Vergangenheiten

Dostojewskis Aufzeichnungen "Aus einem Totenhaus"
Foto: pixelio/Dietmar Meinert
Sollen wir - den Satan einmal metaphorisch genommen - zustimmen, auch wenn uns die aufklärerische Moderne längst auf die Seite des Erasmus gezogen hat?

Auch wer sich auf seine Literaturkenntnisse etwas einbildet, findet auf seiner inneren Karte gelesener Werke der Weltliteratur weiße Flecken. Bei mir war einer von ihnen Dostojewskis Aufzeichnungen "Aus einem Totenhaus". Ich fand das Buch neulich in einem Buchtauschregal, nahm es mit, schlug es kurz darauf im ICE auf: 1930 hatte jemand seinen Namen auf die Vorsatzseite gesetzt, ein anderer Eintrag gab darüber Auskunft, dass das Buch im Jahre 1976 für drei DM auf einem Erntebasar feilgeboten wurde. Antiquarische Bücher enthalten ja oft solche Andeutungen ihrer eigenen Geschichte, kleine Blinklichter aus der unendlichen Vielfalt der Vergangenheiten.

Dostojewskis im Totenhaus geschilderte Vergangenheit liegt in den Fünfzigerjahren des 19. Jahrhunderts, Ort ist das zaristische Russland (das Buch entstand 1860). Die Vorgeschichte: Fjodor Dostojewski, 1821-81, wurde 1850, weil er ein angeblich verbrecherisches politisches Schreiben des Literaturkritikers Belinski weitergegeben hatte, zum Tode verurteilt; erst vor dem Erschießungspeloton erfuhr er von seiner Begnadigung. Es folgten vier Jahre Zwangsarbeit - vier Jahre mit Ketten an den Füßen - danach Militärdienst, er wurde gar noch Offizier, erst 1859 erhielt er wegen seiner immer stärker sich manifestierenden Epilepsie den Abschied.

Das Lagerleben selbst schildert Dostojewski fast durchgehend mit kühler Distanz; seinen eigenen Leiden widmet er gerade so viel Aufmerksamkeit wie denen anderer Gefangener. Als Adliger hatte er immerhin das Privileg, von der stets drohenden Prügelstrafe befreit zu sein: Bis zu dreitausend Stockschläge konnten beim Spießrutenlaufen verabreicht werden; drohte der Misshandelte zu kollabieren, wurden einige Tage zur Erholung bis zur Fortsetzung eingeschaltet.

Das alles, die Schikanen des Lagerverwalters, die Listen der Insassen, ihre je eigene Weise, mit ihrem Schicksal fertig zu werden, die Härte der Lebensumstände, für die pars pro toto die dünne Suppe stehen mag, in der reichlich Kakerlaken schwammen, die bescheidenen Freuden der Gefangenen, etwa, wenn sie einmal ein Theaterstück aufführen dürfen: Dem Leser droht das alles, im Nachhinein, zu verschmelzen mit anderen Erinnerungen von Menschen, die in Lagern gelitten haben, sei es eines des Gulag oder ein nazideutsches KZ.

Es ließe sich daraus eine Typologie des Lagerlebens entwickeln, eine Verhaltenslehre des Menschen unter erniedrigendem Druck. Oder es ließen sich deprimierende Betrachtungen darüber anstellen, dass die übelste Zwangslager-Konjunktur noch nicht lange zurückliegt, dass es nicht danach aussieht, als würde sie jemals ganz enden: Es zeigt sich im Großen wie im Kleinen eine krude Konstante und Kontinuität im Strafen-, Unterdrücken- und Quälenwollen.

Und das Positive? Wo ist es zu finden angesichts der Erkenntnis, dass der "ganz normale" Mensch in der Regel - nur oder immerhin? - eine plausible Begründung, Rechtfertigung oder nur Straffreiheit braucht, um aus dieser seiner Normalität herauszufallen und sich der "Unmenschlichkeit" hinzugeben? - Wie sagte doch Luther: "So ist der menschliche Wille in die Mitte gestellt zwischen Gott und Satan wie ein Zugtier ... Wenn sich Satan darauf gesetzt hat, will und geht er, wohin Satan will ..." (De servo arbitrio)

Sollen wir, den Satan einmal metaphorisch genommen, dem zustimmen, auch wenn uns die aufklärerische Moderne längst auf die Seite des Erasmus gezogen hat? In dem Anstoß, über die grundlegenden Fragen des menschlichen Lebens erneut nachzudenken und darüber im Spiegel des Vergangenen das Gegenwärtige zu entdecken, darin liegt, will mir scheinen, das Lohnende solcher Lektüre. 

Helmut Kremers

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