Gottes Traumspieler

Vor hundert Jahren starb der Schriftsteller August Strindberg
Foto-Selbstporträt von August Strindberg, 1891. Foto: Archiv
Foto-Selbstporträt von August Strindberg, 1891. Foto: Archiv
Er bekannte sich zu einer Lebenswanderschaft, die immer auf der Suche nach einer Wahrheit ist - ein halluzinierender Realist, dem Wahn und Wirklichkeit verschwammen, aber auch ein großer Deuter menschlicher Seelenabgründe: August Strindberg. Roland Mörchen erinnert an sein disparates Werk.

Alles ist Traum und Nicht-Traum, wirklich und unwirklich. Manchmal scheint es, als wollte sich August Strindberg sein Vorhandensein immer wieder einreden, um es anschließend in neue geistige Dimensionen zu führen. "Zeit und Raum existieren nicht. Auf einem unbedeutenden Grund der Wirklichkeit spinnt die Einbildung weiter und webt neue Muster", heißt es im Stück "Ein Traumspiel". Das Dasein gibt den Stoff ab, aus dem Träume gewoben waren. Die Existenz blieb Strindberg rätselhaft, die Psyche ein irritierendes Phänomen, und das Leben war sowieso endlich. "Dass die Menschen so viel Aufhebens vom Tode machen, hängt damit zusammen, dass sie sich zu tief in der Erde verwurzelt haben, um das Ausreißen nicht schmerzlich zu empfinden", resümierte der Schriftsteller. Er starb am 14. Mai 1912 in Stockholm, wo er 63 Jahre zuvor geboren worden war. Die Angst vor der Sünde, eng verknüpft mit sexuellem Lustempfinden, wurde Strindberg schon als Kind in die unschuldige Seele gelegt. Als er dreizehn war, starb die pietistische Mutter, zu der er ein besseres Verhältnis hatte als zum ungeliebten Vater. Nach dem Abitur studierte August in Uppsala Medizin und Literaturwissenschaft. Mit Jobs als Lehrer hielt er sich finanziell über Wasser und trat zeitweise auch als Gemeindeprediger auf. Wann genau er mit religiösem Freidenkertum in Berührung kam, ist nicht ganz klar. Auf jeden Fall dürfte es ihn wie ein Blitzschlag getroffen haben. Strindberg entdeckte die Literatur als Berufung und fing an, Erzählungen, Gedichte und Artikel zu schreiben. Ein Versdrama über Jesus vollendete er jedoch nicht. Sein erstes erhalten gebliebenes Stück entstand 1869 und hieß "Der Freidenker". Drei Jahre später interessierte er sich dann für den Reformator "Meister Olof", dessen Name zum Titel des Dramas wurde, obwohl ein Revolutionär die eigentliche Leitfigur abgab. Im Stück fühlt sich Olof berufen, die geistliche Macht der katholischen Kirche zu brechen, kann sich aber nur zögernd dem Revolutionär Gert anschließen, der auch für politische Freiheit kämpft. Gert erwartet am Schluss für seine Überzeugungen die Hinrichtung, während Olof einlenkt und dadurch dem Scharfrichter entgeht. Historisch-religiöse Stoffe beschäftigten Strindberg noch einige Male, darunter auch ein Luther-Stück. Im Königsdrama "Die Folkungersage" von 1899 verliert der gläubige Magnus VII. Eriksson wie Hiob alles, obgleich er frei von Schuld ist. Ein anderes Geschichtspanorama widmete der Dramatiker im Jahr darauf dem protestantischen Schwedenkönig "Gustav Adolf", der im Dreißigjährigen Krieg zur religiösen Toleranz findet.

