Schöpfungsklang und Christuslied

Hildegard von Bingen und Martin Luther teilten die Hingabe an die Musik
Inspiration der Hildegard, Holzschnitt, 1524. Foto: akg-images
Inspiration der Hildegard, Holzschnitt, 1524. Foto: akg-images
Hildegard von Bingen und Martin Luther hörten den Heiligen Geist in der Musik am Werk. Beide waren kompositorisch tätig und setzten dabei eigene Akzente. Peter Bubmann, Professor für Praktische Theologie in Erlangen, erörtert Unterschiede und findet überraschende Gemeinsamkeiten.

Lehrer ihrer Kirche sind sie beide: die Seherin Hildegard von Bingen, die 2012 offiziell heilig gesprochen und in den Rang einer Kirchenlehrerin erhoben wurde, und Martin Luther, dessen Thesenanschlag sich 2017 zum 500. Mal jährt. Im Themenjahr 2012 geht es innerhalb der "Lutherdekade" um das Verhältnis von Musik und Reformation. Haben sich die Meisterin und der Meister der Theologie in Sachen Musik etwas zu sagen? Es fällt auf, dass beide sich auch komponierend betätigt haben und dabei durchaus eigene und neue Akzente setzten. Luther gelang mit seinen Liedern ein solch durchschlagender Erfolg, dass er noch heute zu den meistabgedruckten und -gesungenen Liedermachern im Gesangbuch zählt. Damals wie heute begegnen breitere Bevölkerungskreise der Theologie Luthers zunächst oder sogar ausschließlich über seine Lieder.

Eine solch jahrhundertelange Erfolgsgeschichte als Liedermacherin kann Hildegard von Bingen nicht aufweisen. Dazu eignen sich die musikalischen Formen, in denen sie komponierte, auch weniger: Antiphonen, Responsorien, Sequenzen und Hymnen, das heißt, eine meist einstimmige, frei schwingende Musik mit lateinischem Text zum gottesdienstlichen Gebrauch.

"Laus Trinitati, quae sonus et vita ac creatrix omnium in vita ipsorum est." ("Lob sei der Dreieinigkeit! Sie ist Klang und Leben, Schöpferin des Alls, Lebensquell von allem") An dieser Antiphon der Hildegard wird deutlich, dass Musik das Lob des Dreieinigen Gottes zum Klingen bringt. Zum anderen wird der Dreieinige Gott in dieser Antiphon als "Klang" und "Leben" bezeichnet.

Klingender Kosmos

Das ist eine Wendung, die für die Musikanschauung der Hildegard charakteristisch ist. Wo Protestanten das Wort erwarten würden, steht bei Hildegard oft der Klang und noch öfter die Schau der Visionen. Gott wird als Klang und als Licht wahrgenommen. Und die Schöpfung wird als tönende Schöpfung beschrieben. Hildegards schöpfungstheologische Musikanschauung steht in einer langen mittelalterlichen Tradition der Musikphilosophie und -theologie, die wiederum ihre Wurzeln in griechisch-antiken Vorstellungen vom klingenden Kosmos und von der Harmonie der Sphären hat. Den gedanklichen Hintergrund dieser Tradition bildet die Idee, dass Makro- wie Mikrokosmos, also die ganze Schöpfung im Großen wie im Kleinen, durch bestimmte Gesetzmäßigkeiten bestimmt ist, die mit den Gesetzen der Musik identisch sind. Die Gesetzmäßigkeiten des Kosmos, die seelische Harmonie im Menschen und die menschliche Instrumental- und Vokalmusik hängen zusammen, sie alle sind auf eine übergeordnete Harmonie hin orientiert. Hildegard erinnert daran, dass die menschliche "Seele der himmlischen Harmonie entstammt". Sie hört nicht nur im gesamten Kosmos den guten Klang der Schöpfung Gottes. Für sie ist Gott selbst der Urklang des Lebens, sein schöpferischer Lebensgeist klingt und tönt. Durch sein tönendes Wort hat Gott die Schöpfung zum Leben erweckt. Gott ist der Urklang des Lebens - und Hildegard öffnet sich ihm als prophetische Hörerin der göttlichen und geschöpflich-kosmischen Urharmonie. Hier wird deutlich: Hildegards harmonisch-symphonisches Weltbild zehrt noch vom unerschütterlichen Vertrauen in die theologische Schöpfungslehre des Mittelalters: Die Welt ist das Werk Gottes und Gott lässt sich in der Welt erfahren.

