Für Umstürze ungeeignet

Der Mythos der Facebook-Revolution ist nicht nur falsch, sondern auch gefährlich
Ruhe suchen in den Unruhen: Demonstrant in Kairo vor gut einem Jahr. Foto: dpa/Sipa
Ruhe suchen in den Unruhen: Demonstrant in Kairo vor gut einem Jahr. Foto: dpa/Sipa
Revolution via Internet: Der arabische Frühling hat scheinbar gezeigt, welche politische Kraft die sozialen Netzwerke entfalten können. Doch was ist dran am Mythos der Facebook-Revolution? Nicht viel, meint Linus Neumann, einer der Autoren der mehrfach ausgezeichneten Plattform www.netzpolitik.org.

Im vergangenen Jahr spielten die "sozialen Netzwerke" im Internet erstmals eine nennenswerte Rolle in Politik und Gesellschaft. Bundesverteidigungsminister Karl-Theodor zu Guttenberg und die Europa-Abgeordnete Silvana Koch-Mehrin wurden von einer ad-hoc-Kollaboration vieler freiwilliger Plagiatsjäger des Betruges überführt, Boulevard-Medien beschäftigten sich mit eskalierenden Facebook-Parties oder über Twitter verbreiteten Botschaften der Berliner Abgeordneten der Piratenpartei, die Einzug ins Landesparlament gehalten hatten. Vor allem aber wurde der "arabische Frühling" international als "Facebook-Revolution" gefeiert.

Weil der 26-jährige Gemüsehändler Mohamed Bouazizi von tunesischen Behörden immer wieder wegen einer fehlenden Genehmigung gegängelt worden war - mal beschlagnahmte man seine Waage, mal nahm man ihn fest und misshandelte ihn - setzte er sich aus Protest gegen die Willkür im Dezember 2010 selbst in Flammen. Seine Tat gilt als der Auslöser eines landesweiten Proteststurms, der als "Jasmin-Revolution" bekannt werden und in nur wenigen Wochen zum Ende der 23-jährigen Amtszeit des Präsidenten Ben Ali führen sollte.

Evangelium der Netzfreiheit

Unter dem Stichwort "#sidibouzid" wurde weltweit über die Ereignisse getwittert: Man konnte die Revolution live am Bildschirm mitlesen, und Blogger wie der Global-Voices-Aktivist Sami Ben Gharbia wurden zu gefragten Interview-Partnern. Ihre Forderung, die tunesische Netzzensur zu beenden, wurde weltweit gehört. Dem Leid des verstorbenen Mohamed Bouazizi wurde hingegen weitaus weniger Medieninteresse zuteil.

Als Hosni Mubarak kurz darauf in Ägypten den Aufstand witterte, ließ er kurzerhand das Internet abschalten, das seinen Geheimdiensten bis dahin so gute Dienste als Informationsquelle über Aufständische geleistet hatte, deren E-Mail- und Netzwerkaktivitäten überwacht worden waren. Er besiegelte mit diesem Schritt sein Schicksal, während Aktivisten der Gruppierung Telecomix sich bemühten, den Ägyptern neue Modem-Einwahlpunkte im Ausland bereitzustellen. Westliche Medien feierten sie als Revolutionshelfer und Hillary Clinton machte es sich medienwirksam zum erklärten Ziel, das Evangelium der Netzfreiheit in ferne Länder zu exportieren.

Ein Mythos ist geboren

So wurde er geboren, der Mythos von der Facebook-Revolution. Politologen, Soziologen, "Netz-Experten" und sogar Khaled Fahmy, Professor an der American University in Kairo, wurden nicht müde, ihn zu befeuern - allen Beteuerungen des Facebook-Gründers Mark Zuckerberg zum Trotz, der bereits im vergangenen Mai in Paris betont hatte, dass Facebook keine nennenswerte Rolle bei der Revolution gespielt habe. Auch die ägyptischen Aktivisten Ahmed Maher, Ramy Raoof und Gigi Ibrahim stimmen ihm uneingeschränkt zu und betonen die Rolle sozialer Netzwerke als wichtige Informationsquellen über den Verlauf der Ereignisse, nicht jedoch als Auslöser, Koordinierungsplattformen oder gar zentrale Keimzellen der Revolution.

