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Über soziale Netze
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Wir sind vernetzt, und zwar mit vielen tausend Menschen, auch ganz ohne Internet und Telefon. Dieses Buch erklärt die Regeln, nach denen diese Netzwerke funktionieren.

Wer beim Stichwort soziale Netzwerke nur an Internetplattformen denkt, wird von diesem Buch enttäuscht sein, denn erst im vorletzten Kapitel tauchen Facebook und das Internet als Thema auf. Aber auch diesen Lesern wird schnell einleuchten, dass soziale Netzwerke ein viel älteres Phänomen sind, dass Menschen und Tiere seit Jahrtausenden Netzwerke bilden um zu überleben und Herausforderungen gemeinsam zu bewältigen.

Wir sind vernetzt, und zwar mit vielen tausend Menschen, auch ganz ohne Internet und Telefon. Wer zum Beispiel zwanzig Sozialkontakte durch Beruf, Arbeit und Freundschaften pflegt und davon ausgeht, dass seine Kontakte ähnlich viele Menschen in ihrem Netzwerk haben, ist nur indirekt mit vierhundert Menschen vernetzt. Wenn die alle nun auch zu zwanzig Menschen einen persönlichen Kontakt haben, umfasst unser Netzwerk theoretisch achttausend Menschen.

Doch ein Netzwerk ist mehr als die Summe seiner einzelnen Mitglieder. Sie sind "menschliche Überorganismen" und führen ein Eigenleben. Davon sind zumindest die Autoren des Buches , Nicholas Christakis und James Fowler, überzeugt. Letzterer ist Politikwissenschaftler an der University of California und beschäftigt sich unter anderem mit der Evolution von Kooperationen. Sein Kollege ist Mediziner und Soziologe in Harvard und fragt vor allem nach dem Zusammenhang zwischen Krankheiten und sozialen Netzwerken. So überrascht es nicht, dass in diesem Buch der Begriff "Ansteckung" immer wieder benutzt wird, um die Prozesse innerhalb eines sozialen Netzwerkes zu beschreiben.

Übergewicht ist ansteckend

In der Tat zeigen die vielen Daten und Studien, die Christakis und Fowler unterhaltsam und verständlich aufgeschrieben haben, dass wir uns in unserem Netzwerk aus Menschen eben nicht nur mit Schnupfen anstecken können, sondern auch mit Glücksgefühlen oder Traurigkeit, Schwangerschaften oder Übergewicht. Und dabei müssen wir gar nicht direkt in Kontakt mit schwangeren Frauen oder dicken Männern sein. Es reicht, wenn dies ein Bekannter von uns tut, selbst wenn dieser weder schwanger noch aus sonstigen Gründen runder wird. Aber möglicherweise guckt er nicht mehr so streng, wenn wir uns ein zweites Stück Kuchen auf den Teller nehmen, weil er sich daran ja schon woanders gewöhnt hat.

Schon dieses einfache Beispiel zeigt: Wir prägen unser Netzwerk und werden gleichzeitig durch unser Netzwerk geprägt, durch unsere Freunde und die Freunde unserer Freunde. Dies sind die Netzwerkgesetze, die die Autoren formulieren. Und sie gelten nicht nur für Bauchumfänge, sondern auch für politische Einstellungen, den Umgang mit Geld oder eben auch Gefühle. Wie sonst wären Selbstmordwellen, gleich nach der Veröffentlichung von Goethes Werther oder eines zu sehr auf Empathie setzenden modernen Zeitungsberichtes denkbar?

Christakis und Fowler beschreiben eine Vielzahl solcher dramatischer, aber auch zahlreiche weniger aufregende Ereignisse in sozialen Netzwerken. Sie bringen schöne Schaubilder zu Papier, die eher an Skulpturen oder hochkomplexe Moleküle erinnern als an ein Netzwerk aus Studenten. Und sie beschreiben einige Regeln, die das Leben in und das Leben der Netzwerke beschreiben. Die Schwäche des Buches ist, dass die tiefe Analyse dann aber doch meist zu kurz kommt. Was genau muss geschehen, damit sich innerhalb eines Netzwerkes etwas ändert? Wann wird ein Impuls aufgenommen und wann einfach absorbiert? Und wie genau wirken Massenmedien auf soziale Netzwerke? Ist es wirklich so, dass die Idole aus dem Fernsehen gegen Freunde und Bekannte aus Fleisch und Blut letztendlich keine große Chance haben, wie die beiden Professoren schreiben? Hier steht die Forschung wohl noch am Anfang.

Doch sie sollte fortgeführt werden. Denn Gesundheits- und Sozialpolitik könnte viel effektiver sein, wenn sie auf die Besonderheiten solcher Netzwerke abgestimmt wird. Kirchliche Angebote und politische Botschaften könnten eine viel breitere Resonanz erzeugen, wenn sie an die zentralen Punkte eines Netzwerkes adressiert werden. An solchen Themen arbeitet die Werbeindustrie schon lange, und ihr steht mit den Social Media im Internet ein weites Forschungsfeld zur Verfügung. Es sollte ihr nicht allein überlassen werden.

Nicholas Christakis/James Fowler:Wer uns wirklich beeinflusst und warum Glück ansteckend ist. Fischer Verlag, Frankfurt/ Main 2011, 347 Seiten,Euro 10,99.

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Stephan Kosch

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