Ohne Erlaubnis

Wie und warum die Orgel in die Kirchen kam
"Die Orgel wird in Zukunft nicht mehr als ein reines Kircheninstrument empfunden werden." Foto: epd/Gustavo Alabiso
"Die Orgel wird in Zukunft nicht mehr als ein reines Kircheninstrument empfunden werden." Foto: epd/Gustavo Alabiso
Durch ihren Klang und ihr oftmals prachtvolles Äußeres fasziniert die Orgel viele Menschen. Doch wie kam dieses Instrument in die Kirchen? Der Musikwissenschaftler und Orgelhistoriker Roland Eberlein gibt die Antwort.

Treten wir heute in eine Kirche ein, erwarten wir selbstverständlich, darin außer einem Altar und einer Kanzel auch eine Orgel vorzufinden. Fast immer thront sie auf der Empore am Westende des Langhauses. In vielen Kathedralen und Klosterkirchen entdeckt man sogar noch weitere, kleinere Orgeln an anderen Stellen. Ganz offensichtlich hat die Orgel eine überragende Bedeutung für Kirche und Gottesdienst. Kirche und Orgel - das scheint untrennbar zusammenzugehören.

Diese enge Verbindung zwischen Kirche und Orgel hat es aber nicht immer gegeben. Ursprünglich war die Orgel ein rein weltliches Instrument: Um 250 vor Christus wurde es von dem in der Wissenschaft der Mechanik bewanderten griechischen Gelehrten und Techniker Ktesibios erfunden und in einem Traktat erstmals beschrieben. In den folgenden Jahrhunderten verbreitete sich dieses neue technische Wunderwerk im gesamten römischen Reich. Vergleichsweise kleine, transportable Orgeln erklangen bei Theatervorstellungen und bei öffentlichen Orgel-Wettspielen. Die Reichen ließen sich auf der Orgel zu festlichen Mahlzeiten oder zu nächtlichen Vergnügungen vor ihren Häusern aufspielen.

Natürlich wurden Orgeln auch zur Ausschmückung von Hochzeiten und anderen Festen gebraucht. Außerdem erklang die Orgel in den römischen Zirkusarenen zur Untermalung von Gladiatoren- und Tierkämpfen. Das Instrument wurde so hoch geachtet, dass selbst Personen höchsten Ranges wie beispielsweise Kaiser Nero es nicht als unter ihrer Würde empfanden, öffentlich als Orgelspieler aufzutreten, also so etwas wie Konzerte zu geben.

Keine Verbindung zur Religion

Eine Verbindung zur religiösen Sphäre besaß die Orgel damals nicht: Nach heutiger Erkenntnis erklangen Orgeln weder in den Tempeln noch in den frühen christlichen Kirchen. Im Gegenteil, die Kirchenväter der Spätantike lehnten die Orgel und alle übrigen Instrumente ab: Justinus (103-168) verbannte alle Instrumente aus der Kirche. Die Musiker hatten ihren Beruf zu wechseln, oder man verweigerte ihnen die Taufe. Das Konzil von Arles im Jahre 314 exkommunizierte alle Schauspieler und Theaterleute - und dazu zählte man auch die Orgelspieler, da ja in den Theatern Orgel gespielt wurde.

Als das weströmische Reich in den Kriegen und Wirren der Völkerwanderung unterging, verschwand auch die Orgel: Die christliche Kirche lehnte die Orgel als Inbegriff spätantiker Dekadenz ab, und die germanischen Eroberer waren an der griechisch-römischen Kultur nicht interessiert.

Zu Festmählern und Zirkusaufführungen

Im oströmischen Reich hingegen lebte die Orgel weiter. Allerdings schränkte sich ihr Gebrauch im Laufe der Jahrhunderte allmählich auf den Hof der byzantinischen Kaiser ein: Dort wurden mehrere transportable Orgeln zur musikalischen Untermalung der prunkvollen Auftritte des Kaisers innerhalb und außerhalb des Palastes genutzt sowie als Begleitung zu kaiserlichen Festmahlzeiten und Zirkusdarbietungen. In den Kirchen hingegen wurden alle Instrumente - also auch die Orgel - strikt abgelehnt, so wie auch heute noch die orthodoxe Kirche keine Instrumentalmusik kennt.