Doch die Story war zu verführerisch: Das revolutionäre Potenzial, über das Netzpioniere seit Jahrzehnten gepredigt hatten, schien sich endlich zu entfalten, und zwar nicht nur in Nordafrika: Erst kurz zuvor hatten die Betreiber der Internetplattform Wikileaks begonnen, US-Diplomatendepeschen Stück für Stück zu veröffentlichen und so für weltweite Reaktionen gesorgt.

Die Proteste fanden jedoch - ganz traditionell - im öffentlichen Raum, auf realen Plätzen statt. Dass hierzulande von einer Facebook-Revolution gesprochen wird, liegt rückblickend betrachtet wohl hauptsächlich daran, dass Facebook und Twitter für viele Journalisten inzwischen die meistgenutzten Informationsquellen sind - und dass diese Revolutionen die ersten größeren waren, die seit der Etablierung der sozialen Netzwerke im allgemeinen gesellschaftlichen Alltag stattgefunden haben. Dass sich Revolutionen auch in den sozialen Netzwerken im Internet widerspiegeln, ist evident. Schließlich ist einziger Sinn dieser Plattformen, dass Menschen sich über das austauschen, was sie beschäftigt.

Das Netz kann nicht einfach ausfallen

Aber machen nicht gerade die dezentrale Struktur des Internets und sein offener Charakter es doch zu einem besonderen Medium, das für Revolutionen oder direktere Formen der Demokratie besonders geeignet ist? Eine Frage, der nachzugehen sich lohnt.

Der Begriff "Internet" bezeichnet - im Gegensatz zur landläufigen Auffassung - nicht ein interaktives Nachfolgeprodukt des Fernsehens, sondern ein weltweites Netzwerk, über das alle angeschlossenen Rechner miteinander in direkte Verbindung treten können. Durch seine Dezentralität ergeben sich viele redundante Verbindungen, die dem Internet eine hohe Ausfallsicherheit garantieren: Fällt ein Knotenpunkt weg, stehen zahlreiche Umleitungen zur Verfügung. Auch einen so genannten "Single Point of Failure", bei dessen Ausfall das gesamte Netz als solches ausfiele, gibt es nicht.

Diese Struktur ist Grundlage und Bedingung für den Erfolg des Internets und der meisten seiner üblichen Anwendungsformen: Das Netz "gehört" niemandem, ist inhaltsneutral, und jeder Teilnehmer kann es nach Gutdünken nutzen. Es ist diese Struktur, die alle Versuche, Inhalte im Netz zu zensieren oder zu sperren bisher zumindest insoweit erfolglos macht, als dass sie mit wenig Aufwand zu umgehen sind. Das alles ermöglicht nicht nur Meinungsfreiheit und weltweite Kommunikation, sondern auch niedrige Schwellen für die Entwicklung wirtschaftlicher Innovationen.

Nutzung basiert auf zentralen Servern

Die dezentrale physikalische Struktur spiegelt sich aktuell jedoch kaum in der Weise wieder, in der das Netz von der Mehrheit seiner Teilnehmer genutzt wird. Da nicht alle Computer immer eingeschaltet und mit dem Internet verbunden sind, ergibt sich die Notwendigkeit von Servern, die definierte Aufgaben für uns erledigen, wenn wir nicht online sind. Diese Trennung in Dienstleister (Server) und Kunden (Clients) hat durchaus Vorteile, die über das reine Energiesparen hinausgehen, sie setzt aber die Anbieter in eine ökonomische Konkurrenz, die bekanntermaßen nach kurzer Zeit in Mono- oder Oligopolen mündet.

Zum Beispiel nehmen E-Mail-Server unsere Post entgegen, damit wir sie dort später abholen können. Dabei gibt es eine Vielzahl großer E-Mail-Anbieter wie Gmail oder gmx und eine Menge firmeneigene oder privat betriebene Server. Sie alle sind untereinander maximal kompatibel, so dass es für den Nutzer keinen Unterschied macht, ob er eine E-Mail an ein Gmail- oder gmx-Account sendet. Der Nutzer muss bei seinem E-Mail-Anbieter nur darauf vertrauen können, dass dieser die anvertrauten Inhalte sicher vor fremdem Zugriff bewahrt oder sie nicht sogar absichtlich an Kriminelle oder Geheimdienste weitergibt.

