Die vielen Zweige der Umma

Islamische Welt - ihre religiösen, geographischen und ethnischen Gruppierungen
Foto: akg-images
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Über 1,5 Milliarden Menschen gehören dem Islam an. Eine Institution, die alle Muslime verbindet, gibt es nicht. Vielmehr gibt es ein buntes Vielerlei an Strömungen, Zweigen und Gruppen, wie der Islamwissenschaftler und Theologe Andreas Gorzewski darstellt.

Mekka ist das geographische und spirituelle Zentrum des Islam. Dort steht die Kaaba, ein schwarz verhüllter, würfelförmiger Bau. Zu diesem kleinen Gebäude hin verneigen sich weltweit etwa 1,5 Milliarden Muslime im Gebet. Nach islamischem Selbstverständnis sind alle Muslime Teil der "Umma". Der arabische Begriff bezeichnet "die als Einheit gedachte Gemeinschaft der Gläubigen". In den Tagen der Pilgerfahrt wird dieses Ideal der Einheit besonders deutlich. Dann drängen sich bis zu drei Millionen Gläubige um die Kaaba. Sie hüllen sich unabhängig von Herkunftsland, Sprache und sozialer Schicht in die gleichen weißen Tücher und bezeugen ihren gemeinsamen Glauben an Allah und seinen Propheten Mohammed.

Doch jenseits dieses gemeinsamen Bekenntnisses ist der Islam ein buntes Vielerlei an Strömungen, Zweigen und Gruppen. Eine Institution, die alle Muslime verbindet, fehlt. Mohammed soll nach islamischer Überlieferung einmal gesagt haben, dass die Juden sich in 71 Sekten spalteten, die Christen in 72, und die Muslime würden sich in 73 Sekten spalten. Die ersten Gruppierungen entstanden bald nach Mohammeds Tod: 632 n. Chr. Zunächst ging es um die machtpolitische Frage, wer als "Kalif", arabisch für "Stellvertreter", legitimer Anführer der Muslime sein sollte, da Mohammed keinen Sohn hinterlassen hatte. Unter dem vierten Kalifen, Ali ibn Abu Talib (gest. 661 n. Chr.), wurden die Konflikte mit Waffengewalt ausgetragen. Ali war Vetter und Schwiegersohn Mohammeds. Seine Anhänger wurden auf Arabisch "Schiat Ali", "Partei Alis", genannt. Davon leitet sich der Begriff Schiiten ab. Sie glaubten, dass nur ein Mitglied der Prophetenfamilie rechtmäßiger Führer der Gläubigen sein könne. Im Ringen um die Macht unterlagen sie jedoch. Erst später bürgerte sich der Name "Sunniten" für die "Mehrzahl der Muslime" ein, "die den Machtanspruch der Ali-Anhänger nicht teilen". Der Begriff "Sunnit" ist abgeleitet vom arabischen Wort "Sunna". Damit werden die überlieferten Äußerungen und Handlungen Mohammeds bezeichnet, die für Sunniten eine Vorbildfunktion haben.

Für die große Mehrzahl der Muslime - Sunniten und mit einigen Ergänzungen auch Schiiten - gelten die so genannten fünf Säulen des Islam: das Bekenntnis zu Allah und seinem Propheten Mohammed, das fünfmal täglich zu verrichtende Ritualgebet, das Fasten im Monat Ramadan, die soziale Pflichtabgabe Zakat und die Pilgerfahrt nach Mekka. Wie Muslime diesen Ritualanforderungen im Detail entsprechen, kann variieren. Schiiten bezeugen nicht nur ihren Glauben an Allah und den Propheten, sondern auch an Ali als Vertrauten Allahs. Unter Schiiten ist es durchaus üblich, die fünf Pflichtgebete zu dreien zusammenzuziehen. Das Schiitentum hat darüber hinaus zahlreiche dogmatische, rituelle und religionsrechtliche Eigenheiten entwickelt. Dazu zählt unter anderem das Aschura-Fest, an dem die Schiiten mit Trauerritualen und Selbstgeißelungen der Ermordung des Prophetenenkels Hussain in der Schlacht bei Kerbela 680 n. Chr. gedenken.

Heutzutage sind etwa 85 Prozent der Muslime Sunniten. Allerdings sind sie keine einheitliche Gruppe. So gibt es erhebliche Unterschiede, je nach lokaler Tradition, Zugehörigkeit zu einer mystischen Strömung oder historischer Entwicklung.

Weltreligion in komplexer Ausprägung

Sunniten werden häufig nach den vier klassischen Rechtsschulen unterschieden, die sich seit dem 8. Jahrhundert gebildet haben: Hanafiten, Hanbaliten, Malikiten und Schafiiten. Diese Rechtsschulen erklären in Fragen der Glaubenspraxis, des Straf-, Wirtschafts- oder Zivilrechts, wie von Fall zu Fall zu verfahren ist. Trotz zahlloser Differenzen im Detail erkennen sich diese juristischen Traditionen in der Regel gegenseitig als rechtgläubig an.

