Eine verrohte Jugend?

Anmerkungen aus soziologischer Sicht zu einer zweifelhaften Diagnose
Verrohung ist relativ: Zeigt sie sich an den brennenden Autos in den Großstädten? Äußert sie sich in Fußballkrawallen? Foto: dpa
Verrohung ist relativ: Zeigt sie sich an den brennenden Autos in den Großstädten? Äußert sie sich in Fußballkrawallen? Foto: dpa
Wenn von einer Verrohung der Gesellschaft die Rede ist, gerät schnell die Jugend ins Zentrum der Aufmerksamkeit. Lassen sich an ihr nicht alle negativen Symptome ablesen? Uwe H. Bittlingmayer, Professor für Soziologie an der Pädagogischen Hochschule Freiburg im Breisgau, kommt zu anderen Ergebnissen.

Wenn "die Jugend" in öffentlichen Debatten zum Thema wird, dann in aller Regel mit negativen Vorzeichen. Die Jugend von heute, das scheint ein Naturgesetz zu sein, ist immer schon viel schlimmer als die Jugend von gestern. Hintergrund für solche Diagnosen sind in den vergangenen Jahren häufig fürchterliche und extreme Aktionen wie Amokläufe einzelner Jugendlicher in Schulen, die offensichtlich völlig sinnlose Blutbäder anrichten, in der Regel mit den Waffen ihrer Väter, und die nur Fragezeichen zurücklassen.

Deutlich moderater, aber immer noch negativ werden heutige Jugendliche im Kontext von durchschnittlichen schulischen Leistungen in internationalen Leistungsstandserhebungen (pisa) oder im Kontext fehlender Ausbildungsreife bewertet. Der Tenor ist: Die Jugendlichen sind heute wesentlich dümmer, leistungsunwilliger und schlechter auf die Arbeitswelt vorbereitet als frühere Generationen. Wir hatten noch ein richtiges Abitur! Die nicht-gymnasiale Bildung der Mehrheit der Jugendlichen wird dann als Ursache für Jugendarbeitslosigkeit erkannt, die in dem Augenblick abgeschafft wäre, in dem alle Jugendlichen eine bessere Bildung erhalten würden - was grober Unfug ist.

Und natürlich ist bei Jugendlichen ein gewisser Werteverfall zu beobachten. Sie engagieren sich deutlich weniger in politischen oder kirchlichen Organisationen, sind alles in allem unpolitischer als früher, sie heiraten seltener, respektieren Ältere nicht angemessen, sind vollkommen auf Konsum fixiert, sind süchtig nach Facebook oder anderen sozialen Netzwerken, sind ohnehin die ganze Zeit online und spielen gewaltvolle Ego-Shooter und sind last but not least nicht so sportlich und fit wie frühere Generationen, weil sie weniger diszipliniert sind und mit Entbehrungen nicht zurecht kommen.

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Wer für die aktuelle Zeit eine verrohte Jugend diagnostiziert, hat dabei die in den öffentlichen Debatten vielfach zitierten Assoziationen Amokläufe, gestiegene Gewaltbereitschaft Jugendlicher, (ländlicher) Rechtsextremismus, (städtische) Jugendgangs und brutale Konsolen-Spiele, die möglichst realistisch graphisch Blut abbilden im Sinn und auf seiner Seite. Doch wie sinnvoll und wie empirisch haltbar ist die Annahme einer aktuell existenten verrohten Jugend?

Diejenigen, die sich wissenschaftlich professionell mit "der Jugend" beschäftigen, Soziologie, Erziehungswissenschaften, Psychologie, würden zunächst einmal den zu allgemeinen Charakter solcher Aussagen kritisieren und Differenzierungsbedarf einklagen.

Das soziologische Argument gegen Aussagen über die Jugend geht in die Richtung, dass Generationenvergleiche zwischen der Jugend und anderen Altersgruppen zu eindimensional sind. Die Jugend ist äußerst ausdifferenziert und das allerspätestens seit den Zwanzigerjahren des vorigen Jahrhunderts, wie etwa Wilfried Ferchhoff in vielen jugendsoziologischen Studien herausgearbeitet hat. Die Tendenz der Differenziertheit sollte dabei historisch steigend sein, weil die Altersspanne, die unter den Jugendbegriff eingeschlossen wird, in den vergangenen zwanzig Jahren sukzessive nach unten und nach oben angewachsen ist. Mittlerweile ist der Jugendbegriff für eine Gruppe von Menschen reserviert, die zwischen zwölf und mindestens siebenundzwanzig oder schon dreißig ist. Die Jugend ist also bereits durch dieses breite Altersspektrum alles andere als eine homogene Gruppe. Die Jugend- und Subkulturforschung versucht, die sich permanent wandelnden kulturell unterschiedlichen Jugendszenen zeitnah zu beschreiben: Skater, Biker, Gothics, Neo-Punks, Hip Hopper.

