MS Abendland

Bob Dylans "Tempest"
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Dylan in seiner ganzen dichterischen Kraft. So viel Abendland und Untergang, fokussiert mit der Verve biblischer Underworld-Visionen. Toll.

Mit diesem Album kommen wir über den Winter, jeden Winter. Generationen nach uns auch, wenn sie mit ihrem Sehnsuchtstreck nach Westen ziehen, wo die Sonne weiterhin bloß untergeht. "Tempest" ist Bob Dylans 35. Platte, genau fünfzig Jahre nach seiner ersten erschienen.

So viel Zeit, so viele Songs, so viel erlebt, gespürt, begrüßt, verdammt. Wie oft sind wir umgezogen? Kinder wuchsen auf. Die Süße unvergessener Nächte hängt als schwerer Duft in den Kleidern, und Narben blieben. Sie leuchten scharlachrot, wenn wir spät nach draußen gehen, der Mond voll ist: "Nachts, vorm Haus, da wusch ich mich -/Grobgestirnter Himmel strahlt./Auf der Axt, wie Salz, steht Sternenlicht./Hier die Tonne: randvoll, kalt." Der Sound luftig wie auf Folk- und Jazzalben aus Dylans ersten "Columbia-recording-artist"-Jahren, die Musikfarben reichen vom fröhlichen Country-Swing schwerer Zeiten ("Duquesne Whistle"), purem Rock'n'Roll, kräftigem Slap-Blues ("Early Roman Kings") und Mörderballaden bis zu dem entspannt walzenden "Tempest", das den Untergang der Titanic zum Lebensgleichnis macht. Ein fast 14-minütiges Song-Gedicht steht in einer Reihe mit den überlangen "Desolation Row" und "Highlands" früherer Jahre und bietet Dylans starkem Songwriting allen nötigen Platz, den er mit großväterlichem Kratzen in der Stimme füllt. Erzähler ist der Mond und die Geschichte trotz ihres langen Atems und vieler Details so verdichtet wie in seinem bloß zweieinhalbminütigen Klassiker "All Along the Watchtower". Den und dessen biblischen Hintergrund - nämlich die Untergangsvision aus Jesaja 21, "Tempest" - lässt ein mehrfach auftretender Wächter anklingen: "The watchman, he lay dreaming/The Damage had been done/He dreamed the Titanic was sinking/And he tried to tell someone." Der Kapitän weiß, dass die Katastrophe unabwendbar ist, und denkt daran, wie er einst die Offenbarung las - "and he filled his cup with tears". Und wer die Geschichte verstehen will, begreift: "There is no understanding/On the judgement of God's hand." Dylan in seiner ganzen dichterischen Kraft. So viel Abendland und Untergang, fokussiert mit der Verve biblischer Underworld-Visionen. Toll.

Darüber hinaus Stories über die Liebe, Verluste, Dramen, blutige Eifersucht, doch immer entspannt "erlöst" könnte man auch sagen. Die Musik ist solide Handarbeit. Souverän, teils (man höre sich den Bass in "Tin Angel" an) minimalistisch, aber immer ihrer Wirkung und Wirksamkeit sicher. Das Album atmet den Geist alter wandernder Blueser, die nur mit ihrer Gitarre an staubigen Wegkreuzungen stehen und weitreichende Entscheidungen treffen. Ernst. Wahr. Was Religion bedeutet, ist hier zu begreifen. Ein archaisches Album, absolut auf der Höhe der Zeit.

Bob Dylan: Tempest. Sony Music.

Udo Feist

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