Der Sohn hält nichts vom Vater

Sittenverfall und sittliche Genesung im Alten Testament
Haben es die Frauen in Jerusalem vielleicht von den Ägypterinnen gelernt? Papyrus, um 1200 v. Chr. Foto: akg-images/Werner Forman
Haben es die Frauen in Jerusalem vielleicht von den Ägypterinnen gelernt? Papyrus, um 1200 v. Chr. Foto: akg-images/Werner Forman
Sittenverfall in Familie und Gesellschaft ist ein beliebtes Thema alttestamentlicher Bücher. Doch biblische Autoren belassen es nicht bei der Klage, sondern erwarten Abhilfe durch göttliches Eingreifen und menschliche Umkehr - zeigt Bernhard Lang, Professor em. für Altes Testament und Religionswissenschaft an der Universität Paderborn.

Das Land ist voller Ehebrecher. Der Sohn hält nichts vom Vater, die Tochter erhebt sich gegen die Mutter, die Schwiegertochter gegen ihre Schwiegermutter, des Menschen Feinde sind die Menschen im eigenen Haus." Solche Klage über die Sittenlosigkeit des Volkes - hier aus den Büchern Jeremia und Micha angeführt (Jeremia 23,10; Micha 7,6) - wird im Alten Testament oft laut. Sie begegnet besonders häufig in der prophetischen Literatur, wissen sich die Propheten doch als von Gott berufene Kritiker, Gewissen der Nation, Anwälte von Recht, Sitte und Moral.

Gelegentlich wird Sittenlosigkeit einzelnen, namentlich genannten Personen vorgeworfen. Laut Jeremia sind Zidkijahu und Achab nicht nur Falschpropheten, die sich zu Unrecht auf Gott berufen; sie fallen auch durch ihren fragwürdigen Lebenswandel auf. Jeremia wirft ihnen Ehebruch vor (Jeremia 29,23), ein Vergehen, das ihn, den Unverheirateten, sehr beschäftigt: Wer Ehebruch begeht, könne niemals gleichzeitig als rechtmäßiger Sprecher des Gottes Israels auftreten; er habe seine Legitimität verloren. Prophet und sittenloser Lebenswandel - für Jeremia geht das nicht zusammen. Der prophetische Beruf erfordert einen tadellosen Lebensstil. Doch die namentliche Nennung sittenloser Menschen kommt im Alten Testament selten vor. Mögen die Propheten vielleicht im wirklichen Leben oftmals Einzelne bloßgestellt und angegriffen haben, in ihren Schriften hat das kaum Niederschlag gefunden. Überliefert sind vor allem allgemeine Klagen über die Gegenwart als eine Zeit des Sittenverfalls. So kann Jeremia sagen, Stehlen, Töten, Ehebrechen und falsch Schwören - gemeint ist zweifellos: "vor Gericht" - seien an der Tagesordnung (Jeremia 7,9).

Sünden breit geschildert

Die Sünden, die Jeremia knapp und formelhaft aufzählt, werden von seinem Zeitgenossen Ezechiel (Hesekiel) breit geschildert (Ezechiel 22): Im Rechtswesen herrsche Korruption, es gebe falsche Anklage, die zum Todesurteil führe, Richter ließen sich bestechen. In den Familien herrsche Unordnung: Eltern genössen keinen Respekt und würden (so die wahrscheinliche Deutung) im Alter nicht versorgt, Männer würden auf die Monatsblutung ihrer Frauen keine Rücksicht nehmen, manche missbrauchten ihre Schwiegertöchter und schliefen mit den Ehefrauen anderer. Selbst vom Verkehr von Männern mit der eigenen Schwester hören wir. Dazu kommt noch das Missverhalten gegenüber sozial Schwachen: Gegen Fremde werde Gewalttat geübt, Witwen und Waisen würden unterdrückt und beim Geldverleihen würden Zins und Aufschlag genommen. Möglicherweise wollte der Prophet nicht nur die Sittenlosigkeit der eigenen Zeit charakterisieren, sondern die Missstände eines längeren, viele Generationen umfassenden Zeitraums.