Wie die Propheten

Beharrlich ließ Strindberg sein ambivalentes Verhältnis zum Christentum in seine Werke einfließen. Mal verquickte er den Glauben nach dem Vorbild Emanuel Swedenborgs mit einem dumpfen Mystizismus, mal löste er ihn in psychologische Deutungsmuster auf. Gott stand als Chiffre für geglückte menschliche Gemeinschaft oder wurde zugunsten einer genauen Psychologie des Einzelnen und seiner Beziehungen zu den Mitmenschen aufgegeben. In den philosophischen und gesellschaftskritischen Betrachtungen "Ein Blaubuch" hielt er seine Gedankenwelt akribisch fest. Er bekannte sich zu einer Lebenswanderschaft, die immer auf der Suche nach einer Wahrheit ist, wie sie die Propheten des Alten Testaments und Christus im Neuen Testament verkörperten. Dabei scheute er sich nicht, herkömmliche Vorstellungen einzureißen. Natur und Übernatur, Erde und All strömten für ihn zur Einheit zusammen. In seinen Stücken ließ er Realität und Traum gleichberechtigt ineinanderfließen. Strindberg schöpfte aus dem Fundus der Weltkultur, griff psychologische und naturalistische Elemente genauso auf wie symbolistische und surreale Merkmale. Was unsichtbar ist, wird einzig am Sichtbaren offenbar und erweist sich am Ende vielleicht doch nur als Schein, wie das Nichts hinter der Tür in "Ein Traumspiel". In seinem Stück "Advent", das er im Untertitel "ein Mysterium" nannte, war das noch anders. Strindberg schickt darin ein altes Ehepaar, das selbstgerecht auf jeden herabsieht, in phantastischen Situationen durch die Hölle der Selbsterkenntnis. Jesu Mahnung, "Richtet nicht, auf dass ihr nicht gerichtet werdet", findet in der Figur des Richters ihren symbolisch verstärkten Ausdruck. Wie seine Frau ist er radikal selbstbefangen und darum eingekapselt in seine "Persona", die eigene Maske mithin, die er sich in Reue vom Gesicht reißen muss. In der Bohème-Komödie "Rausch", deren wörtlich übersetzter Titel eigentlich "Verbrechen und Verbrechen" lautet, unterschied Strindberg zur gleichen Zeit zwischen irdischem Gerichtshof und dem Gewissen als göttlichem Richterspruch. Wie der Messias unschuldig leidet, so sieht Strindberg auch das unverschuldete Elend der Gotteskinder, dargestellt in den Enkeln und der Tochter des Richters, als Zeichen der göttlichen Gnade. Diese Sicht hatte er sich nach schwersten seelischen Krisen abgerungen. Doch dabei blieb es nicht. Angstvisionen, dass menschliches Leid sinnlos sein könnte, gehörten, wie überhaupt Widersprüche, zu Strindbergs Natur. Gilt ihm in "Advent" die "Ankunft" des Gottessohnes womöglich noch als soteriologisches Ereignis, leugnet er kurz darauf im visionären "Traumspiel" die Erlösungstat Christi und schließt eine göttliche Schuld nicht aus, weil die Schöpfung dem Menschen mehr Fragen auferlegt als Antworten zugesteht. Gott verschwindet als verborgener Gott hinter der traumatisierten Welt. Im Stück "Ostern" repräsentieren die Tochter und der Sohn der Familie Heyst die zwei Seelen in Strindbergs Brust. Eleonora leidet in dessen eigenen Worten "mit allem Lebenden und verwirklicht Christus im Menschen". Für Elis hat sich dagegen durch das Versöhnungsopfer am Kreuz nichts geändert, da die Welt nicht besser geworden ist und die Boshaftigkeit immer neue Triumphe feiert. Elis sieht sich folglich von seiner Umgebung für die Schuld des im Gefängnis sitzenden Vaters mit angeklagt.