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Gemeinsam liefern sie ein äußerst vielschichtiges Bild, das kaum auf einen Nenner zu bringen ist, auch wenn die übergreifenden jugendbezogenen Diagnosen beispielsweise einer "pragmatischen Generation unter Druck" - so die Zuspitzung in den letzten beiden Shell-Jugendstudien unter der Leitung von Matthias Albert und Klaus Hurrelmann - immer wieder hohe medial inszenierte Aufmerksamkeit und durchaus Orientierungsfunktionen beanspruchen kann. Aber diese übergreifenden Generaldiagnosen von Jugendlichen, unabhängig davon, ob sie von einer verrohten oder einer pragmatischen Jugend sprechen, sind unterkomplex, weil sie von einer altersbezogenen gemeinsamen Hintergrunderfahrung ausgehen.

"Die Jugend" ist aber sozialstrukturell ebenso ausdifferenziert wie die Generation der Eltern. Das heißt, es gibt arme und reiche Jugendliche oder Jugendliche aus der Mittelschicht, es gibt Jugendliche mit unterschiedlichem Migrationshintergrund, mit und ohne individueller Zuwanderungsgeschichte, es gibt bildungsnahe und bildungsferne, privilegierte und unterprivilegierte Jugendliche, und es gibt schließlich die Landjugend, die in urbanen Segregationsgebieten mit Schimmelpilzbefall oder die Jugendlichen, die in bürgerlichen Villen leben.

Aus dieser empirisch präziseren Perspektive sind also übergreifende zeitdiagnostische Visionen einer verrohten Jugend prinzipiell skeptisch zu betrachten. Sie träfen, wenn überhaupt, nur auf eine spezifische Minderheit zu. Wenn aber die Frage gestellt wird nach empirischen Indikatoren, die auf eine verrohte Jugend hindeuten, dann wird die Diagnose noch deutlich fragwürdiger als sie ohnehin schon ist. In der Regel wird mit Verrohung ja Gewalttätigkeit und Kriminalität assoziiert. Ein relativ grobes und sehr skeptisch einzuschätzendes Maß ist die polizeiliche Kriminalstatistik, die jährlich veröffentlicht wird. In dieser Statistik sind die polizeilich erfassten Vergehen relativ detailliert erfasst. Aber erst seit 2009 werden Personen, gegen die in mehreren Bundesländern gleichzeitig Strafanzeigen gestellt sind oder Ermittlungsverfahren laufen, auch nur als eine Person gezählt, weshalb übergreifende Vergleiche zwischen Anfang des Jahrtausends bis heute nicht seriös auf dieser Datengrundlage durchzuführen sind. Dennoch lässt sich - etwa anhand der vom Bundeskriminalamt herausgegebenen Kriminalstatistik - deutlich eine relativ moderate, aber kontinuierliche Abnahme der Jugendkriminalität im Zeitraum zwischen 2000 und 2008 erkennen.

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Im jüngeren Zeitvergleich zwischen 2009 und 2010 ist auf veränderter Berechnungsgrundlage abermals ein allgemeiner Rückgang der Kriminalität zu verzeichnen. Es gibt sogar Prognosen des Konstanzer Kriminologen Gerhard Spiess, dass bis 2050 das durchschnittliche Alter der Tatverdächtigen ansteigt und damit die Jugendlichen statistisch gesehen immer weniger Anteil an der Kriminalität haben, dafür aber die Mehrheit der Delikte von den über Vierzigjährigen begangen werden. Vergleiche von Prognosen über zunehmende Jugendkriminalität mit der tatsächlichen Entwicklung erweisen eine markante Überschätzung der zukünftigen Jugendkriminalität, die eher mit den oben bereits angesprochenen Vorurteilen und Stereotypen über "die Jugend" erklärbar sind als über eine empirisch abgeklärte Perspektive.

Die Vorstellung einer zunehmend verrohten Jugend ist also auch und besonders vor dem Hintergrund der Kriminalitätsstatistiken und mittlerweile selbst der altersbezogenen Kriminalitätsprognosen nicht haltbar. Im geraden Gegenteil - die Jugend ist aktuell vergleichsweise brav und zumindest was Straftaten betrifft außergewöhnlich wenig rebellisch. Das ist umso erstaunlicher und nicht leicht zu erklären, wenn man bedenkt, dass sich in der bundesrepublikanischen Gesamtgesellschaft sehr starke Tendenzen einer Verrohung finden lassen. Solche gesamtgesellschaftlichen Verrohungstendenzen werden in der Regel nicht so bezeichnet, aber wenn unter Verrohung die Akzeptanz nicht legitimierbarer Praktiken und Zustände begriffen wird, dann lassen sich doch eine Reihe von Beispielen unter diesen Begriff der Verrohung subsumieren.

