"Judasnaturen und verwahrloste Labile"

Warum es in evangelischen Kinderheimen der Fünfzigerjahre zu Übergriffen kam
Im Waschraum eines westdeutschen Kinderheimes um 1960. Viele Einrichtungen litten unter ungenügender materieller Ausstattung und dem schlechten Zustand der Gebäude. Foto: Diakonisches Werk der EKD
Im Waschraum eines westdeutschen Kinderheimes um 1960. Viele Einrichtungen litten unter ungenügender materieller Ausstattung und dem schlechten Zustand der Gebäude. Foto: Diakonisches Werk der EKD
Hundertausende Kinder lebten in den Fünfziger- und Sechzigerjahren in kirchlichen Kinderheimen. Viele von ihnen litten unter Missbrauch und Gewalt. Gab es spezifische evangelische Erziehungsmuster, die das begünstigten? Unter anderem danach fragt ein von beiden Kirchen unterstütztes Forschungsprojekt an der Ruhr-Universität Bochum, das nun eine umfassende Studie vorgelegt hat. Der Historiker Uwe Kaminsky, einer der Autoren, beschreibt die Ergebnisse.

Als Franz Josef Strauß am 9. Mai 1949, einen Tag nach der Verabschiedung des Grundgesetzes durch den Parlamentarischen Rat, die "Tierhaltermethoden" im evangelischen Erziehungsheim Faßoldshof in Franken angriff, warf dies ein Schlaglicht auf die dortigen problematischen Erziehungsvorstellungen. Strauß, der spätere Bundesverteidigungsminister, war zu diesem Zeitpunkt Oberregierungsrat im bayerischen Landesjugendamt. Er verteidigte das elterliche Züchtigungsrecht, das er auch dem Anstaltsleiter zugestand. Dieses solle "aber innerhalb der Grenzen gehandhabt werden, die von liebenden Eltern gegenüber ihren Kindern eingehalten werden, wobei weniger der Gedanke der Strafe, als der Gedanke der Erziehung und Besserung im Vordergrund zu stehen" habe.

Im vorliegenden Fall hatte der Anstaltsleiter Kinder mit einer Lederpeitsche auf das nackte Gesäß gezüchtigt. Widerspenstige Mädchen hatten so genannte "Kaltwasserpackungen" erhalten, zudem wurden ihnen die Haare geschoren. Der Anstaltsleiter, der Arzt und die leitende Schwester wurden nun zum Rücktritt gedrängt. Das Erziehungsheim benannte sich 1950 programmatisch in "Jugendheimstätte" um, damit die Kinder und Jugendlichen "nicht mit dem Makel der sogenannten Zwangserziehung überlebter Zeiten" belastet würden.

Fonds gegründet

Die in diesem Beispiel angedeutete Skandalgeschichte der Erziehungsfürsorge in der Bundesrepublik ist keineswegs auf Heime in Bayern oder nur auf evangelische oder katholische Heime begrenzt. Sie betrifft rund 800.000 zwischen 1949 und 1975 in Ersatzerziehung befindliche Kinder und Jugendliche, von denen allerdings über 70 Prozent in konfessionellen Heimen untergebracht waren. Bei den verfügbaren Plätzen ergab sich eine Relation von etwa 65 Prozent in katholischen und rund 35 Prozent in evangelischen Heimen.

In den vergangenen Jahren hat eine Vielzahl ehemaliger Heimkinder über die problematischen Verhältnisse sowie über Gewalt, Demütigung und sexuellen Missbrauch berichtet. Der Petitionsausschuss des Bundestages und ein eigens einberufener "Runder Tisch Heimerziehung" haben sich mit den Anklagen und Forderungen der ehemaligen Heimkinder nach einer Anerkennung ihres Leides, einer Entschädigung und einer Rente für nicht sozialversicherte Arbeitsleistungen in den Heimen befasst. Die Empfehlungen des "Runden Tisches" zum Umgang mit dem Leid der Betroffenen führten zur Gründung eines 120 Millionen Euro umfassenden Fonds, aus dem individuelle Hilfen und Rentenersatzleistungen bezahlt werden sollen. Ein Netz von Beratungsstellen in den Regionen soll helfen, individuelle Heimschicksale aufzunehmen und nötige Anträge zu stellen. Der Bund, die Länder und die Kirchen mit ihren Wohlfahrtsverbänden tragen zu je einem Drittel die Lasten. Ein weiterer Fonds für Betroffene aus Heimen in der ehemaligen DDR in Höhe von 40 Millionen Euro ist geplant.

