Tödliche Diagnose

Reflexionen eines Trauernden
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Halt mich fest, ich bin verloren. Das wird die Hölle. Bring die Kleine aus der Schusslinie", sagt die 48-jährige Psychoanalytikerin Franziska und sinkt ihrem Mann weinend in die Arme. Die Kleine ist die gemeinsame zehnjährige Tochter Franka. Ihren Mann, den Publizisten und Gruppenanalytiker Günter Franzen, lernte sie 1992 kennen und lehrte ihn nach fünf Jahren des Werbens um sie, etwas zu riskieren.

Franziska ist eine Frau, die keine "Vagheit des Herzens" duldet und den sich augenzwinkernd als "narzisstischen Blender" bezeichnenden Franzen dazu brachte, zu springen. Einen Sprung, den er nie bereute, auch wenn sich nach dem qualvollen Tod seiner Frau ein Jahr nach der Diagnose und nach zwölf glücklichen Ehejahren ein Abgrund vor ihm auftat, der ihn zu verschlingen drohte.

In seinem sehr persönlichen Buch legt Franzen Zeugnis ab über seine Trauer und lässt den Leser oft unerträglich nah daran teilhaben, wie sich seine Seele angesichts des Verlustes aufbäumt und er zwischen verzweifelter Trauer und unbändiger Wut zum misanthropischen Zyniker wird. Da gibt es verständliche innere Aggressionen gegen wenig einfühlsame Mitmenschen, denen er den Hals umdrehen, wenn nicht gleich den Schädel einschlagen möchte: Die befreundete Psychoanalytikerin, die das drohende Abgleiten der mutterlosen Tochter in der Pubertät heraufbeschwört, oder die Schwiegereltern, die sich bei einem Besuch verhalten, als sei nichts geschehen. Da ist die fahlgelb blondierte Alkoholikerin, die an der Kasse eines Discounters eine Szene macht, "die Feindseligkeit eines lädierten Insekts" verströmt und für den Verfasser die Frage aufwirft, welchen Rang sie in der Schöpfung einnehme. "Warum darf diese Frau leben und warum musste die meine sterben?" Oder die Reflexion über den Selbstmord Robert Enkes, dem er in seiner Verbitterung unterstellt, "am eigenen Leid das Exempel zu statuieren: Ihr sollt an mich denken!", und den Freitod nicht verzeihen kann, auch wenn er in Gedanken mehr als einmal den eigenen Tod herbeisehnt, um Franziska näher zu sein.

Es ist die Sinnlosigkeit des viel zu frühen Todes seiner Frau, die auch Gott wieder auf den Plan ruft, zu dem er mit seinem Austritt aus der katholischen Kirche vor über dreißig Jahren zumindest die institutionellen Bande abgeschnitten hatte. Einen Gott, den er "einmal mehr als derart rachsüchtig und gnadenlos erlebt" hat und den er gleichzeitig sucht, um seinen "jähen Hunger nach Ernst" zu befriedigen, der ihm seit der Todesnacht unstillbar scheint. Dabei geht es Franzen, wie er offen sagt, nicht um eine allgemeine Theodizee, weil ihm nicht die Vielzahl der unschuldig Leidenden, sondern nur die eine am Herzen liegt. Schonungslos, auch sich selbst gegenüber, taucht Franzen fast masochistisch in Träume und Erinnerungen ein, sichtet Fotos, gegangene Wege und riecht an Kleidern, so dass sich Realität oft mit Phantasie mischt und ihn manchmal in eine Art Wahn abgleiten lässt. Und so, wie ihm die Verantwort ung für seine Tochter einerseits hilft, sich im Alltag zu verankern, macht es doch nachdenklich, wenn es die Elfjährige ist, die ihn ermahnt, nicht so hart über seine Mitmenschen zu urteilen.

Am Ende des Buches kommt noch einmal die Verstorbene zu Wort, indem Franzen Auszüge des Tagebuchs veröffentlicht, das sie für Mann und Kind für die Zeit nach ihrem Tod geschrieben hat. Wenn man diese Zeilen einer ungemein tapferen Frau liest, bekommt man ein Gefühl für die innige Liebe, die diese Familie verbunden hat. Und so ist "Zeit des Zorns" neben den in ihrer Radikalität oft kaum auszuhaltenden Reflexionen eines Trauernden auch eine bewegende Liebeserklärung an eine besondere Frau.

Günter Franzen: Zeit des Zorns. Kreuz Verlag, Freiburg 2011, 180 Seiten, Euro 18,95.

Martina Wittneben

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