Kurzer Moment

Eine Wallfahrt zum Heiligen Rock zu Trier
Am späten Samstagnachmittag vor dem Trierer Dom. Der weite, mit Gittern abgesperrte Platz ist fast menschenleer, der Tagesansturm von Gruppen-Pilgern schon vorbei. "Und führe zusammen, was getrennt ist", steht als Motto über der ersten Heilig-Rock-Wallfahrt im dritten Jahrtausend. "Die Verehrung der PilgerInnen gilt nicht einem Stück Tuch", heißt es im offiziellen Pilgerbuch, "sondern der Person dessen, der auf Erden das Kleid der Armen getragen hat."

Vor allem aber sei das Gewand, das die Soldaten nach dem Bericht des Johannesevangeliums nicht zerstückeln wollten, ein Sinnbild für die unzerstörbare Einheit der Kirche. Deren "fortwährende Spaltung bedrückt uns", schreibt der Trierer Bischof Ackermann in seinem Geleitwort. Also Entwarnung, es geht um Ökumene, kein mittelalterlicher Reliquienkult erwartet mich, keine Lourdes-Stimmung, kein Gedrängel von Kranken und Behinderten, die wundersame Heilung suchen. Ich betrete den mächtigen Dom durch die rechte Eingangstür und gehe zur Altarinsel, wo sich in einem Schrein aus Zedernholz der heilige Rock von Trier befindet. Die heilige Helena, Mutter des in Trier residierenden Kaisers Konstantin, soll ihn bei ihrer Pilgerfahrt nach Jerusalem gefunden und anschließend der Trierer Kirche geschenkt haben. Auf Veranlassung Kaiser Maximilians, der sich zu einem Reichstag in Trier aufhielt, wurde die Gewandreliquie im Jahr 1512 aus dem Altar des Ost-Chores entnommen und anschließend auch dem Volk gezeigt. Das war der Ursprung der Heilig-Rock-Wallfahrten. Ihre Geschichte ist hochinteressant. Vom Juli bis September 1933 pilgerten mehr als 2 Millionen Menschen zum Trierer Dom. Diese bisher größte aller Wallfahrten wurde überschattet von der Sorge über die Machtergreifung des Nationalsozialismus und war doch kein deutliches Zeichen gegen ihn. Die erste Wallfahrt nach dem Krieg fand 1959 statt, es kamen noch 1,8 Millionen Pilger. 1996 war das Jahr der ersten stark christologisch akzentuierten Wallfahrt, es nahmen 800.000 Gläubige teil. Jetzt, im Jahr 2012, werden 500.000 Pilger erwartet. Sprach Martin Luther noch drastisch vom "Beschiss mit unserem Rock zu Trier", so hat der jetzige Ratsvorsitzende der EKD und Präses der rheinischen Kirche, Nikolaus Schneider, die Einladung zur Teilnahme an der Wallfahrt angenommen. Ich reihe mich ein unter die wenigen Pilger und trete langsam an den Schrein. Da liegt das Gewand unter Glas. Es handelt sich nicht um den vollständig erhaltenen Rock, sondern um angebliche Wollreste des Rocks Jesu, die in eine mittelalterliche Tunika eingewebt wurden, die die Funktion des Reliquienbehälters übernimmt. Sie ist von grobem Schnitt, rustikal-kräftig, fast wie ein Panzerhemd. Und in dieser Tunika sind also rötliche Wollreste zu erkennen. Der Rock, sagt das Pilger-Faltblatt, sei, jenseits der Frage der Echtheit, "eine Ikone Christi. Sie hilft uns im Bild den gegenwärtig zu sehen, der abgebildet ist". Ich denke an den Unterschied zwischen Bild und Zeichen, der im Bilderstreit eine große Rolle gespielt hat. Im Westen setzte man zur Zeit Karls des Großen gegen das "echte Bild" Christi und die wundertätigen Ikonen von Byzanz auf die Zeichen: das Holz des Kreuzes, die heilbringenden Knochen der Heiligen. An die Stelle des Bildkults trat die Reliquienverehrung, nun offiziell abgelöst durch die Christuswallfahrt, für die der Rock nur Anlass ist. Dessen Anblick berührt mich zunächst nicht. Dies Gewand hat Christus auf keinen Fall getragen. Aber dann sehe ich den zur Kreuzigung abgeführten Jesus, nackt, seines letzten Hemds beraubt, nur mit einem Lendentuch bekleidet. Ein kurzer Moment nur, schon vorüber. Das Pilgerlied mit dem Kehrvers: "… führe zusammen, was getrennt ist" wird angestimmt. Ich verlasse den Dom auf dem vorgeschriebenen Weg.

Hans-Jürgen Benedict

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Foto: privat

Hans-Jürgen Benedict

Hans-Jürgen Benedict war bis 2006 Professor für diakonische Theologie an der Evangelischen Hochschule für Soziale Arbeit und Diakonie des Rauhen Hauses in Hamburg. Seit seiner Emeritierung ist er besonders aktiv im Bereich  der Literaturtheologie.


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