Wunderbares Geheimnis

Vor hundert Jahren starb Karl May, Abenteuerschriftsteller und eigenbrötlerischer Christ
Karl May, 1905. Foto: Karl-May-Gesellschaft
Karl May, 1905. Foto: Karl-May-Gesellschaft
"Winnetou ist ein Christ. Lebe wohl!" So lauten die letzten Worte des berühmten Apachenhäuptlings. Die Helden in den Werken Karl Mays sind immer nebenher auch christliche Missionare. Wie religiös aber war Karl May selbst? Claudia Atts, freie Journalistin in Berlin, ist der Frage nachgegangen.

Jahrzehnte lang galt Karl May als meistgelesener deutscher Schriftsteller. Die Gesamtauflage seiner Werke erreichen allein in Deutschland über 100 Millionen Exemplare und wurden in über vierzig Sprachen übersetzt. Er prägte über Generationen das Bild vom "edlen roten Mann", vom Orient und vom Wilden Westen überhaupt. Wie Winnetou in weißem Leder und mit langem schwarzen Haar auf seinem schwarzen Hengst Iltschi, ausgerüstet mit der Silberbüchse, neben seinem Blutsbruder Old Shatterhand reitet, ist Volksgut geworden. Im Kopf hört man sogar die passende Filmmusik dazu.

Die Popularität von Karl Mays Werken ist ungebrochen. Neben Büchern, Filmen und Hörbüchern werden seine Werke auf vierzehn Freiluftbühnen aufgeführt. Im schleswig-holsteinischen Bad Segeberg, am Fuße des Kalkberges, ging 2011 mit dem "Ölprinzen" bereits die 60. Saison zu Ende. Über neun Millionen Zuschauer verfolgten dort seit 1952 begeistert die Abenteuer der Westernhelden. Im nächsten Jahr steht Winnetou II, seit fünf Jahren gespielt von Erol Sanders, auf dem Programm. In Elspe im Sauerland, der zweiten großen Bühne, auf der seit 1964 Karl May auf dem Spielplan steht, wird im Jubiläumsjahr der erste Teil des Abenteuers gegeben. So auch in Bischofswerda, wo seit 1993 die Helden von Kindern verkörpert werden - eine Initiative, die von Gojiko Mitic, dem Winnetou des Ostens, ausgeht. Der aus Serbien stammende Schauspieler war die obligatorische Rothaut im DDR-Fernsehen und für fünfzehn Jahre das Winnetougesicht in Bad Segeberg. Dort hatte er Pierre Brice abgelöst, der nach zahlreichen Filmen zunächst in Elspe, dann in Bad Segeberg den Helden gab, bis er zu alt dafür wurde.

Ist das Lesen der Schmöker von Karl May in Zeiten von PC, Games und Handy bei Jugendlichen neuerdings ein bisschen aus der Mode gekommen, so bleiben die Geschichten durch Hörbücher und die x-te Wiederholung der über zwanzig Filme im Fernsehen lebendig. Zahlreiche ältere Leser werden sich allerdings an die vielen christlichen Bezüge in den Karl-May-Romanen erinnern, die in den Filmen meist verloren gegangen sind. Old Shatterhand trat als frommes Greenhorn an, der bei jeder passenden und unpassenden Gelegenheit sein christliches Weltbild zur Sprache brachte. Als der Indianermissionar Khekli-Petra sich schützend vor Winnetou warf und die tödliche Kugel abfing, betrachtete er es als seine Aufgabe, seinen roten Bruder durch sein Vorbild den Weg zu Christus zu führen. "Charly, ich glaube an den Heiland! Winnetou ist ein Christ! Lebe wohl", waren dann auch Winnetous letzte Worte, während Siedler von einer Anhöhe ein Ave Maria sangen - einen mehrstrophigen Text, der von Karl May selbst stammte. In seinen Orientromanen findet Hadschi Halef Omar, der Freund und Helfer des Ich-Erzählers Kara Ben Nemsi, zum Glauben an Jesus Christus. In vielen fiktiven Gesprächen mit Moslems führt er zahlreiche Argumente für das Christentum an.

Immer wieder sind Karl Mays verschiedene Romanhelden bewusste Christen, die sich für Liebe, Pazifismus, Toleranz und die Rechte von Unterdrückten einsetzten. Alfred Pfaffenholz, inzwischen verstorbener Kulturredakteur von Radio Bremen, schrieb: "... die Lektüre von Karl May war für mich niemals - auch nicht als Zehnjähriger - nur Flucht aus dem Alltag und Sturm ins Abenteuer; nein, es war stets auch Beschäftigung mit sehr existenziellen Fragen (...). Die ersten Antworten bekam ich im katholischen Religionsunterricht und - ich weiß, es klingt erstaunlich - von Karl May."