Web 2.0

Webseiten, als beispielhafter One-to-Many-Anwendungsfall, werden über das Hypertext Transport Protocol ausgeliefert. Auch hier verhält es sich dank offener Standards und Protokolle ähnlich: Wer will, kann sich eine .de-Domain kaufen und unter dieser Adresse eine Webseite entweder auf einem eigenen Server anbieten oder auf eine Vielzahl kommerzieller Angebote zurückgreifen, die Serverplatz bereitstellen.

Seit in den Neunzigerjahren einfache Content-Management-Systeme populär wurden, ist das Betreiben einer Webseite ohne nennenswerte Computerkenntnisse möglich. Das war ein wichtiger Entwicklungsschritt für das revolutionäre Potenzial des Internets, das nun nicht mehr nur einer privilegierten Minderheit zur Verfügung stand, sondern zu einem Medium der Menschen für die Menschen werden konnte. Jeder konnte nun Journalist sein, die Bürger entwickelten sich langsam zur "Fünften Gewalt" neben den traditionellen Medien, die ihrerseits verschiedenen ökonomischen Zwängen und politischen Interessen unterworfen sind. Von Gegen- oder Teilöffentlichkeiten ist heute die Rede, und viele marginalisierte Bevölkerungsgruppen bekommen erstmals die Möglichkeit einander zu finden und zu organisieren.

So etwas wie eine Konterrevolution

Wenn diese Entwicklung zum dezentralen, antihierarchischen Many-to-Many-Medium mit vollem Recht als Revolution verstanden wird, dann kann der Aufstieg Facebooks als so etwas wie die Konterrevolution interpretiert werden: Facebook bietet als Webseite die Funktionen von E-Mail, Chat, Forum, Videokonferenz, Tagebuch, Photoalbum und privater Homepage unter einem Dach an und ist dabei mit anderen Anbietern maximal inkompatibel: StudiVZ-Nutzer lassen sich per Facebook selbstverständlich nicht erreichen und wer seinen Facebook-Account löscht, verliert womöglich jegliche Kontaktmöglichkeit zu seinen Freunden, ganz zu schweigen vom Archiv der bisher ausgetauschten Nachrichten - würden Sie sich das von einem E-Mail-Anbieter gefallen lassen?

Doch das ist nicht die einzige Besonderheit. Aus der unnötigen Zentralität folgt: Alle Daten, egal ob private Kommunikation über Chats und Direktnachrichten, öffentliche Pinnwand-Fotos oder Aufzeichnungen über Vorlieben: Interessen und Freundschaften befinden sich hier in einer Hand, auf einer zentralen Serverfarm. Betrieben wird diese Serverfarm nicht aus Liebe zu Kommunikation, Freiheit oder gar Revolution, sondern aus kommerziellem Interesse, verbunden mit einer x-seitigen Nutzungsvereinbarung, deren Inhalt aus einer langen Liste von Rechten besteht, die der Nutzer an Facebook abtritt.

Inzwischen gilt für Dienstanbieter im Netz: "Wenn du nicht bezahlen musst, dann bist du nicht der Kunde, sondern das Produkt, das verkauft wird." Andy Müller-Maguhn, Vorstandsmitglied des Chaos-Computer-Clubs, drückte es einmal sinngemäß so aus: "Was wir hier 'Soziale Netzwerke' nennen, sind weder Netzwerke noch sind sie sozial - das Geschäftsmodell würde ich eher als asozial bezeichnen."