Zum Beispiel ist seit Jahren bekannt, dass sich die sozialen Ungleichheitsverhältnisse in Deutschland massiv ausgedehnt haben. Vor allem die Einkommens- und Vermögensungleichheiten sind erheblich ausgeweitet worden, wie selbst die von der Bundesregierung in Auftrag gegebenen und im Internet erhältlichen Armuts- und Reichtumsberichte in Deutschland belegen. Die Einkommenspolarisierung wird in der Regel abgebildet durch den so genannten Gini-Koeffizienten: Je höher der Gini-Koeffizient ist, desto höher ist das Maß an Ungleichheiten. Die Entwicklung in Deutschland ist deutlich: Der Gini-Koeffizient steigt.

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Damit steht Deutschland nicht alleine da, sondern die Mehrheit der OECD-Länder weist im Zeitverlauf steigende Ungleichheitsverhältnisse auf - mit Ausnahme der Türkei und Griechenland, die allerdings schon auf sehr hohem Ausgangsniveau lagen. Die steigende Einkommenspolarisierung ist in einem sehr reichen Land wie Deutschland aus mehreren Gründen Anzeichen einer Verrohung. Zum einen, weil mit steigenden Armutsverhältnissen Alltagsphänomene sichtbar werden, die mit der Selbstbeschreibung als aufgeklärter Gesellschaft nicht zu vereinbaren sind. Wenn sich die Mitglieder der deutschen Gesellschaft daran gewöhnt haben, dass auf Bahnhöfen oder in Innenstädten arme Menschen den Müll nach Pfandflaschen durchwühlen, ist das ein Zeichen einer alltäglichen Verrohung.

Mittlerweile liegen nationale und internationale sozialepidemiologische Befunde vor, die zeigen, dass Reiche länger leben als Arme. Die Lebenserwartungsdifferenzen liegen in Deutschland entlang eines eher groben Indikators, der das oberste Einkommensviertel mit dem untersten Einkommensviertel vergleicht, bei etwa neun Jahren, unabhängig vom Geschlecht. Britische Sozialepidemiologen haben Daten vorgelegt, die genauer die Lebenserwartung in unterschiedlichen Stadtteilen in den USA vergleichen und kommen auf geschlechtsunabhängige Lebenserwartungsunterschiede von sechzehn Jahren. Männer, die in armen Stadtteilen in Washington, New York oder Chicago wohnen, haben - sofern sie das 16. Lebensjahr vollendet haben - eine Lebenserwartung von 59 Jahren, was etwa der durchschnittlichen Lebenserwartung in Madagaskar entspricht. Wir kennen diese Daten, aber wir ignorieren sie. Und auch das ist ein Zustand gesamtgesellschaftlicher Verrohung.

Schließlich haben wir uns ebenfalls daran gewöhnt, dass Deutschland wieder Kriege führt und kriegerische Praktiken als ultima ratio der Außenpolitik wieder salonfähig geworden sind. Wenn Menschen im Zuge der Auslandseinsätze sterben, wird zunächst unterschieden, ob es deutsche Opfer sind oder nicht. Bei Deutschen - in der Regel immerhin Soldaten - wird anschließend umso heftiger bekräftigt, dass dieser deutsche Einsatz sein muss und umso entschlossener an ihm festgehalten wird. Kriege und militärische Auseinandersetzungen sind unausweichlich Motive der Verrohung - von den Waffengeschäften, bei dem Deutschland auch Weltmeister ist, zu schweigen. An all das haben wir uns in den vergangenen zwanzig Jahren genauso gewöhnt wie an organisierten Menschenhandel und Zwangsprostitution.

All das sind umfassende Formen einer gesamtgesellschaftlichen Verrohung, wenn der Begriff schon genutzt werden soll, die nicht mit den bürgerlichen Ideen einer freien, gleichen und aufgeklärten Gesellschaft vereinbar sind. Vor diesem Hintergrund wird die Diagnose einer verrohten Jugend geradezu zynisch. Im Gegenteil: Erklärungsbedürftig ist eher, warum die Jugend noch so erfrischend wenig verroht ist angesichts gesellschaftlicher Zustände, die abgeschafft gehören.

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Uwe H. Bittlingmayer

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