Doch was waren die Ursachen der demütigenden Behandlung, die viele Heimkinder bis Mitte der Siebzigerjahre erfuhren? Gab es eine spezifische kirchliche, ja evangelische Form der Heimerziehung, die solche Zustände begünstigt oder zumindest nicht verhindert hat? Diesen Fragen hat sich ein Forschungsprojekt der Ruhr-Universität Bochum zugewandt, das neben Aktenüberlieferung auch lebensgeschichtliche Interviews mit Betroffenen auswertete. Diese trugen in besonderer Weise dazu bei, den schriftlich oftmals unzureichend festgehaltenen Heimalltag und die biographische Verarbeitung der Erfahrungen durch die Betroffenen zu erhellen.

Möglichst billig

Der hohe Anteil konfessioneller Heime entsprach der historischen Entwicklung der Jugendfürsorge in Deutschland. Konfessionelle Träger waren billiger als staatliche, was auf evangelischer Seite wesentlich mit den meist nur mit einem Taschengeld bezahlten Diakonissen und angehenden Diakonen zu tun hatte, die vielerorts in den Einrichtungen wirkten. Im eingangs erwähnten Faßoldshof waren in den Fünfzigerjahren besonders viele junge Diakonen-Anwärter eingesetzt, von denen einer 1960 sogar eine Schreckschusspistole bei sich trug, weil er Angst vor den Jugendlichen hatte. Ein Sondertarifvertrag in der damaligen Inneren Mission (heute: Diakonie) verstärkte den Trend, möglichst billige Arbeitskräfte einzusetzen.

Weiterhin ließ die bis in die Sechzigerjahre ungenügende materielle Ausstattung der Heime wenige Spielräume für eine geforderte Differenzierung der Kinder und Jugendlichen. Die Einrichtungen finanzierten sich über den staatlich gewährten Pflegesatz und wiesen wegen der Kriegsfolgen oft einen großen Nachholbedarf bei Räumlichkeiten und Ausstattung auf. Es gibt jedoch auch Hinweise, dass Heime aus einer Konkurrenzsituation heraus bewusst einen niedrigen Pflegesatz anboten, um die Kostenträger zu einer möglichst guten Belegung der Einrichtung zu bewegen. Solche niedrigen Pflegesätze ließen sich außer mit einfachster Wirtschaftsführung nur durch die Mitarbeit der Minderjährigen in den heimeigenen Ökonomien und Betrieben sowie die vergleichsweise geringen Aufwendungen für das Personal aus religiösen Gemeinschaften erreichen. Insgesamt herrschte im Bereich der Erziehung ein Personalmangel, der immer weniger von religiösen Gemeinschaften auszugleichen war.

Autoritäre Mentalität

Qualifizierungsdefizite prägten das Feld, und die Professionalisierung durch die immer mehr Einzug haltenden Humanwissenschaften ging nur schleichend voran.