Es besteht also der größte nur denkbare Gegensatz zwischen dem rein weltlichen Charakter der Orgel in der Antike und dem fast ausschließlich kirchlichen Charakter der Orgel in der Neuzeit. Wie konnte sich der Charakter dieses Instruments in sein genaues Gegenteil verkehren? Dieses Mirakel vollzog sich im Laufe des Mittelalters in Westeuropa. 826 erstellte Priester Georg aus Venedig eine Orgel "nach Art der Griechen" für Ludwig den Frommen (778-840), den Sohn Karls des Großen, in dessen Pfalz zu Aachen. Ludwig und sein Hof waren sehr stolz auf diese erste im fränkischen Reich gebaute Orgel: Ihretwegen fühlte man sich nun dem byzantinischen Kaiser kulturell ebenbürtig. Dementsprechend wurde diese Orgel genau wie in Byzanz zur Huldigung des Herrschers eingesetzt.

Vermutlich hat Pfarrer Georg seine Kenntnisse an Schüler weitergegeben, denn schon bald verbreitete sich die Kunst des Orgelbaus im Gebiet nördlich der Alpen. Die Orgelbauer dieser Zeit waren zwangsläufig geistlichen Standes, denn nur solche Personen verfügten über die notwendigen mathematischen Vorkenntnisse, beispielsweise zur Berechnung der Pfeifenlängen. Für diese orgelbauenden Priester und Mönche muss der Gedanke nahe gelegen haben, die Orgel in der Kirche im Gottesdienst zu verwenden. Denn muss nicht etwas, das sich in besonderer Weise zur Huldigung des Kaisers, des Stellvertreters Gottes auf Erden, eignet, auch für den Lobpreis Gottes in der Kirche angemessen sein?

Weit weg von Rom

So ist es nicht weiter erstaunlich, dass sich in Quellen aus dem zehnten Jahrhundert die ersten Nachrichten über Orgeln in Kirchen finden: 915 stiftete der englische Graf Atton auf dem Hügel Canusina ein Kloster zu Ehren des Heiligen Apollonius und schenkte der Kirche zugleich eine Orgel. Um 950 ließ der Bischof Elphegus in der Kathedrale von Winchester eine Orgel von damals spektakulärer Größe bauen. Gerbert von Aurillac, Erzbischof von Reims und späterer Papst Silvester II., baute 991 eine Orgel für die Kathedrale in Reims. Ab dem 11. Jahrhundert wurden auch im Gebiet des heutigen Deutschland Orgeln in Kirchen aufgestellt: so 1060 im Kloster St. Ulrich zu Augsburg und 1077 im Kloster Weltenburg.

Sicher ist es kein Zufall, dass diese frühen Kirchenorgeln alle weit weg von Rom standen, denn nach wie vor galt ja das von den Kirchenvätern aufgestellte Verbot der Instrumentalmusik in der Kirche. Die Orgel hat sich ohne offizielle Erlaubnis gleichsam durch die Hintertür in die Kirche eingeschlichen und sich dort nach und nach breit gemacht: Bis gegen Ende des 13. Jahrhunderts waren die meisten Kathedralen und großen Klosterkirchen West- und Mitteleuropas mit Orgeln versehen.

Im 14. Jahrhundert traten Orgeln zunehmend auch in den Stadtkirchen wohlhabender Städte auf. Die Orgel hatte sich nun als kirchliches Musikinstrument fest etabliert. Selbst in Italien wurden die großen Kirchen nach und nach mit Orgeln ausgestattet - nur in Rom zögerte man noch etwas, doch ließ man spätestens im 16. Jahrhundert auch dort die Bedenken fallen. Die Dorfkirchen Europas blieben allerdings noch lange frei von Orgeln. In Deutschland wurden die meisten Dorfkirchen erst im Laufe des 18. Jahrhunderts mit Orgeln ausgestattet. Manchen kleinen Gemeinden gelang die Anschaffung einer Orgel sogar erst im 19. Jahrhundert.

Vom Klavier ersetzt

Parallel zu dieser Entwicklung der Orgel zum Kircheninstrument ging ihre Verwendung außerhalb der Kirche immer weiter zurück. Im Mittelalter gab es kleine, transportable Orgeln, die "Portativ" genannt wurden, wenn sie beim Spiel getragen wurden, und "Positiv", wenn sie zum Spielen auf einem Tisch oder auf dem Boden abgesetzt wurden. Solche Orgeln kamen bei der weltlichen Musik in den Adelsburgen und Patrizierhäusern häufig zum Einsatz. Auch in der frühen Neuzeit bis gegen 1800 wurden Positive in den Schlössern und reichen Bürgerhäusern gespielt.

