Wenn vom Geld im Mittelalter die Rede ist, dann wird früher oder später das Buch Wucherzins und Höllenqualen zitiert, das der Altmeister der französischen Mediävistik vor 25 Jahren schrieb. Das Buch regt an durch seine mentalitätsgeschichtliche Perspektive: Wie kamen Kaufleute und Geldverleiher, deren Geschäftspraktiken mehr oder weniger deutlich der Wucherei verdächtig und damit verboten waren, mit der sich daraus ergebenden "sozialen Schizophrenie" klar? Einerseits wurden sie von der Kirche als Todsünder gebrandmarkt, andererseits wuchsen die Kaufmann-Bankiers zu mächtigen Figuren in der mittelalterlichen Stadtwelt heran. Outsider oder Eliten?
Diese Spannung zwischen kirchlicher Sozialverkündigung und dem in der kommerziellen Revolution sich entfaltenden Handel und der Geldwirtschaft ist eine der großen, nicht nur mentalitätsgeschichtlichen Fragen, die das Mittelalter aufgibt. In seinem neuen Buch fragt nun Le Goff nicht nach Bild und Selbstbild der Kaufleute, sondern schaut auf die Sozial- und Wirtschaftsgeschichte: wie sich die Geldwirtschaft vom frühen bis zum späten Mittelalter in unterschiedlichen Wellen verbreitet hat, wie es um Münzen, Prägerechte und Prägestätten stand, aber auch um den wachsenden Bedarf nach Geld und um Krisen und verschuldete Städte; und natürlich erzählt Le Goff auch, wie die Kirche die Geldwirtschaft beurteilte. Was eine interessante Ergänzung, ja Komplettierung von Le Goffs Arbeiten zu diesem Themenfeld sein könnte, enttäuscht leider.
Denn mit einem Mal löst Le Goff die Spannung zwischen Ausbreitung und Verwerfung des Geldes zu einseitig auf. Er behauptet, es habe für die mittelalterlichen Menschen gar keinen klar abgrenzbaren Bereich "der Wirtschaft" gegeben, das ganze Leben sei von der Religion her gedeutet worden, und so sei die Wirtschaft komplett in eine religiöse Weltsicht eingebettet gewesen. Deren oberste Ziele seien Nächstenliebe und Gerechtigkeit gewesen. Auch Geldtransfers hätten nur einer Ökonomie der Gabe gedient, die er freilich mehr behauptet als entfaltet.
Das Anliegen von Jacques Le Goff ist verständlich, er will uns - wie auch früher schon - ein "anderes Mittelalter" präsentieren, also zeigen, dass das Mittelalter ganz anders war als unsere Welt, und dass wir diese Andersheit verfehlen, wenn wir es einfach mit unseren Kategorien deuten, Kategorien, die den Menschen damals völlig fremd waren.
Das ist zweifellos ein wichtiger Punkt. Aber Le Goff schüttet das Kind mit dem Bade aus, wenn er nur das betont, was uns vom Mittelalter unterscheidet und nicht auch das, was uns mit ihm verbindet. So hat die Entwicklung zum Kapitalismus natürlich im Mittelalter begonnen, wie es Le Goff in Wucherzins und Höllenqualen auch behauptete. Jetzt aber will er alles Kapitalistische aus dem Mittelalter heraus halten. Es gab aber beides: Religiöse Ökonomie und Gewinnstreben. Und gerade die Spannung zwischen den divergierenden Wertesystemen und Praktiken kennzeichnet die mittelalterlichen Städte und erklärt zum Beispiel auch den intellektuellen Aufwand im Bereich der Theologie oder im Bereich des Rechtes, der um die Wirtschaft getrieben wurde und der bei Le Goff leider völlig fehlt.
Le Goff hat wieder - sieht man von einigen Redundanzen ab - ein sehr schönes Buch geschrieben: in fasslicher Größe materialreich und bildhaft. Man lernt viel über den Geldgebrauch im Mittelalter. Aber seine Thesen ergeben sich diesmal nicht überzeugend aus seiner Erzählung.
Jacques Le Goff: Geld im Mittelalter. Klett-Cotta, Stuttgart 2011, 280 Seiten, Euro 22,95.
Christoph Fleischmann
Christoph Fleischmann
Christoph Fleischmann ist Theologe und Journalist. Er lebt in Köln.