Die geistige Situation zur Zeit Luthers ist bereits eine andere: Die Einheit des Weltbildes mit seiner harmonischen Zuordnung von Gott, Mensch und Natur beginnt zu zerbrechen. Die Freiheit und Macht des Menschen rückt ins Zentrum der Überlegungen. Nicht mehr die Harmonie des Kosmos, sondern das Heil und die Erlösung der Menschen bestimmen das Denken der neuzeitlichen Theologen. Martin Luther steht im Übergang zwischen dem mittelalterlichen Weltbild und der neuzeitlich-modernen Entgöttlichung des Kosmos. In einem Vorwort zu einer von dem Buchdrucker Georg Rhau herausgegebenen Sammlung geistlicher Gesänge schreibt er im Jahre 1538 über die Kunst der Musik: "Erstlichen aber, wenn man die Sache recht betrachtet, so befindet man, dass diese Kunst von Anfang der Welt allen und jeglichen Kreaturen von Gott gegeben, und von Anfang mit allen geschaffen, denn da ist nichten nichts in der Welt, das nicht ein Schall und Laut von sich gebe." Die Musik ist eine der köstlichsten Schöpfungsgaben, eine "köstliche, nützliche und fröhliche Kreatur Gottes". Luther nimmt also den Gedanken der tönenden Schöpfung auf. Ihn interessieren jedoch nicht die spekulativen mittelalterlichen Theorien über eine Harmonie der Sphären und auch nicht die symphonische Harmonie des Menschen mit dem Kosmos, und vor allem wird Gott selbst nicht als "Urklang" beschrieben. Luthers Zielrichtung ist eher eine existentielle und ethische: Die Menschen sollen die Schöpfungsgabe Musik zum Lobe Gottes und zum eigenen Nutzen richtig gebrauchen, "zu Gottes Ehre und Recreation des Gemüths", wie es Johann Sebastian Bach zwei Jahrhunderte später formuliert hat.

Luthers Protestsong

Martin Luther fand seinen Zugang zur Musik nicht durch eine prophetische Schau oder durch Meditation. Er erhielt in der Lateinschule eine musikalische Grundausbildung und war bereits als Schüler beim so genannten Currendesingen beteiligt, zog also singend von Haus zu Haus, ähnlich wie es heute noch die Sternsinger tun. Als Student der Jurisprudenz ließ er bei den Studentenfeiern gerne seinen hellen Tenor erklingen und griff zur Laute. Seine Begeisterung für die Musik verlor sich auch in den späteren Jahren als Professor der Theologie und als Reformator nicht. Bekannt ist Luthers Wort: "Ich gebe der Musik den ersten Platz nach der Theologie." Ihm waren die Grundregeln der Kompositionskunst seiner Zeit geläufig, und er schrieb sogar selbst einen mehrstimmigen Motettensatz.

Der Impuls zu seinem kompositorischen Liedschaffen war jedoch kein innerer ästhetischer Drang zum künstlerischen Ausdruck, sondern ein äußerer kirchenpolitischer Anlass: Zwei junge Augustinermönche hatten sich im Jahre 1523 zur Sache Luthers bekannt. Daraufhin wurden sie zu Ketzern erklärt und öffentlich auf dem Marktplatz zu Brüssel verbrannt. Aller Wahrscheinlichkeit nach hat der Schock über dieses Ereignis Luther zum Liedermacher werden lassen. Sicherlich spielte auch sein Gespür für die Nutzung der Medien zur Verbreitung seiner Sache eine wichtige Rolle. Flugblätter konnten seinen Protestsong über diesen ersten Märtyrertod der Reformation rasch und wirkungsvoll unter die Leute bringen.