Doch die ungünstigen äußeren Bedingungen erklären nur zum Teil einen Alltag voller Demütigungen und Entrechtung im Heim. Die autoritäre Mentalität der bundesdeutschen Nachkriegsgesellschaft, in der Schläge in der Erziehung zumindest in Maßen allgemein akzeptiert wurden, trug einiges zum traurigen Los der Heimkinder bei. Auch religiös überhöhte Erziehungsvorstellungen, die den strafenden Gott betonten und von manchen Erziehenden zur Autoritätsverstärkung missbraucht wurden, spielten eine Rolle. Wörtliche, unhistorische Bibelauslegungen wie "Wer seine Rute schont, der haßt seinen Sohn; wer ihn aber lieb hat, der züchtigt ihn beizeiten" (Sprüche 13, 24) oder "Laß nicht ab, den Knaben zu züchtigen; denn wenn du ihn mit der Rute schlägst, so wird er sein Leben behalten; du schlägst ihn mit der Rute, aber du errettest ihn vom Tode" (Sprüche 23, 13-14) und "Wen der Herr lieb hat, den züchtigt er" (Hebräer 12, 6) dienten zur Rechtfertigung.

Ein klassischer Vertreter des evangelischen heimpädagogischen Praxiswissens war der Leiter des Erziehungsheims Oberbieber, der Theologe Gerhard Fangmeier (1900-1985). Er schöpfte aus einem offensiv vertretenen Praxisbezug, den er in seine Ausführungen immer wieder einfließen ließ. Fangmeier schrieb im seit 1952 erscheinenden "Handbuch der Heimerziehung" den Artikel "Die Seelsorge für Kinder und Jugendliche, insbesondere für die männliche Heimjugend". Er unterteilte die ihm im Heim Oberbieber anvertrauten Kinder und Jugendlichen anhand einer wertenden Charakterpsychologie. In einem Vortrag über "Jugendkriminalität aus der Sicht des Theologen" zählte Fangmeier 1965 drei Typen von jugendlichen Delinquenten auf, die er mit biblischen Gleichnisgeschichten umschrieb: den "Labilen", den "Verhärteten" und den aus "sexueller Triebhaftigkeit" Abweichenden.

"Zur Demut bringen"

Der "Labile" als wurzelloser Mensch ohne Ausdauer und Stetigkeit, der im Heim zum Weglaufen tendiere, wurde nach seiner Sicht im biblischen Gleichnis vom verlorenen Sohn beschrieben. Hier plädierte er nicht für Strenge, sondern für die "liebevoll geöffneten Arme des Vaters", die eine Verhaltensänderung herbeiführen würden. Allerdings gebe es zur Heimpraxis hier auch eine Bruchstelle, denn man dürfe die Jugendlichen nicht einfach ziehen lassen. Die "Verhärteten" mit den Merkmalen "Egoismus", "Enttäuschtheit" und "Zynismus" wurden von ihm als "Judasnaturen" bezeichnet. Dieser Typus müsse, anders als die zuvor beschriebenen "verwahrlosten Labilen", nicht hinaufgezogen werden, sondern im Gegenteil aus seiner "vermessenen hoffärtigen Haltung, aus seinem Herrenmenschentum heruntergedrückt werden und zur Demut gebracht werden". Die Erzeugung von "Herzensdemut" sollte durch das Vorbild von Menschen mit "innerer Hoheit", mit "klarer und gutherziger Seele" erfolgen, die er zum Beispiel in einer älteren Schwester erkannte, die mehr als zwanzig Jahre in Oberbieber gearbeitet hatte.

Eine dritte Ursache "jugendlicher Verfehlungen" erkannte Fangmeier schließlich in der "ungezügelten Sexualität", welche durch "den weitgehenden Sittenverfall allerdings nicht groß auffällig" würde. Hier sah er eine Ursache von "Sünden-, Schuld- und Angstgefühl, das bis zur Verzweifelung gehen kann". Er betrachtete dies als die in der Bibel beschriebene "Urangst", welche aus dem Verstoß gegen "Gottes Schöpfungsordnung" resultiere. Jugendliche Sexualität erhielt darin die Zuschreibung von "Mißbrauch mit dem Bewußtsein des Frevels".