Das umfangreichste Sittengemälde findet sich im Buch Hiob. Dort verbinden sich poetischer Schwung und genaue Beobachtung zu einem dichten Text, den wir gekürzt wiedergeben (Hiob 24):

"Man verrückt Marksteine, man raubt die Herde und lässt sie weiden. / Den Esel der Waisen treibt man weg, das Rind der Witwe nimmt man zum Pfand. / Man drängt den Armen vom Weg, die Elenden des Landes müssen sich alle verstecken. / Sie sind wie Wildesel in der Wüste, sie ziehen aus zu ihrer Arbeit, / in der Steppe suchen sie nach Nahrung, nach Brot für sich und ihre Kinder. / In der Nacht ernten sie auf dem Feld, und sie plündern den Weinberg des Frevlers. / Nackt, ohne Kleidung verbringen sie die Nacht, und in der Kälte haben sie keine Decke. / Man reißt das Waisenkind von der Mutterbrust, und den Säugling des Armen nimmt man zum Pfand. / Nackt gehen sie einher, ohne Kleidung, und hungernd tragen sie Garben. / In den Gärten pressen sie Öl, treten die Kelter und leiden Durst dabei. / Vor dem ersten Licht erhebt sich der Mörder, er tötet die Elenden und die Armen, / und der Dieb geht umher in der Nacht. / Und der Ehebrecher lauert auf die Dämmerung. Er denkt: "Kein Auge soll mich sehen!", und verhüllt sein Gesicht. / Im Finstern brechen sie ein in die Häuser, bei Tag schließen sie sich ein, / denn sie scheuen das Licht. / Man bedrückt die Unfruchtbare, die nicht gebären kann, und der Witwe tut man nichts Gutes."

Die Nacht bringt es an den Tag

Die poetische Grundidee ist die Nacht: Im Schutz der Dunkelheit treiben nicht nur Mörder, Diebe und Ehebrecher ihr Unwesen. Auch die Armen gehen nachts auf die Felder, um sich das zu holen, was ihnen bei der Arbeit vorenthalten wurde, die sie für die Reichen am Tage geleistet haben. Nicht der Tag, sondern die Nacht offenbart die Schattenseiten der Gesellschaft. Auch der Prophet Micha lässt das Verbrechen aus der Nacht entstehen: "Wehe denen, die auf ihren Lagern Unheil planen und böse Taten! Wenn der Morgen anbricht, führen sie es aus, weil es in ihrer Macht steht. Sie gieren nach Äckern und rauben sie, und nach Häusern und nehmen sie weg" (Micha 2, 1f). Aber wie knapp bleibt doch das Wort des Propheten, verglichen mit der Darstellung im Buch Hiob. Kein anderer Bibeltext als das 24. Kapitel des Hiob-Buches führt so beredte Klage über die sozialen Missstände der Gesellschaft.

Die Klage richtet sich naturgemäß vor allem gegen die Reichen, haben wir es doch im alten Israel mit einer Klassengesellschaft zu tun, in der sich Arm und Reich gegenüberstehen. So überrascht es nicht, Sätze wie den folgenden zu finden: "Wehe denen, die Haus an Haus reihen, die Feld an Feld rücken, bis kein Platz mehr ist, und bis ihr allein noch im Herzen des Landes wohnt" (Jesaja 4,8).

Den Frauen der Reichen widmet Jesaja eine uns erheiternde, aber als bissigen Angriff gemeinte Beschreibung: Die Jerusalemerinnen gehen nicht spazieren, ohne sich vorher - wohl nach ägyptischer Sitte - die Augen geschminkt zu haben, und wenn sie umhergehen, klirren die Spangen an ihren Füßen. Neben den Fußspangen nennt uns der Prophet, mit der Sache gut vertraut, das ganze Inventar eines Schmuckkastens der Hebräerin: kleine Sonnen, Möndchen, Ohrgehänge, Armketten, Schleier, Kopfschmuck, Fußkettchen, Brustschärpe, Riechfläschchen, Amulette, Finger- und Nasenringe. Genannt werden außerdem Festkleider, Überkleider, Überwürfe, Täschchen, feine Gewänder, Hemden, Kopfbinden, Kopftücher, Gürtel und, als Parfüm, kostbarer Balsam (Jesaja 3,16-24). Von Kopf bis Fuß ist die Hebräerin in kostbares Tuch gekleidet und mit Schmuck behängt. Welcher Kontrast zu den Armen, die - nach der Beschreibung des Hiob-Buches - selbst des Nachts ohne Kleidung bleiben müssen. Vom Propheten als Beschreibung weiblicher Dekadenz gemeint, stellt die Aufzählung eine Herausforderung für jeden Forscher dar, der sich mit Frauenkleidung und Frauenschmuck in der Antike beschäftigt.

