Meister der Scham

Ein biblischer Essay
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Die Reminiszenzen sind nicht neu, aber in ihrer Zusammenschau höchst informativ, erhellend für jeden engagierten Laien und eine Fundgrube für jeden Prediger.

"Oh Papa, peinlich ...!" - Wer Kinder durch die Pubertät begleitet hat, wird kaum an solchen Sätzen vorbei gekommen sein. Oder er wird sie selbst als junger Mensch durch die Zähne gezischt haben, voller Scham über die eigenen Eltern. Es gibt in der nur scheinbar schamlosen westlichen Welt zum Glück immer noch eine Entwicklungsphase der intensiven Scham-Entdeckung zwischen zehn und zwanzig Jahren, die dann wieder abklingt und im Erwachsenenalter keine Rolle mehr zu spielen scheint. Vermutlich trügt der Schein.

Zielsicher greift der renommierte systematische Theologe und Autor Klaas Huizing ein Thema auf, das so knapp unter der Haut liegt wie die Schamesröte selbst und einer dringenden Diskussion bedarf. Und er geht in seinem biblisch-theologischen Essay an die Wurzeln unserer Schamkultur. Wie kann man das Verhältnis von Scham und Schuld im jüdisch-christlichen Horizont begreifen? Der Umgang, die Bewältigung von Scham, ist - so seine Ausgangsthese - zentrales Movens biblischer Geschichten, insbesondere bei der "buckligen Verwandtschaft" der Bibel, im Alten Testament.

Huizing will an ausgewählten Beispielen die Gebrochenheit biblischer Biographien vermessen und so eine biblische Kulturgeschichte der Scham schreiben. Dies geschieht mit schelmischer Empathie, die den Geschichten wie der buckligen Verwandtschaft durchaus einen hohen Unterhaltungswert zumisst. Der Autor begreift nach der Lektüre einiger philosophischer Definitionen Scham als "sozial gefasst, gleichgültig, ob es als soziales oder religiöses Gefühl thematisiert wird. Es geht um Prozesse der Selbstachtung, die im Fall der Scham einen Verlust an Respekt, eine negative Beurteilung meiner selbst und damit eine persönliche und soziale Minderung nach sich ziehen". Der Widerstand gegenüber solchem temporären Untergang der Beschämung führt zu allerlei Vermeidungsstrategien, so genannter vorweggenommener Scham, die er im Einzelnen in den biblischen Geschichten sichtet und erläutert.

Peinlich nackte Ureltern

Die "peinlich nackten Ureltern", Adam und Eva eröffnen den biblischen Geschichten-Kreis. Huizing trägt hier, wie in allen weiteren Kapiteln, in seinem unverwechselbaren, narrativ essayistischen Stil eine Vielzahl von Sekundärkommentaren aus Exegese, Psychologie, Literatur und Philosophie zusammen. Die Reminiszenzen sind nicht neu, aber in ihrer Zusammenschau höchst informativ, erhellend für jeden engagierten Laien und eine Fundgrube für jeden Prediger. Der Autor bemüht sich schließlich, seine eigenen Deutungen zugänglich zu machen. Im Falle des Sündenfalls schimmert Huizings Nähe zur Kantschen Philosophie durch, die Auswege zeigt, wo scheinbar keine sind: "Nur die kultivierte Geschlechtsscham ermöglicht es, den anderen, kantisch gesprochen, als Person, als Zweck an sich, wahrzunehmen."

Der Bogen der biblischen Geschichten ist dann leicht und ganz schlüssig geschlagen: Kain, Noah, Lots Töchter, Lea und Rahel, Tamar, Esau, Simson, der David-Clan, Jesaja und Hosea, und schließlich Jesus.

Die Scham-Geschichten des Alten Testamentes sind mindestens immer "Dreier-Kisten" zwischen Transzendenz und Immanenz. Auch Gott kann beschämt werden, so Huizing. Zum Beispiel darüber, dass die Menschen sich vor der Sintflut von ihm abwenden und aus der Beziehung zu ihm heraustreten - Mobbing gegenüber dem Himmlischen. Sintflut und Arche sind dann ein Balance-Akt göttlicher Entschämung. Die Beziehung zwischen Gott und Mensch im wechselseitigen Respekt wird im ersten Bund neu verwirklicht - vorerst.

Soweit die Beispiele. Im Hinblick auf die Frage nach einer gegenwärtigen Schamkultur erscheinen die Erörterungen über beschämende Kinderlosigkeit in der Geschichte Tamars besonders erhellend, in Hinsicht auf die globale, religiöse Event-Kultur sind die Lektüren der beiden "Performer der Scham", der prophetischen Aktionskünstler Jesaja und Hosea aufschlussreich. Mit der Wahrnehmung Jesu als dem "Meister der Scham", besser, dem "Entschämer", gelingt Huizing schließlich ein sehr greifbares, konkretes Bild göttlichen Gnadenhandelns. Sein durchaus heiteres Fazit des deutlich kurzen, neutestamentlichen Teils gilt gleichsam für das ganze Buch: "Das Christentum ist kitschnah verliebt in den guten Ausgang."

Klaas Huizing: Eva, David und der Noah-Clan. Edition Chrismon, Frankfurt am Main 2012, 196 Seiten, Euro 16,90.

Marcus A. Friedrich

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