Seine Person schillert

Johannes Hilbert wuchs in der DDR bei parteitreuen Eltern auf. Karl Mays Werke brachten ihn als Teenager mit dem christlichen Glauben in Kontakt, so begann er auch in der Bibel zu lesen und Gottesdienste zu besuchen. Er wurde evangelischer Pfarrer. Heute sieht er die Werke von Karl May etwas kritischer: "Ich las auch die Spätwerke wie Winnetou IV (Winnetous Erben) und Ardistan und Dschinnistan, sie faszinierten mich besonders. Heute würde ich diese eher philosophisch-esoterisch nennen. Überhaupt bemerke ich bei ihm krypto-katholische Alleingänge."

Manche Biografen meinten, er sei in seinen letzten Lebensjahren zum Spiritisten geworden, sein Christentum sei weiter nichts als Humanismus und Pazifismus. Doch seine Person schillert: Er wurde als homosexuell, manisch-depressiv oder schizophren eingestuft. Andere sehen ihn als aufrechten Christen, der im Gefängnis geläutert und später im Leben durch seinen Erfolg auch viel Neid und Missgunst erntete - auch viel, zum Teil selbst verschuldetes Leid ertragen musste.

Karl May wurde 1842 in dem kleinen Dorf Ernstthal in Sachsen geboren. Sein Vater war ein armer Hausweber mit vierzehn Kindern, von denen neun starben. Aufgrund von Mangelernährung erblindete May monatelang. Danach war für ihn die Kindheit vorbei. Er musste für den Lebensunterhalt und seine Bildung als Kegeljunge in einem Gasthaus arbeiten. Sein Vater, selbst Analphabet, erkannte Mays Begabungen und sorgte nicht nur für Privat- und Musikunterricht, sondern prügelte nutzloses Wissen regelrecht in ihn hinein. So musste er zum Beispiel aus einem fünfhundert Seiten starken Geschichtsbuch, das seit einem halben Jahrhundert nicht mehr aktuell war, lernen, ja, es komplett abschreiben. Unter großen Entbehrungen konnte er das Lehrerseminar besuchen. Hier kam es zu einer Krise: Erst geriet seine Ausbildung durch den Diebstahl von sechs Kerzen in Gefahr, dann wurde sie jäh beendet, ihm wurde der Diebstahl einer Taschenuhr vorgeworfen - ungewiss ist, ob wirklich zu Recht. Jedenfalls war sein Lebens-traum, Lehrer zu werden, ein für allemal vorbei.

Ein anderer Felix Krull

Das warf ihn zunächst völlig aus der Bahn. Durch Hochstapeleien erschlich er sich kleine Geldbeträge. Er gab sich mehrfach, wohl auch überzeugend, als Arzt, Graf oder Amtsperson aus. In seiner Autobiografie "Ich" spricht Karl May über diese Zeit als Dunkelheit. Er habe Stimmen gehört und Zwangshandlungen begangen, an die er sich nicht erinnere. Allerdings handelt es sich bei dieser Autobiografie - laut dem Vorsitzenden der Karl-May-Gesellschaft, Johannes Zeilinger, eher um "eine Melange aus Biographie, Roman und Prozessschrift, geschrieben mit dem Ziel, vor dem Gericht besser dazustehen".

Diese Lebensphase ist es vor allem, die die Annahme einer psychischen Störung bei Karl May begründen. Von den vielen Theorien erscheint die von William E. Thomas am plausibelsten, dass bei May eine dissoziative Identitätsstörung vorlag, die in seinem mehrjährigen Zuchthausaufenthalt nicht zuletzt durch die seelsorgerische Betreuung des katholischen Katecheten Johannes Kochta geheilt wurde. Der protestantische Karl May spielte im katholischen Gottesdienst Orgel und begann noch im Gefängnis mit seiner schriftstellerischen Tätigkeit. Wegen guter Führung wurde er vorzeitig entlassen.

Er fand Arbeit als Redakteur, schrieb Gedichte, Erzählungen und Heimatromane, die als Fortsetzungsgeschichten in verschiedenen Unterhaltungsblättern erschienen. Mit seinen Reiseerzählungen aus dem Wilden Westen und dem Orient, die er zunächst für die katholische Familienzeitschrift "Der deutsche Hausschatz" schrieb, wurde er schließlich so erfolgreich, dass er zu spätem Ruhm und Wohlstand kam. Er schrieb mehr als hundert Erzählungen und über vierzig Romane. Nun zahlte sich seine jahrelange intensive Lektüre von Reiseberichten aus: In seinen Abenteuerromanen schreibt er anschaulich und keineswegs unkundig über Länder, die er nie besucht hatte - erst später, als sich mit dem Erfolg auch das Geld einstellte, besuchte er Amerika und den Orient.