Gemessen an dem, was das Internet revolutionär macht, ist Facebook also nicht nur unnötig, sondern auch rückschrittlich: Das All-inclusive-Kommunikationsmedium der Zukunft speichert nicht nur alle Daten und analysiert sie. Nein - zu allem Überfluss liefern wir die Daten freiwillig und geben unser Einverständnis zu deren Auswertung. Alle in so genannten "Datenschutz- oder Privatsphäre-Vereinbarungen" zu findenden Willensbekundungen, diese Daten nicht an "unberechtigte Dritte" weiterzugeben, sind ebenso unsinnig wie selbstverständlich, schließlich sind diese Daten Facebooks Kronjuwelen. Das Problem beginnt in dem Moment, in dem eine solche zentrale Struktur errichtet wird, die diese Überwachungsmöglichkeiten überhaupt bietet.

Es gibt auch andere

Darauf, dass diese Möglichkeiten dann nicht missbraucht werden, können wir nur vertrauen. Eine Kontrollmöglichkeit haben wir nicht, solange wir die genutzte Infrastruktur nicht dezentralisieren und selbst unterhalten. Das ist möglich: Protokolle für soziale Netzwerke, bei denen die Daten bei den Nutzern selbst bleiben und keine zentrale Struktur entsteht, werden zum Beispiel unter den Namen "Diaspora", "StatusNet", "Danube" oder "Social Swarm" entwickelt, um nur einige zu nennen. Den Freiwilligen-Projekten fehlt aber neben Kapital und einigen Funktionalitäten vor allem die aggressive Vermarktung, um ein schnelles Wachstum herbeizuführen und neue Nutzerkreise zu erschließen. Das fehlende Geschäftsmodell aber ist Teil des Plans.

Wer einen Eindruck gewinnen möchte, welche Daten wie oft, von welchen Ländern bei zentralisierten Dienstanbietern angefragt werden, dem sei Googles halbjährlich erscheinender Transparenzbericht über Löschungs- und Nutzerdatenanfragen empfohlen: Über tausend Anfragen nach Nutzerdaten haben deutsche Behörden in den sechs Monaten zwischen Januar und Juni 2011 an Google gestellt, immerhin zwei Dritteln davon wurde auch entsprochen. Google betreibt neben der Suchmaschine unter anderem YouTube, den E-Mail-Dienst GMail, den Foto-Dienst Picasa und ein Angebot für Blogger.

Orwellsche Dystopie

Doch es bleibt nicht bei Anfragen: Ein gutes Beispiel hierfür ist sicherlich das Vorgehen gegen die Plattform Wikileaks, deren Domain vom Anbieter gekündigt wurde, während MasterCard, visa, Paypal und die Bank of America gleichzeitig dafür sorgten, dass die Organisation keine Spenden mehr erreichten.

Die Betreiber der Plattform Twitter erhielten gerichtliche Anweisungen, die Nutzer- und Kommunikationsdaten der Wikileaks-Unterstützer Rop Gonggrijp, Jacob Appelbaum und der isländischen Parlamentsabgeordneten Birgitta Jonsdottir herauszugeben. Diese Anweisungen waren verbunden mit der strafbewehrten Anweisung, über den Vorgang absolutes Stillschweigen zu bewahren - auch gegenüber den Betroffenen. Twitter setzte sich gegen die Verschwiegenheitsverpflichtung zur Wehr, um den Betroffenen die Möglichkeit zu einer Klage zu geben - die sie verloren. Anfragen gleichen Wortlauts erreichten den Internetprovider Sonic.net und Google, wo Jacob Appelbaum einen E-Mail-Account hatte.

Revolutionen, egal ob von rechts, links, oben oder unten, richten sich per definitionem gegen das Bestehende und überwinden es durch das Brechen seiner Regeln und Gesetze: Das Undenkbare wird gedacht, das Unmögliche getan. Ein Kommunikationsmedium, das sich aber diese Gesetze und Regeln einverleibt, ist daher für Revolutionen ungeeignet. Hinsichtlich der Wirkung einer solchen Maßnahme bietet sich ein Vergleich mit dem an, was man bei traditionellen Medien "Gleichschaltung" nennt. Wenn ein solcher Effekt jedoch nicht nur Massenmedien, sondern auch unseren halböffentlichen und privaten Gedankenaustausch in Computer-Netzen befällt, dann unterscheidet uns von einer Orwellschen Dystopie nur noch die Tatsache, dass wir uns die Teleschirme voller Begeisterung und freiwillig anschaffen.

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Linus Neumann

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