Das Credo des Theologen verschob dabei pädagogische, psychologische und heilerzieherische Fragen in eine Glaubensdimension. So sehr sich Fangmeier dabei des Beifalls der zeitgenössisch nach einem evangelischen Profil der Heimerziehung suchenden Praktiker sicher sein konnte, denen er dieses auf Fortbildungsveranstaltungen vortrug oder in den "Fortbildungsbriefen" des Evangelischen Erziehungsverbandes näher brachte, so wenig konkret waren seine Ratschläge. Trotz aller psychologischen und psychotherapeutischen Erkenntnisse, mit denen Fangmeier in Verbindung kam und die er offenbar auch anwendete, blieb für ihn die schon erwähnte Charakterologie entscheidend. Dabei kombinierte sich eine phänomenologische Typenbildung aus dem eigenen Erfahrungswissen mit einer wertenden Charakterbeschreibung der Kinder und Jugendlichen.

"Totale Institution"

Entscheidend blieben für die evangelischen und die anderen Erziehungsheime die vom Soziologen Erving Goffman als typisch herausgestellten Merkmale einer "totalen Institution", wie ein auf das Heim begrenztes soziales Milieu, die Abhängigkeit der Zöglinge vom Personal, der eingeschränkte Kontakt zur Außenwelt, der Mangel an psychischer und physischer Integrität sowie insbesondere die Anpassung an reibungslose Abläufe der Institution. Dies wurde durch die spezifisch theologische und religionspädagogische Argumentation der Fünfzigerjahre gestützt und bestenfalls in Ansätzen hinterfragt. So vom Leiter des bayerischen Evangelischen Erziehungsverbandes, Ernst Nägelsbach, der 1950 zwar das "Strafamt" des Erziehers verteidigte, doch auf Comenius verwies, der einen Erzieher, der schlage, mit einem Musiker verglichen habe, der sein ungestimmtes Instrument mit Fäusten bearbeite. Die bisherigen Erkenntnisse über evangelische Erziehungsleitbilder markieren erst seit dem Beginn der Sechzigerjahre einen Wandel in den theologischen und religionspädagogischen Konzeptionen von der "Zucht" zur "Selbstverwirklichung".

Wenige Veränderungen drangen bis Mitte der Sechzigerjahre in die Praxis der Heimerziehung ein, wie sich an den problematischen Themen der Strafen, der unzureichenden Schulausbildung der Heimkinder, der verengten Berufsausbildungen (besonders bei Mädchen), der mangelhaften Sozialversicherung im Heim und der bis Ende der Sechzigerjahre stark reglementierten Freizeit zeigte.

Die Heimkampagnen der Außerparlamentarischen Opposition seit 1969 kritisierten gerade diese Defizite der Heimerziehung. Dies nutzten die Reformer im evangelischen Feld, um sich zumindest programmatisch durchzusetzen. Die Denkschrift des Evangelischen Erziehungsverbandes von 1970 "Zur Lage der Heimerziehung" markierte eine solche "umfassende Neudurchdenkung und Neugestaltung der Arbeit". Die Erziehung "unter dem Gesetz" wurde durch den Anspruch auf eine Erziehung "unter dem Evangelium" abgelöst, also die Orientierung an Gehorsam und Disziplinierung sowie einer zum Teil rigiden Strafpädagogik durch eine therapeutische Intervention im Sinne heilender Hilfen zur Persönlichkeitsbildung ersetzt. Auf diese Weise wurde auch die religiöse Erziehung von Zwangskomponenten befreit und als freies Angebot religiöser Lebensdeutung verstanden. Bis sich dieser Wandel allerdings auch in der Praxis evangelischer Heimerziehung durchsetzte, dauerte es vielerorts bis in die Achtzigerjahre. Noch 1978 war in einem Heim in Hannover das versteckte Untermischen von sedierenden Medikamenten in die Nahrung erziehungsschwieriger Jugendlicher nachweisbar. Literatur

Bernhard Frings/Uwe Kaminsky: Gehorsam-Ordnung-Religion. Konfessionelle Heimerziehung in der Bundesrepublik 1945-1975, Aschendorff Verlag, Münster 2012, 596 Seiten, Euro 39,80.

Uwe Kaminsky

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