Henrystutzen aus Dresden

Die meisten dieser Romane sind in der Ich-Form geschrieben, immer wieder träumte sich May in eine Heldenrolle hinein, die ihm, so darf man vermuten, zu einer zweiten Identität wurde. Auch als Autor, als der bürgerliche Karl May, mochte er nicht ganz auf sie verzichten: Er machte seinen Lesern weiß, er, der Ich-Erzähler, habe all diese Abenteurer wirklich und wahrhaftig erlebt. Um diese Fiktion zu stützen, ließ er sich von einem Dresdner Büchsenmacher die Silberbüchse und den Henrystutzen anfertigen, die jeder Leser aus seinen Büchern kannte, und er präsentierte nicht nur Narben aus seinen angeblichen Kämpfen, sondern auch Fotos, die ihn als Old Shatterhand und Kara Ben Nemsi zeigten. Seine riesige Leserschaft glaubte ihm und verehrte ihn rückhaltlos.

Schließlich wurde der Schwindel aufgedeckt. May, der sich eben noch in seinem erdichteten Ruhm gesonnt hatte, sah sich plötzlich heftigen Angriffen durch die Presse ausgesetzt. Seine kriminelle Vergangenheit wurde ans Licht gezerrt. Annähernd hundert Gerichtsprozesse hatte May in der Folge durchzustehen, in ihnen ging es um Rufmord und auch etwa um die Urheberrechte an seinen Werken. In diese Zeit fällt auch seine Scheidung von seiner ersten Frau. Noch im gleichen Jahr heiratete er die Witwe seines besten Freundes. Ob aus Einsicht oder gezwungenermaßen: Künftig trat er bescheidener auf. In seinem letzten Lebensjahrzehnt wandte er sich, ganz Kind seiner Zeit, vermehrt dem Humanismus zu, allerdings ohne sein Christsein aufzugeben oder zu verleugnen. Diese Entwicklung wurde durch die Bekanntschaft mit zwei Persönlichkeiten gefördert, die unterschiedlicher nicht hätten sein können: hier der Freund Sascha Schneider, ein von nationalistischem Gedankengut geprägter Künstler, dort die bedeutende Pazifistin Bertha von Suttner.

Ins Reich der Edelmenschen

Wieder findet sich Karl May in eine Heldenrolle, wenn auch in eine ganz anders geartete: Er wird zum Propheten und Künder seiner Vision von einer sich empor entwickelnden Menschheit. Am 22. März 1912 spricht er, schon todkrank, in Wien vor knapp dreitausend begeisterten Zuschauern zwei Stunden lang in freier Rede über "Empor ins Reich der Edelmenschen" - über die gefallene Schöpfung und den Kampf gegen das Böse, der vom Edelmenschen (offenbar synonym mit dem "Wahren Christen") zum Sieg und Ziel, dem Paradies Gottes, geführt werden muss. Acht Tage später stirbt Karl May in Radebeul.

Ob sich darin das protestantische Prinzip der Rechtfertigung allein aus Gnade wiederfindet? Jedenfalls wollte er zeitlebens Liebe weitergeben, Frieden und Toleranz zwischen den Menschen und Völkern stiften, das Gute tun und edel handeln - ganz so, wie seine Romanhelden es immer taten. Dabei kannte er seine Bibel und sein Gesangbuch gut. Er schrieb das christlich-philosophische Bühnenwerk "Bibel und Babel" - und hunderte frommer Gedichte, die besonders in dem Band "Himmelsgedanken" zusammengetragen sind. Oft wird ihm vorgeworfen, sein Spätwerk sei doch eher esoterisch als christlich. Hermann Wohlgschaft, Karl-May-Biograf und katholischer Pfarrer, lässt das nicht gelten. Zwar habe sich May einer mystischen Bildsprache bedient, doch sei kaum ein Zweifel daran erlaubt, dass sie von seinem tiefen Glauben an den einen Gott und an Jesus Christus bestimmt sei.

Aber Karl May lässt sich dennoch nicht leicht auf einen Nenner bringen - was gewiss mit erklärt, weshalb er auf so viele unterschiedliche Menschen so faszinierend wirkte wie auf Hans Wollschläger, Schriftsteller, Übersetzer und einer der vielen Karl-May-Biografen: "Ich habe mich nun mein ganzes Leben mit Karl May beschäftigt, aber ich verstehe ihn immer noch nicht. Er bleibt für mich ein wunderbares Geheimnis."

Literatur: Johannes Zeilinger: "Karl May als Visionär internationaler Beziehungen"

Herrmann Wohlgschaft: Große Karl-May-Biographie, Igel-Verlag, Paderborn 1994

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Karl May 2012

Claudia Atts

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