Die Hure Jerusalem

Ihre eigentliche, von den biblischen Autoren intendierte Botschaft geben uns die Sittengemälde erst dann preis, wenn wir sie innerhalb ihres literarischen und argumentativen Zusammenhanges betrachten. Tatsächlich legen die biblischen Autoren keinen Wert auf das Entwerfen bloßer Sittengemälde. Ihr Anliegen ist vielmehr, die geschilderten Missstände und Verbrechen zu bewerten und Folgerungen zu ziehen. Und Jesajas Urteil ist unmissverständlich: Israels Gott missbilligt den Verfall von Sitte und Moral, er ist erzürnt, er bestraft, indem er die Bösen vernichtet.

Als Beleg kann Jesajas Gedicht "Wie ist sie zur Hure geworden" dienen; mit der entgleisten, zur Hure gewordenen Frau ist Jerusalem gemeint. Das Gedicht beginnt wie folgt (Jesaja 1, 21-26):

"Wie ist sie zur Hure geworden, die treue Stadt, / die erfüllt war von Recht; / Gerechtigkeit war da in der Nacht, und nun Mörder! / Dein Silber ist zur Schlacke geworden, / dein Wein ist mit Wasser gepanscht. / Deine Anführer sind störrisch / Und Kumpane von Dieben. / Jeder liebt Bestechung und jagt Geschenken nach. / Der Waise verschaffen sie nicht Recht, / und der Rechtsstreit der Witwe gelangt nicht vor sie."

Soweit die Beschreibung der Zustände in Jerusalem: Korruption der Behörden, Mord, Diebstahl. Wieder ist von der "Nacht" die Rede: Früher war sie eine Zeit der Gerechtigkeit, was besagen soll: der ungestörten Ordnung; nun ist sie die Zeit der Mörder und Diebe. Dem beschreibenden Teil fügt der Prophet einen zweiten Teil hinzu, der Jahwes Richterspruch enthält:

Darum, Spruch des Herrn, des Herrn der Heerscharen, des Starken Israels:

"Wehe! Ich werde mich an meinen Gegnern rächen, / und an meinen Feinden Rache nehmen! / Und ich will meine Hand gegen dich wenden, / um deine Schlacke wie mit Lauge zu läutern, / und all dein Blei will ich wegschaffen. / Und ich will deine Richter zurückbringen, wie es war, / und deine Ratgeber, wie am Anfang. / Danach wird man dich "Stadt der Gerechtigkeit" nennen, / treue Stadt."

Bemerkenswert ist nicht die Ankündigung einer göttlichen Strafe, denn die Strafansage ist typisch prophetisch. Bemerkenswert ist vielmehr die Erwartung einer Erneuerung der früheren Zustände im Rechtswesen der Stadt. Die Sitten sind verfallen, nun gilt es, die idealen Verhältnisse der Vergangenheit wieder herzustellen. Die Abfolge ist also: treue Stadt, Stadt, die dem Recht die Treue hält, Stadt des Unrechts, Stadt der Gerechtigkeit. Mit "Silber" und "Wein" sind in Jesajas Gedicht die Patrizier der Stadt Jerusalem gemeint, in deren Hand auch Verwaltung und Rechtswesen liegen. Doch Silber und Wein sind verdorben. Das poetische Bild, das der Prophet für die göttliche Reinigung verwendet, die Behandlung der Metallschlacke mit Lauge, entstammt der antiken Chemie, von welcher Jesaja offenbar etwas versteht. Man benötigt freilich kein chemisches Wissen, um den Sinn zu verstehen: Das Böse soll ausgeschieden und vernichtet werden.

Auch Optimismus

Die Bösen und Sittenlosen werden ihrer Strafe nicht entkommen, sie werden zugrunde gehen. Das ist nicht nur die Meinung des Jesaja, sondern auch des Zofar, jenem Dialogpartner Hiobs, dem wir das Sittengemälde im 24. Hiobkapitel verdanken. Die von uns ausgelassenen Passagen dieses Kapitels sprechen eine deutliche Sprache:

"Dürre und Hitze nehmen das Schmelzwasser weg, / so das Totenreich die, die gesündigt haben. / Der Mutterschoß vergisst sie, / an ihnen laben sich die Maden, niemand erinnert sich an sie, / und das Unrecht wird zerbrochen wie ein Baum."