Luther griff daher Anfang August 1523 zur Feder und dichtete sein "Lied von den zwei Märtyrern Christi, zu Brüssel von den Sophisten von Löwen verbrannt". Dieses Lied war einerseits ein politischer Protestsong im heutigen Sinn; es agitierte gegen die Feinde des Evangeliums, benannte anklagend Unrechtszustände. Zum anderen war das Lied im ursprünglichen Sinn des Wortes ein Protest; ein Eintreten für eine Sache, von der man überzeugt ist, ein flammendes Zeugnis des Glaubens. In diesem Sinne könnte das gesamte Liedschaffen Luthers unter dem Titel "Protestsongs des Glaubens" zusammengefasst werden.

Musik als Medium

Sein Zugriff auf die Musik ist hier ein genuin neuzeitlicher: Musik wird als Medium der Kommunikation benutzt und gezielt eingesetzt. Alle Medien und Künste sollten zur Ausbreitung des Evangeliums herangezogen werden. Von der Wirksamkeit der Lieder im Dienst des Evangeliums überzeugt, versuchte Luther bereits 1523, Mitstreiter, Texter und Komponisten zu finden, die deutschsprachige Gemeindelieder - und zwar Psalmvertonungen - schreiben sollten. Der wahre Glaube drängte nach seiner Meinung zum Weitersagen und Weitersingen. Die Verbindung von "singen und sagen" war typisch für Luther. In seinem bekanntesten Weihnachtslied heißt es: "Vom Himmel hoch, da komm ich her/ich bring euch gute neue Mär/Der guten Mär bring ich so viel/davon ich singen und sagen will." Luther wollte "dem Volk aufs Maul schauen", ihm das Evangelium in den Kommunikationsformen des einfachen Mannes und der einfachen Frau zusagen. Deshalb die deutschen Texte, zu denen er auch durch das Vorpreschen des schwärmerischen Reformators Thomas Müntzer provoziert worden war, der bereits Anfang 1523 den bislang lateinischen Gottesdienst vollständig in deutsche Texte und Lieder übertragen hatte. Es gelang Luther, meisterliche sprachliche Ausdruckskraft mit Popularität zu verknüpfen und passende volkstümliche Melodien zu finden oder zu erfinden, die für die rasche Durchsetzung seiner Lieder sorgten. Die Hochschätzung der Musik war bei Luther keineswegs allein auf das gottesdienstliche Lied beschränkt. In einer Äußerung aus einer Tischrede lobte Luther die Musik des zeitgenössischen Komponisten Josquin Desprez: In ihr predige Gott das Evangelium durch die Musik. Wobei Luther nicht die vertonten Texte meinte, sondern die Kunst der Komposition.

Einige Äußerungen der Hildegard scheinen in eine ähnliche Richtung zu weisen. In einem Brief an die Mainzer Prälaten plädierte sie unter Berufung auf Psalmstellen für die Einbeziehung der Musikinstrumente ins Gotteslob. Das war ungewöhnlich, weil normalerweise zur Zeit Hildegards im Gottesdienst primär gesungen wurde und weltliche Instrumente wie Flöte oder Laute nicht zum Gottesdienst zugelassen waren. Wie es im 12. Jahrhundert nicht anders zu erwarten war, würdigte Hildegard die Instrumentalmusik lediglich in ihrer Funktion als Begleitung für den religiösen Gesang. Von einer eigenständigen theologischen Bedeutung künstlerischer Instrumentalmusik wusste sie noch nichts zu sagen.

