Schweiz, Luftlinienentfernung 100 km. Eine freiberuflich schreibende Theologin aus dem Pfarrhaus Wattwil turnt nach, worauf der vormalige Safenwiler Pfarrer Karl Barth schon 1936 seine Theologie zusammenschnurren sah: In „diese[m] kleine[n] Seufzer, mit dem wir zu Gott sagen: Ach, ja! [...] steckt das ganze Vaterunser darin und jedes Miserere und Gloria, das die Kirche je gebetet hat. [...] Alles und Alles muß auch immer zu diesem kleinen Seufzer werden.“
75 Jahre später sind natürlich die Koordinaten andere. Frau statt Mann, Postpatriarchalismus statt "Theologische Existenz heute", "Bibel in gerechter Sprache" statt Luther-Deutsch. Ina Praetorius legt das Glaubensbekenntnis nach ihrer eigenen Grammatik aus. Deren Paradigma heißt "Matrix", und der tragende Satz "Der SINN des menschlichen Lebens ist dieses Leben selbst, in das mich meine Mutter geboren hat und aus dem ich eines Tages wieder weggehen werde, ins ANDERE hinein, aus dem ich gekommen bin."
Praetorius konjugiert Friedrich Schleiermachers "Gefühl der schlechthinnigen Abhängigkeit". Als substanziell unrezensierbares Stück Bekenntnisliteratur wirbt sie für Ehrlichkeit im "Glauben". Roter Faden ist ihre autobiografische und wirkungsgeschichtliche Hermeneutik - und deren "Anchor Women" "Tante" und "Mutter": "... manchmal lachte sie die Kirchenleute aus, die das 'Tönle' hatten. Als 'Tönle' bezeichnete sie die hörbare Unaufrichtigkeit ihrer schwäbisch-pietistischen Kindheit. Weil sie das Tönle verabscheute, bemühte sie sich ehrlich zu sein, was ihr in vielerlei Hinsicht gelang".
Hier steckt schon alles drin: anstelle dogmatischer Perfektheiten einer lebensweltfremden Sprache Sym-Pathie für das "krumme Holz" (Immanuel Kant), für das günstigstenfalls Komparativische des gelebten Lebens.
Manche mögen das als Exemplar von Semipelagianismus in ihre Botanisiertrommel stecken - Praetorius, insoweit ganz die Mutter, würde darüber wohl nur Bescheid wissend lachen. Wer wollte schon seiner "Matrix" entkommen, ja überhaupt entkommen wollen sollen? "Matrix", das beziehungsreiche Schlüsselwort: Brücke zur Leibhaftigkeit individuellen Daseins, ja, der Weiblichkeit von dessen Ursprung, Referenz an das Hervorbringend-Ordnend-Waltende (wie der gleichnamige Film), das Wort für 'Gebärmutter' - und für 'Barmherzigkeit', die unrechthaberisch schon ’mal fünfe grade sein lassen kann.
Erklärtermaßen durch die eigene MS-Erkrankung um Selbsterkenntnis bereichert, rührt Praetorius in bewusst "wilder Exegese" den wohlbekannten Text um und auf, stößt auf die Lebensdienlichkeit von "Polytheismus", dankbar für die Fehlerfreundichkeit der "Matrix". Von Otmar Keel und Hannah Arendt leiht sie sich strategische Argumente. Allzu vertrauten Katechismus-Sinn ordnet sie in netter Form, aber entschlossen: Der "Herr" (Jesus) kommt ins Töpfchen, als "Maßstab, Gegenüber, Ahne, der sich nicht einfach dem Zeitgeist ausgeliefert hat" - ins Kröpfchen aber alle Ausgrenzungseiferer. Könnte sein, dass die eine wie die andere Lesart im großen Talmud des Lebens, dem "unendlichen Auslegungsraum" aufgehoben zu werden verdiente - Matrix wird wissen, wozu man (/frau?) sie noch mal brauchen kann.
"Wattwil" ist nicht "Safenwil" - Differenzen bleiben. Aber es gibt untergründige Querverbindungen. Ina Praetorius ringt, auch mit ihren Lesenden, um Einstimmung in ein Lebensgefühl, das sie selbst und jeden einzelnen Leser, jede Leserin, "ein Mensch in seinem Widerspruch" sein lässt - im Vertrauen darauf, dass Gott DIE EWIGE es schon richten wird, am Ende - wie Kirchenvater Karl Barth in seinen letzten Lebenstagen sich ins Kinderlied früher Jahre einfand: "Jetzt schlof i frehlig y; / ’s isch hitte luschtig gsi, / der lieb Gott het recht an mi denkt ..." Ina Praetorius: Ich glaube an Gott und so weiter. Gütersloher Verlagshaus, Gütersloh 2011, 192 Seiten, Euro 19,95.
Frithard Scholz
Frithard Scholz
Frithard Scholz ist Pfarrer i.R. und arbeitete zuletzt bis 2010 als Dezernent (Theologische Ausbildung, Gemeindedienste, Gottesdienst, Kirchenmusik) im Landeskirchenamt der Evangelischen Kirche von Kurhessen-Waldeck in Hofgeismar.