Die Hanafiten sind vor allem in der Türkei, auf dem Balkan und in Zentralasien vorherrschend. Die Malikiten dominieren in Nordafrika. Die Schafiiten haben unter anderem den Islam in Indonesien und Ostafrika geprägt. Sie haben aber auch unter den Kurden viele Anhänger. Die Hanbaliten breiteten sich auf der arabischen Halbinsel aus. Sie hatten auch Einfluss auf die Entstehung des Wahhabismus, der heute in Saudi-Arabien quasi Staatsreligion ist. Der Wahhabismus - der von seinen Anhängern nicht so genannt wird - steht mystischen Strömungen und volksreligiösen Praktiken im Islam feindlich gegenüber und erlaubt Juden und Christen in Saudi-Arabien keinerlei freie Religionsausübung.

Ideologisch mit dem Wahhabismus eng verwandt ist die sunnitische Strömung des Salafismus, die jedoch einen eigenständigen Ursprung hat. Salafismus wie Wahhabismus zeichnen sich durch eine starke Rückorientierung auf die idealisierte Frühzeit des Islam aus. Im Beispiel der "Altvorderen", arabisch "Salaf", suchen sie Anleitung. Dabei verwerfen Salafisten, die weltweit Zulauf haben, die über Jahrhunderte gewachsene islamische Theologie und Rechtspraxis. Einige der salafistischen Strömungen setzen auf Mission und politische Arbeit. Andere predigen Gewalt gegen "Ungläubige" - womit sie zuweilen auch andere Muslime meinen können.

Ebenso wenig wie die Sunniten sind die Schiiten als Einheit zu sehen. Sie stellen etwa 15 Prozent der Muslime. Die Anhänger des Prophetenschwiegersohns Ali spalteten sich unter anderem in der Frage, wer von den Nachfahren Alis jeweils als legitimer Anführer galt. Die größte Gruppe sind die Zwölferschiiten, die im Iran und im Irak die Bevölkerungsmehrheit stellen. Nach zwölferschiitischer Lehre waren Ali und elf seiner Söhne, Enkel und weiteren Nachfahren die rechtmäßigen Anführer der Gläubigen. Der zwölfte und letzte dieser Nachfahren, Muhammad al-Mahdi, soll seit mehr als tausend Jahren im Verborgenen leben. Er soll eines Tages als eine Art Messias wiederkehren und ein Reich der Gerechtigkeit errichten. Die heutige Staatsführung des Iran übt laut Verfassung ihre Funktion nur in Stellvertretung des verborgenen Muhammad al-Mahdi aus. Zu den kleineren Bewegungen innerhalb des Schiitentums gehören die Ismailiten, auch "Siebenerschiiten" genannt. Ihnen werden weltweit 17 bis 20 Millionen Anhänger zugerechnet. Im Gegensatz zu Sunniten und Zwölferschiiten, die den Koran eher wörtlich nehmen, legen Ismailiten den heiligen Text stark allegorisch aus. Ihre Untergruppen sind heute unter anderem in Indien, Pakistan oder Ostafrika zu finden. Das Oberhaupt der Nizari-Ismailiten trägt den Titel "Aga Khan". Derzeit führt Karim Aga Khan IV. die Gemeinschaft. Bekannt wurde der schwerreiche Religionsführer durch seine entwicklungspolitischen und kulturellen Förderprogramme ebenso wie durch sein Jet-Set-Leben.

Im Jemen leben einige Millionen Zaiditen, die zuweilen als "Fünferschiiten" bezeichnet werden. Sie wohnen vor allem im Nordwesten des mehrheitlich sunnitischen Landes. Kleinere Zaiditen-Gemeinschaften leben auch in anderen Staaten. Andere Gruppen haben mit dem heutigen Schiitentum trotz historischer Einflüsse kaum noch Berührungspunkte. Dazu zählen die Aleviten in der Türkei und die Alawiten in Syrien. Beide Gruppen werden zuweilen wegen ihrer Namensähnlichkeit und einiger religiöser Parallelen verwechselt, haben aber unterschiedliche Entstehungsgeschichten.

