Verstummt

Erzählungen aus Siebenbürgen
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Diese Texte ergänzen auf überraschende Weise unsere Kenntnis der deutschsprachigen Literatur Rumäniens und bieten in den besten Stücken über alles literaturgeschichtliche Interesse hinaus großes Lesevergnügen.

Eginald Schlattner, 1933 im rumänischen Arad geboren, ist nach 1990 durch drei Romane bekannt geworden. Der 1998 in Wien erschienene Roman Der geköpfte Hahn wird oft als sein erster literarischer Text bezeichnet. Jetzt hat die Berliner Germanistin Michaela Nowotnick zwei sorgfältig kommentierte Erzählbände Schlattners herausgegeben.

Bis auf die Erzählung "Mein Nachbar, der König" von 1992 sind alle Texte zwischen 1956 und 1968 entstanden und ermöglichen so einen Einblick in das Frühwerk des Schriftstellers vor seinem mehr als zwanzigjährigen Verstummen. Sie ergänzen auf überraschende Weise unsere Kenntnis der deutschsprachigen Literatur Rumäniens und bieten in den besten Stücken über alles literaturgeschichtliche Interesse hinaus großes Lesevergnügen. Und sie machen auf bewegende Weise deutlich, wie viel angestaute künstlerische Energie nach dem Ende der Diktatur freigesetzt wurde und nach Gestaltung drängte.

Schlattner wuchs innerhalb der deutschsprachigen Minderheit in Fogarasch am Rande der Karpaten auf. Sein Vater wurde 1945 in ein sowjetisches Arbeitslager verschleppt, 1948 wurde die Familie von ihrem Grundstück vertrieben. Schlattner studierte ein Jahr lang Theologie, danach Hydrologie und begann bereits als Student zu schreiben. In der 1956 entstandenen satirischen Erzählung "Gefährte Rebhuhn" schlugen sich Erfahrungen nieder, die er als Praktikant in einer Wassermessstation gemacht hatte. Sie erschien im "Almanach für das Jahr 1957" einer deutschsprachigen Tageszeitung und ist der einzige literarische Text Schlattners, der im sozialistischen Rumänien erscheinen konnte. Andere Erzählungen waren bereits angekündigt und für den Druck vorbereitet; von der Erzählung "Odem" war ein Vorabdruck in einer Zeitschrift veröffentlicht worden.

Die Verhaftung wegen "Nichtanzeige von Hochverrat" am 28. Dezember 1957 und zwei Jahre in den Gefängnissen des Geheimdienstes Securitate brachen die erfolgversprechende Entwicklung des zu erster Bekanntheit gelangten Schriftstellers ab. Nach der Haftentlassung konnte er erst einmal nicht weiterstudieren, sondern arbeitete unter anderem als Hilfsarbeiter in einer Ziegelfabrik, auf einer Staatsfarm im Banat und beim Eisenbahnbau in den Westkarpaten. 1969 durfte er das Studium abschließen und erhielt eine Anstellung als Ingenieur, wovon er mit Frau und Kind auskömmlich leben konnte. Dieses für rumänische Verhältnisse komfortable Leben beendete er, als er 1973 zum zweiten Mal begann, evangelische Theologie zu studieren. Diesmal beendete er das Studium und arbeitete fast vierzig Jahre lang als Pfarrer in siebenbürgisch-sächsischen Gemeinden. Bis heute ist er landesweit als Gefängnisseelsorger unterwegs.

An der Erzählung "Gediegenes Erz", deren Veröffentlichung 1957 ebenfalls vorbereitet war, lassen sich die für jene Zeit typischen Merkmale sächsisch-siebenbürgischer Literatur feststellen: die altertümliche Sprache der Auslandsdeutschen, der ausgeprägte Behauptungswille der Minderheit, der gelegentlich in Nationalismus abgleitet, sowie die häufige Bezugnahme auf die Vergangenheit der Bevölkerungsgruppe bis ins Mittelalter. Andererseits der Versuch, im Sinne der stalinschen Nationalitätenpolitik eine Entwicklung der Siebenbürger Sachsen als offene Minderheit im sozialistischen Rumänien zu gestalten.

Die künstlerisch anspruchsvoll aufgebaute Erzählung "Odem", die als "kritische Edition" angelegt ist, kann auch ohne die textkritischen Anmerkungen, die ein komplexes Bild ihrer Entstehungsgeschichte ermöglichen, mit Spannung und Anteilnahme gelesen werden.

Eginald Schlattner: Mein Nachbar, der König. Verlassene Geschichten. Schiller Verlag, Bonn 2012, 209 Seiten, Euro 16, -.

Jürgen Israel

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