Von den Mächtigen heißt es: "Sie kommen hoch für kurze Zeit (...) und sie werden erniedrigt, dahingerafft wie alle, und verwelken wie die Spitze der Ähre."

Für die Bösen gibt es nach dieser Auffassung keine gute Prognose. Ihre Zukunft wird pessimistisch beurteilt.

Doch im Alten Testament gibt es auch eine optimistische Theologie, die sich von der soeben geschilderten pessimistischen deutlich abhebt. Nach der optimistischen Sicht werden die sittenlosen und korrupten Menschen nicht einfach ihrer Strafe überlassen; ihnen wird noch einmal eine Chance geboten. Sie werden zur Änderung ihres Verhaltens, zur Umkehr gerufen. Sie können dem ihnen drohenden Unheil durch entschiedene Abwendung von ihrer Korruption entkommen.

Besonders deutlich ist diese Auffassung im Hesekielbuch. Bei Ezechiel ist der Ruf zur Umkehr in ein gedankliches Schema eingebettet, das folgende vier Teile enthält: 1. Verfall der Sitten und Missachtung der göttlichen Ordnung. 2. Gottes Strafe in der Gestalt der Eroberung und Zerstörung Jerusalems durch babylonisches Militär, gefolgt von der Aufhebung der politischen Autonomie Judas und der Verschleppung der judäischen Oberschicht (593 und 586 v. Chr.). 3. Ruf zur Umkehr durch Propheten. 4. Verheißung einer besseren Zeit, geknüpft an den Vollzug der Umkehr. Als Ezechiel spricht, ist der Prophet bereits nach Babylonien verschleppt, Jerusalem ist bereits erobert, vielleicht sogar zerstört. Innerhalb des hesekielschen Schemas dient die negative Sittenschilderung dazu, die Strafe einsichtig zu machen, die Gott über Jerusalem hat kommen lassen.

Chance zur Wiederherstellung

Sittenlosigkeit, so der Prophet, habe zwar in den Untergang geführt, aber der Untergang müsse nicht das Ende sein. Es bestehe eine Chance zur Wiederherstellung eines befriedigenden Zustandes. Im Bibeltext lautet das so: "Und wenn ein Ungerechter sich abkehrt von seiner Ungerechtigkeit, die er begangen hat, und nach Recht und Gerechtigkeit handelt, erhält er sich sein Leben. Und hat er es eingesehen und sich abgekehrt von all seinen Vergehen, die er begangen hat, wird er am Leben bleiben, er muss nicht sterben" (Ezechiel 18,27f). In diesem Zusammenhang fällt auch die Mahnung: "Werft all eure Vergehen von euch, mit denen ihr euch vergangen habt, und schafft euch ein neues Herz und einen neuen Geist!" Kurz: "Kehrt um und bleibt am Leben!" (Ezechiel 18,31f)

Ezechiel träumt nicht von einer idealen Vergangenheit. Seiner Meinung nach herrschte schon immer Sittenlosigkeit. Doch keiner sei auf seine Sittenlosigkeit festgelegt. Umkehr sei nötig, aber auch möglich - und im Ergebnis erfreulich. In Sittenlosigkeit lauerten Untergang und Tod, in der Umkehr zu rechtem Tun winkten Lohn und Leben - für den Einzelnen wie für das ganze Volk.

Zusammenfassend lässt sich sagen: Das Anprangern von Recht- und Sittenlosigkeit in Gesellschaft, politischen Institutionen und Familien gehört zum festen Themenbestand alttestamentlicher Schriften. Die gesellschaftlichen Zustände werden nicht beschönigt, sondern wohl eher in allzu düsteren Farben gemalt. Der Zorn Jesajas, die pädagogische Weisheit Zofars und die politische Erfahrung Ezechiels machen uns die Übertreibung, aber auch den Realismus ihrer Schilderung sozialer Missstände verständlich. Allen gemeinsam ist die Botschaft: "Sittenlosigkeit führt ins Unglück."

Hinweis

Übersetzungen aus: Zürcher Bibel, herausgegeben vom Kirchenrat der evangelisch-reformierten Landeskirche des Kantons Zürich, Zürich 2007.

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Bernhard Lang

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