Zu den anatolischen Aleviten gehören nach unterschiedlichen Schätzungen zehn bis 25 Millionen Menschen, sowohl Türken als auch Kurden. Das Alevitentum entstand seit dem Mittelalter aus einer Vermischung islamischer und nicht-islamischer Elemente. Der Name "Aleviten" bezeichnet die "Anhänger des Prophetenschwiegersohns Ali". Aufgrund von Diskriminierungen und Verfolgungen durch die sunnitische Herrschaft im ehemaligen Osmanischen Reich lebten die Aleviten ihrer Glauben nur im Verborgenen. Die große Mehrheit von ihnen betet nicht fünfmal am Tag und fastet nicht im Ramadan. Sie schenken dem islamischen Rechtssystem Scharia keine Beachtung, sondern betonen vor allem ethische Werte. Aleviten besuchen auch keine Moscheen. Insofern ist unter Aleviten wie Nicht-Aleviten umstritten, ob sie überhaupt Muslime sind. Während sie in der Türkei nicht als eigenständige Religionsgemeinschaft anerkannt sind, dürfen Aleviten in Deutschland in mehreren Bundesländern einen eigenen alevitischen Religionsunterricht anbieten. In Deutschland leben etwa fünfhunderttausend Aleviten. Ähnlich distanziert zu den Ritualanforderungen des sunnitischen wie des zwölferschiitischen Islam stehen die Alawiten. Die arabischsprachige Religionsgruppe lebt vor allem in Syrien, hat aber auch Anhänger im Libanon und im Südosten der Türkei. In Anlehnung an ihren Begründer Muhammed ibn Nusair aus dem 9. Jahrhundert n. Chr. wird die Gruppe auch "Nusairier" genannt. Ihre Lehre wird vor Außenstehenden geheim gehalten. In Syrien besetzen die Alawiten, obwohl sie nur eine religiöse Minderheit sind, seit Jahrzehnten die Schlüsselpositionen in Militär und Politik. In den andauernden Unruhen und Kämpfen in Syrien spielt auch der Konflikt zwischen sunnitischer Mehrheit und alawitischem Establishment eine Rolle.

Eine Sonderstellung im Islam nimmt die Ahmadiyya-Bewegung ein, die im heutigen Pakistan ihre Wurzeln hat. Die Glaubensgemeinschaft wurde 1889 von Mirza Ghulam Ahmad begründet. Er beanspruchte eine prophetische Stellung unter den Gläubigen. Aus Sicht der islamischen Orthodoxie endete die Reihe der Propheten jedoch endgültig mit Mohammed. Vor allem der Streit um die Prophetie entzweite die Ahmadis und die übrigen Muslime im ehemaligen Britisch-Indien. In vielen islamisch geprägten Ländern werden Ahmadis bis in die Gegenwart diskriminiert. 1974 verstieß das pakistanische Parlament die Ahmadiyya-Bewegung per Gesetz aus der Gemeinschaft der Muslime. In Deutschland leben einige Zehntausend Ahmadis.

Als eigenständige Religionsgemeinschaften mit schiitischen Vorläufern werden heute die Drusen und die Bahai gesehen. Im Libanon, in Syrien sowie in Israel leben mehrere Hunderttausend Drusen. Ihre kaum bekannte Lehre entwickelte sich vor etwa tausend Jahren. In Dogma und Ritualpraxis unterscheidet sich die Religion der Drusen erheblich vom Islam. Die Zugehörigkeit ist allein von der Geburt in einer Drusen-Familie abhängig, ein Übertritt ist nicht möglich. Ebenfalls vom Schiitentum beeinflusst war die "Babismus" genannte Vorstufe der Bahai-Religion. Sie entwickelte sich im 19. Jahrhundert im Iran. Die Universalreligion hat heute weltweit einige Millionen Anhänger.

Die islamische Vielfalt besteht nicht nur auf religiöser, sondern auch auf ethnischer und geographischer Ebene. Regionale Einflüsse spielen eine große Rolle in der Art, wie der Islam gelebt wird. Dies lässt sich unter anderem an der Verschleierung der Frauen feststellen. Während in Teilen Afghanistans und Pakistans die "Burka" genannte Vollverschleierung verbreitet ist, sind in Ostasien leichte, bunte Kopftücher üblich.

Auch die Volksfrömmigkeit entwickelte sich in den Gebieten zwischen Marokko und Indonesien jeweils unterschiedlich. So finden sich überall in Westafrika die Gräber von Marabout genannten Lokalheiligen, die bis heute verehrt werden. Auch im Nahen Osten und in Südasien sind die Grabstätten von Islamgelehrten, Mystikern und Wanderpredigern Ziel von Pilgern. Streng orthodoxe Muslime lehnen diese weit verbreitete Art der Heiligenverehrung jedoch ab. Zwar gilt der Islam als arabische Religion, aber nur jeder fünfte Muslim auf der Welt hat einen arabischen Dialekt als Muttersprache. Die meisten Muslime leben heute in Indonesien, Pakistan, Indien und Bangladesh. Sie sprechen Indonesisch, Bengali, Urdu oder andere Sprachen. Ihre rituellen Pflichtgebete verrichten sie alle auf Arabisch. Wollen sie darüber hinaus individuelle Bittgebete äußern, verfallen sie jedoch wieder in ihre Muttersprache.

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Andreas Gorzewski

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