Im Sommer 2006 legt eine EKD-Kommission das Impulspapier "Kirche der Freiheit" vor. Ziel sei es, Perspektiven für die evangelische Kirche im 21. Jahrhundert aufzuzeigen. Ein alternativloser dritter Weg für die Kirche statt "weiter so" und "abschmelzen" wurde als zwingend propagiert: "Bei einem aktiven Umbauen, Umgestalten und Neuausrichten der kirchlichen Arbeit und einem bewussten Konzentrieren und Investieren in zukunftsverheißende Arbeitsgebiete wird ein Wachsen gegen den Trend möglich."
Die Diskussion um das Papier, seine Wachstumsideologie und den damit selbst erzeugten Kirche-im-Aufbruch-Prozess ist auch heute - sechs Jahre danach - keineswegs abgeebbt, wie die Diskussion um Isolde Karles kritische Bilanz zur "Kirche im Reformstress" und Friedrich Wilhelm Grafs "Kirchendämmerung" zeigen. Bis heute bleiben erhebliche Zweifel, ob nicht in diesem Papier eine einseitige Ideologisierung evangelischer Reformprozesse vorliegt.
Beeinflusst von Unternehmern
Zu erinnern ist daran, dass das Kirche-der-Freiheit-Papier und der Reformprozess nachhaltig vom "Arbeitskreis Evangelischer Unternehmer" (AEU) beeinflusst wurde. Der AEU, 1966 als Zusammenschluss evangelischer Unternehmer, Manager und Interessierter gegründet, hatte sich zur Jahrtausendwende eine neue strategische Zielbestimmung gegeben (www.aeu-online.de). Statt wie bisher als kleiner Interessenverband (1990 weniger als zweihundert Mitglieder) im Gegenüber zur Kirche zu agieren, sollte nun eine aktive Beteiligung in den Kirchengremien erfolgen. Als Theologe, Betriebswirt und Mitglied des AEU seit Mitte der 1990er Jahre begrüßte ich diesen strategischen Wechsel.
Doch inzwischen ist bei mir der Verdacht entstanden, dass das AEU-Engagement in Verbindung mit gleichgesinnten EKD-Kräften einer Art von kirchlichem Reformbürokratismus Vorschub geleistet hat, der für die Probleme der Kirche eine einzige, alternativlose und zentralistisch gesteuerte Lösung zu etablieren sucht. Dabei scheint mir mit Angstszenarien und systematischer Ausblendung kritischer Stimmen gearbeitet zu werden.
So wurde eine empirische Krise - man muss schon sagen: erfunden und die Angst vor Bedeutungs- und Finanzverlust suggeriert. Mit Begriffen wie "hochexplosives Gemisch aus Versorgungskosten, Teuerungsrate und schrumpfenden Einnahmen" agierte das Papier. Bis zum Jahr 2030 sei mit 33 Prozent weniger Mitgliedern und 50 Prozent weniger Kirchensteuern zu rechnen.
Prognosen ungesichert
Die verwendeten und prognostizierten Zahlen sind aber alles andere als gesichert. So verhält sich die Zahl der Protestanten von 1956 zu der von heute fast annähernd gleich oder sinkt marginal (sie liegt bei ca. 24/25 Millionen). Zwar geht der "Marktanteil der Evangelischen" an der Gesamtbevölkerung zurück; aber dies ist bedingt durch muslimische Einwanderer oder auch den deutlich entkirchlichten Osten. Unzweifelhaft wird die normale Demografie auch die Mitgliederzahl der evangelischen Landeskirchen zukünftig sinken lassen. Aber kann ein solcher natürlicher Rückgang überhaupt als protestantisches Problem angesehen werden, um einer Wachstumsideologie ("wachsen gegen den Trend") das Wort zu reden? Theologisch ist die Diskussion höchst peinlich, weil rein ökonomisch von Quantitäten her argumentiert wird und Wachstum als Menschenwerk, nicht als Gotteswirken ("wir säen nur!") angesehen wird. So kommen Ausgetretene und Abgetretene (also Gestorbene) in einen Topf.
Statistisch gesehen treten aber erheblich mehr Mitglieder ab denn aus. In Zahlen: Zwischen 1991 und 2008 verloren die evangelischen Kirchen insgesamt 10,4 Millionen Mitglieder. Davon traten 3,7 Millionen aus und 6,7 Millionen starben. Im gleichen Zeitraum gewannen die Landeskirchen 5,3 Millionen Mitglieder, 4,2 Millionen durch Taufe und 1,1 Millionen durch Wiedereintritt. Hinzu kommen rund eine Million Mitglieder, die im gleichen Zeitraum aus dem Ausland zuwanderten. In Summe stehen 6,3 Millionen neue irdische Mitglieder gegen 3,7 Millionen lebend Ausgetretene. Einer eigenen statistischen Bereinigung durch die Aktualisierung der kircheninternen Melderegister zufolge haben die Landeskirchen zudem 800.000 Mitglieder verloren, was exakt dem Rückgang von 2003 bis heute entspricht.
Das Problem (nicht nur der Kirchen) ist somit nicht der Schwund durch den Tod von Kirchenmitgliedern, sondern die wenigen Geburten. Sofern aber das Nachwuchsproblem identifiziert wäre, müsste Kirche dann nicht vielleicht Kita-Plätze kostenlos anbieten oder Bildung kostenfrei übernehmen?