Blick nach innen

Strindberg litt unter dem Bösen in der Welt, das er als dem Menschen innewohnende Schicksalsmacht mit dramatischen Mitteln erforschte. "Die Kraft des Menschen im Bösen ist unermesslich", notierte er im Drama "Nach Damaskus". Und: "Je besser ich mir vorkam, desto schlechter wurde ich." Hochmut und Selbstgefälligkeit knebeln die menschliche Seele. Der Balken im eigenen Auge verhindert die Klarsicht. "Die Menschen tun einander sehr unrecht: jeder malt den anderen nach seiner eigenen Vorstellung", steht im Drama "Die Brandstätte". Strindberg richtete den Blick immer stärker nach innen, um die Landschaft der eigenen Seele zu erkunden, zumal er selbst von Verfehlungen nicht frei war. In der Psyche tanzten Chimären und spotteten Dämonen. "Bisweilen kommen wir mit dem bloßen Schrecken davon: Gott straft uns oft mit unseren Einbildungen", schrieb Strindberg. Unwiderruflich sah er sich in ein bestimmtes kulturelles Umfeld hineingeboren, zu dessen Anerkennung ihn das Schicksal verpflichte, dem er nicht entrinnen konnte oder wollte: "Sein Land und seine Religion hat man Gott zu verdanken, daher soll man daran festhalten." Diese Bestimmung war im Grunde nichts anderes als die Conditio humana, die Strindberg vor allem wie ein Zustand dauernder Qual erschien. Erlösungssehnsucht, drohender Selbstverlust und das Leiden an einer ungerechten Welt, dieser irdischen Hölle, ziehen sich als Motive durch das literarische Schaffen, besonders durch das Spätwerk. "Mensch sein ist nicht leicht, es ist fast unmöglich", stöhnte Strindberg. Selbstanalyse und Anfeindungen, die ihn auch außer Landes trieben, weckten in ihm den Misanthropen. Der große schwedische Literat war ein zwiespältiger, zerrissener, aber auch ein sich unersättlich bildender Charakter und ständig auf der Suche nach seiner wahren Bestimmung. Plus ohne Minus gab es für ihn nicht. Wie Jakob in der Bibel, die er in- und auswendig kannte, rang er mit dem Engel: "Ein religiöser Mensch ist immer ein bisschen schlechter als andere, weil er die Geißel nötig hat, und gleichzeitig ein bisschen besser, weil er sie benützt." Darin klingt das "Recht auf Selbstbestrafung" an, das Anerkennen der Schuld, über die sich das Geschöpf nicht erheben kann, was Strindberg im Sündenfall gespiegelt sah. Erst die Freiheit, die zum Bösen verführt und zum Guten befähigt, macht den Menschen zu dem, was er ist: sündig und heilig zugleich. Lebt er bewusst religiös, gewinnt er eine tiefere Einsicht in das Böse - sie wirkt wie eine züchtigende Geißel. Zeitweise neigte Strindberg dazu, alles für determiniert zu halten. Andererseits entdeckte er seine sozialistische Ader und entwickelte gesellschaftskritischen Furor. Die Begegnung mit den idealistischen Ideen Jean-Jacques Rousseaus brachte ihn zur Diagnose eines wachsenden Naturverlusts innerhalb moderner Lebensformen. Er liebte den Trost des Glaubens und wollte doch nicht getröstet werden. Er war Skeptiker, interessierte sich aber für Kabbalismus, Alchimie und Okkultismus und wechselte von der Theologie zur Theosophie. Strindberg analysierte kühl, war zugleich hochsensibel und studierte psychologische Theorien von der Verführbarkeit des menschlichen Geistes. Er war ein halluzinierender Realist, dem Wahn und Wirklichkeit verschwammen. Strindberg stritt für ein menschenwürdiges Leben und zweifelte zuzeiten immer wieder an dessen Sinnerfüllung. Er vertrat atheistische Ideen und klaubte sich eine multikonfessionelle Religiosität aus verschiedenen weltreligiösen und philosophischen Einflüssen zusammen. Man klagte den Schriftsteller wegen Blasphemie und verzerrender Darstellung der Konfirmation an, sprach ihn aber frei. Zuerst war er für die Emanzipation der Frau, dann dagegen. Er glaubte an die Liebe und kritisierte die Ehe als Institution. Dreimal war er glücklos verheiratet. Er verehrte die Frauen und machte ihnen das Leben nicht leicht, wobei er hellsichtig auch die männlichen Abwehrhaltungen im Kampf der Geschlechter beschrieb. Mehrfach befand er sich wirtschaftlich am Rande des Ruins, psychische Krisen schrieb er sich von der Seele. Eine davon geistert wegen des Romantitels "Inferno" als "Inferno-Krise" durch die Sekundärliteratur.

Strindberg lebte in der Ära der Nachaufklärung, der Zeit Freuds und Nietzsches, mit dem er eine Zeitlang brieflich verkehrte. Geistige Fundamente waren erschüttert. Der Mensch sah sich plötzlich zurückgeworfen auf sich selbst, kränkelte, allein unter leerem Himmel, an einem Seelenfieber. Die Fragen, wie frei der Mensch ist und woher er die Kraft zum Guten findet, wo doch alles nur unbegreifliches Leid ist, verlangten nach neuen Antworten. Strindberg vertiefte sich zwar in die Naturwissenschaft, aber im Wesentlichen war dem Anarchisten des Geistes, der wie Nietzsche den Nihilismus als Gefahr erkannte, alles Positivistische suspekt, weil es vom subjektiven Erleben absah und der Metaphysik keinen Raum ließ. Im Roman "Am offenen Meer" reflektierte Strindberg deshalb anhand der Hauptfigur diese naturwissenschaftliche Hybris, die sich alles unterwirft und den spirituellen Einklang mit der Welt verloren hat.

Roland Mörchen

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