Nach 1800 kamen diese privaten Kleinorgeln aus der Mode. An ihre Stelle traten Klavier und Flügel. In Deutschland wurden jedoch ab 1860 viele Konzertsäle mit großen Orgeln ausgestattet. Allerdings erklangen diese Orgeln nur selten, und wenn, dann wurde darauf keine andere Musik gespielt als auf den Kirchenorgeln. Weil die Orgel somit seit Jahrhunderten primär ein Kircheninstrument ist, assoziieren heute die meisten von uns den Orgelklang mit Religion, Kirche und Gottesdienst. Seit einigen Jahrzehnten nimmt jedoch die Bedeutung der Orgel in der Kirche ab. Es begann mit der Einführung der "Neuen Geistlichen Lieder": Viele Kirchenmusiker hielten und halten die Orgel für unpassend zur Begleitung dieser Musik und wechseln bei solchen Liedern zum Klavier oder Keyboard. Oder sie lassen es zu, dass musikinteressierte Laien derartige Lieder auf der Gitarre begleiten. In manchen Gemeinden haben sich sogar sakrale Bands etabliert, welche die Orgel weitgehend überflüssig machen.

Immer weniger Organisten

Neuerdings ist die kirchliche Orgelkultur obendrein durch Geldmangel bedroht: Hauptamtliche Organistenstellen werden im Stellenumfang reduziert oder durch nebenamtliche Stellen ersetzt. Viele Organisten flüchten derzeit aus finanziellen Gründen in den Lehrerberuf. Angesichts der prekären Berufsaussichten sinkt die Zahl der Orgelstudenten. Jugendliche, die Orgel lernen wollen, sind heute schon selten, weil das konservativ-kirchliche Image der Orgel sie abschreckt. Es ist abzusehen, dass irgendwann viele Gottesdienste mangels Organisten ohne Orgelmusik werden stattfinden müssen. Verschwindet also die Orgel allmählich aus den Kirchen? Wird die Orgel gar außer Gebrauch kommen, wie so viele historische Instrumente? Dagegen spricht, dass die Orgel durch ihren Klang und ihr prachtvolles Äußeres noch heute und wohl auch in Zukunft viele Menschen fasziniert. Die Orgel vermag sogar solche Personen für sich zu gewinnen, die den Kirchen und der klassischen Kirchenmusik fernstehen, sofern man auf der Orgel entsprechende Musik spielt: Im Internet auf YouTube werden seit etwa 2008 immer mehr Orgeleinspielungen populärer Musik von Scott Joplin über die Hits der Beatles bis zu jüngsten Songs von Lady Gaga veröffentlicht - und zahllose kirchenferne Betrachter kommentieren diese Einspielungen überschwänglich. Der Öhringer Organist Patrick Gläser spielt seit 2009 unter dem Titel "Orgel rockt!" Konzerte mit Rock-, Pop- und Filmmusik auf Kirchenorgeln in ganz Deutschland. Diese Konzerte sind durchweg exzellent besucht. Die Besucher gehören nicht dem klassischen Orgelpublikum an, sind aber von dieser neuen Art von Orgelmusik begeistert.

Für die Darbietung derartiger weltlicher Orgelmusik eignen sich natürlich besonders die Orgeln in weltlichen Konzertsälen oder in ehemaligen, von den Gemeinden aufgegebenen Kirchenräumen. Vielleicht nehmen deshalb Orgelkonzerte in Konzertsälen in den kommenden Jahrzehnten einen Aufschwung, so dass in einigen Jahrzehnten die Orgel nicht mehr als reines Kircheninstrument empfunden wird, wie dies heute der Fall ist. Auch die originäre Orgelmusik wandelt sich derzeit: Seit 1995 publizieren immer mehr Kirchenmusiker neuartige Orgelkompositionen für den Gebrauch im Gottesdienst, die sich stilistisch an Jazz, Swing, Rock, Pop und anderer Unterhaltungsmusik anlehnen. Beide Entwicklungen sind geeignet, das bisher stark konservativ-religiös geprägte Image der Orgel zu verändern. Meine persönlichen Erfahrungen zeigen mir schon jetzt, dass die Bereitschaft und Motivation von Jugendlichen, das Orgelspiel zu erlernen, erheblich wächst, wenn sie von diesen neuen Tendenzen erfahren.

Die Orgel wird also nicht außer Gebrauch kommen und zukünftig auch in vielen Kirchen gespielt werden. Aber sie wird nicht mehr als ein reines Kircheninstrument empfunden werden. Und die Orgelmusik wird nicht mehr durch die klassischen Orgelkompositionen von Johann Sebastian Bach bis Olivier Messiaen dominiert sein, sondern durch eine ganz andere Orgelmusik, welche die vielen Stile der modernen Unterhaltungsmusik aufgreift.

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Roland Eberlein

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