Ängste ökonomischer Natur
Die hinter dem Papier propagierten Ängste waren vielfach ökonomischer Natur. Sie wurden beispielsweise durch Aussagen wie "Gehaltsabsenkungen für den Pfarrerstand" transformiert. Dass sich Kirchensteuer nicht linear zur Mitgliederzahl verhält, war schon 2006 empirisch gesichert. Es ist eine Mär, dass die Kirchensteuereinnahmen bei geringerer Mitgliederzahl sinken müss(t)en. Seit 1956 bis heute sind die Einnahmen aus Kirchensteuern asymmetrisch zur Mitgliederzahl um sagenhafte 2 400 Prozent (von umgerechnet 220 Millionen Euro im Jahre 1956 auf heute 5,0 Milliarden Euro) gestiegen. Selbst wenn man In-/Deflation und Wirtschaftswachstum berücksichtigt, bleibt die Verzehnfachung der Einnahmen bei eher konstanten, leicht sinkenden Mitgliederzahlen. Das Säen und Wachsen steht bei der Kirchensteuer in einem wundersamen Verhältnis. So zahlen nur rund 40 Prozent der Mitglieder überhaupt Kirchensteuer von über 10 Euro/Jahr.
Durchschnittlich geht es um 178 Euro pro Kopf im Jahr, von 90 Euro (im Osten) bis 250 Euro (im Süden). Den höchsten Anteil zahlen die Gutverdiener (vielfach Singles). Das sind Menschen mit über 52 000 Euro Bruttojahreseinkommen wie qualifizierte Facharbeiter, Oberstudienräte, Bankangestellte, Klinikärzte oder Unternehmer. Diese Einkommensgruppe (15 Prozent der Mitglieder) tragen mit über 75 Prozent der Kirchensteuermittel zum (finanziellen) Gelingen von Kirche bei. Um Kirchensteuer zu steigern, benötigt die Reformbürokratie also keine Neugeborenen, sondern wieder eintretende Chefärzte.
Pfarrpersonen wurden im Kirche-der-Freiheit-Papier nicht gerade positiv beurteilt, eher wurden hier Watschen ausgeteilt, wenn etwa schlechte Beerdigungsansprachen mit Bahnverspätungen verglichen wurden Diese Personalsicht wurde dann durch Peter F. Barrenstein, Seniorpartner der Unternehmensberatung Kinsey, für alle kirchlichen Mitarbeiter zugespitzt: "Tatsächlich tiefer liegende Ursachen sind aus meiner Sicht die Entfremdung vieler Mitarbeiter unserer Kirche und damit aus Sicht vieler Mitglieder die Entfremdung der ganzen Institution Kirche von Gott selbst einerseits und die Entfremdung unserer Kirche und ihrer Mitarbeiter von ihren Mitgliedern andererseits. Ein sich bestärkender, gegenseitig unterstützender negativer Prozess." (epd Dokumentation 35/2009, 14, passim)
Unglaubliche Anmassung
Entfremdung der Mitarbeiter (von was?) wird mit Glaubensentfremdung der Kirche gleichgesetzt, was dem Image der Kirchenorganisation schade. Eigentlich eine unglaubliche Anmaßung! Auch die seltsam evangelikal anklingende Missionsstrategie von Kirchenchristen zu "richtigen Christen" über die Verklausulierung mit dem Milieubegriff propagiert einen ungewöhnlichen Kirchenweg. Dagegen steht eindeutig die protestantische Lehre: Zu empfehlen wäre das Augsburger Bekenntnis, das Handlungen selbst von "ungläubigen Pfarrern" (CA 8) als wirksam erachtet. Zudem ist jegliche Selbstabschließung und Verengung zu einem "richtigen Glauben" oder zu alternativlosen Strategien die Sünde, die Luther als Selbstverkrümmung (incurvatus in seipsum) beschrieb.
Ein Protestant ist ein Kirchenferner im Blick auf die Binnenkirche, oder er ist kein Protestant. Dies ist der Kern, die Zukunft der "ecclesia semper reformanda". Unzweifelhaft sind Entfremdungsprozesse bei den Mitarbeitern nachweisbar. Diese sind aber vorrangig der Hierarchisierung und Ökonomisierung der Landeskirchen geschuldet und somit möglicherweise Ausdruck eines widerstreitenden Glaubens gegen selbsternannte "God-Players".
Der Reformprozess ist zu einem Kampf zwischen der bisher einzig protestantisch legitimen Kirchenform in Deutschland, der Landeskirche, und einer konzernhaften Holdingstruktur geworden. Um Letzteres durchzusetzen, wird mit einer vorgeblichen Krise operiert. Doch weder fehlt das Geld, noch sind das Problem die Kirchenaustritte, noch sind die Pfarrer entgläubigte Konzernmitarbeiter, noch sind Kirchenferne zu Missionierende. Und Angst ist als Reformmotor für Protestanten völlig unnötig. Was als Anker eigentlich nur bleibt, ist die Gelassenheit der vielen kreativen Kirchenfernen, wie Helmut Schmidt in einer jüngsten Selbstbeurteilung, die - ohne finanzielle Abhängigkeit oder evangelikales Eigeninteresse - die Selbstabschließungstendenz ihrer Kirche zu einer Binnenorganisation irritiert beobachten.
Sie sind nicht Missionsobjekte, sondern möglicherweise die eigentlichen Träger der evangelischen Energie, die binnenkirchliche Zukunftsphobie dynamisch und innovativ aufzulösen, und so eine um sich greifende Reformbürokratie an den Kern des Protestantismus zu erinnern.
Dieter Becker