich und Leiter des dortigen Instituts für Sozialethik.


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