Sieht man sich die Inhalte der Lieder und Gesänge an, fallen weitere erhebliche Unterschiede zwischen Luther und Hildegard auf: Die meisten der 77 Gesänge der Hildegard von Bingen, die in ihrem Buch der Lieder gesammelt vorliegen, widmeten sich der Jungfrau Maria, an zweiter Stelle folgten Gesänge über Heilige und Märtyrer, dann über Propheten, Patriarchen und Apostel. Einige der wertvollsten Texte besingen den Heiligen Geist und die göttliche Weisheit. Von Christus, von seiner Fleischwerdung und seinem Erlösungswerk handelt ausdrücklich hingegen nur ein einziger der Gesänge (O Vis Aeternitatis), daneben ist lediglich in den Liedern der Jungfrauen von Christus als Gemahl und Tröster die Rede. Für Luther hingegen stehen die Christuslieder zu den Festtagen Weihnachten und Ostern im Zentrum seines Schaffens: "Nun komm, der Heiden Heiland", "Gelobet seist du, Jesu Christ", "Christ lag in Todesbanden" und "Jesus Christus, unser Heiland, der den Tod überwand", um nur einige zu nennen. Dazu kommen drei wichtige Lieder über den Heiligen Geist, viele Psalmlieder und einige Sakraments- und Katechismuslieder.

Geist am Werk

Hildegard wie Luther hörten den Heiligen Geist in der Musik am Werk. Klingend salbte und heilte der Geist Gottes die Wunden, tröstete und verhalf zum Leben. Martin Luther hat diese seelsorglich-heilende Kraft der Musik in vielerlei Situationen der Krankheit und Bedrängung in ganz besonderer Weise erfahren und beschrieben. Er rühmte die Musik, "weil sie die Seelen fröhlich macht" und vor den Anfechtungen des Teufels schützt. Mit dieser Zielrichtung hatte Martin Luther auch das Lied "Ein feste Burg ist unser Gott" geschrieben. Dieses Lied war eine sehr freie Übertragung von Psalm 46. Es erschien 1529 unter dem Titel "Ein Trostlied" und war also weniger das Trutzlied der Reformation mit antikatholischer Spitze, als das es heute oft verstanden wird. Es ging um den Trost, dass der eine Jesus Christus für die angefochtenen Christen und die bedrängte Christenheit streitet. Die Musik hatte für Luther wie bereits für Hildegard nicht nur eine psychisch wohltuende Wirkung für den Einzelnen. Sie war auch von Bedeutung für das soziale Miteinander der Menschen, sie hatte eine ethische und pädagogische Dimension. Weil die Musik die menschlichen Affekte beherrscht und steuert, konnte sie das Zusammenleben auch zum Guten hin wenden. Nicht zufällig handelte Hildegards einziges Musikspiel, das Stück "ordo virtutum", vom Kampf der Kräfte und Tugenden um die Seele.

Charakteristisch für Hildegard wie für Luther ist, dass beide fast ausschließlich die positiven Kräfte der Musik beschreiben. Lediglich in Nebensätzen deutete Luther an, dass es auch verderbliche "Buhllieder und fleischliche Gesänge" gebe, schädliche Musik "wider die Natur", von der man die Jugend durch das lockende Angebot guter Musik abhalten sollte.

Ob sich bei so viel Harmonie im musikalischen Dialog zwischen Hildegard von Bingen und Martin Luther neue Chancen für die Ökumene ergeben, bleibt abzuwarten. Die Musik in der Kirche hat schon immer beides geboten: Möglichkeiten zur konfessionellen Selbstprofilierung wie zur grenzüberschreitenden Artikulation des Gemeinsamen.

Peter Bubmann

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Peter Bubmann

Peter Bubmann ist Professor für Praktische Theologie (Religions- und Gemeindepädagogik) im Fachbereich Theologie an der Friedrich Alexander Universität Erlangen.


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