Gurkenkönig und Hechtsommer

Warum es sich lohnt, gute Kinderbücher zu lesen
Foto: pixelio/Dietmar Meinert
Kindliche Wirklichkeit - was soll das überhaupt sein? Jene in der Niederung? Die mit der kleinlauten Konnotation?

Vor kurzem wurde bei einer Kultursendung im Radio ein bekannter Schriftsteller gefragt, was für ein Buch er seinen Zuhörern zur Lektüre empfehlen würde. Nach kurzem Überlegen antwortete er: "Wenn man sich nicht zu schade ist, ein Kinderbuch zu lesen, dann würde ich ... empfehlen." Ein wenig kleinlaut fügte er noch hinzu: "Aber dafür sollte man sich auch niemals zu schade sein." Warum so kleinlaut? Und woher kommt überhaupt der Gedanke, man könne sich dafür zu schade sein? Dahinter steckt deutlich die Vorstellung, man verlasse beim Lesen eines Kinderbuchs die Höhen der Erwachsenenliteratur, um in die Niederungen der Kinderliteratur hinabzusteigen.

Nun wimmelt der Buchmarkt bekanntlich von Büchern, die Kinder entführen wollen in andere Realitäten. Nichtmenschliche Figuren mit sensationellen Fähigkeiten sind die wahren Helden; Gegenstände werden mit geheimen Kräften aufgeladen; außerirdische Existenzen kommen ins Spiel; Vampire, fantastische Tiere, dunkle Mächte sorgen für plakative Plots. Die Literatur wird hier zum Sondereinsatzgebiet für Sonderkräfte.

Wer das Kind wirklich ist, spielt keine Rolle. Kindliche Wirklichkeit - was soll das überhaupt sein? Jene in der Niederung? Die mit der kleinlauten Konnotation?

Bei einem Familienfest tritt der Onkel auf mit einer lustigen Nummer. Er stellt sich vor die bucklige Verwandtschaft, die am Tisch sitzt und Torte isst. Es ist die Oma, die Geburtstag hat, vor 75 Jahren wurde sie in Frankfurt geboren. Der Onkel spielt jetzt den Moderator, der auf dem Römer steht, umgeben von Menschenmassen, die zusammengeströmt sind, um live dabei zu sein beim World-Wide-Gratulations-Event für die Oma. Er schaltet sich ein in die großen Studios in Paris, Tokio und New York und schlüpft dann in die Rolle des dortigen Moderators, der die Glückwünsche zum 75. ausspricht, immer mit jeweiligem Akzent und bejubelt von den Leuten auf dem Römer alias bucklige Verwandtschaft.

Die kleine Anna, drei Jahre, geht während der Show immer wieder zum leibhaftigen Onkel hin, berührt ihn am Ärmel, starrt ihn an. Wer ist das? Bist du das, Onkel? Wer spricht hier so komisch? Was geschieht hier?, fragt sie den Ärmel. Die achtjährige Lara geht nach der Show zum Onkel und sagt: "Das warst alles du selber, Onkel!"

Beide müssen sich auf ihre Weise vergewissern, dass hier keine wirkliche Verwandlung stattgefunden hat. Sie wollen begreifen, was ist: Dass es immer dieselbe Person ist, die hier spielt. Denn es ist nicht selbstverständlich. Was eigentlich bedeutet Person-Sein, was bedeutet Ort, was bedeutet Spiel? Die Kinder fragen nach der Wirklichkeit, in der sie sich vorfinden. Was hat es auf sich mit dieser Wirklichkeit? Es ist die Frage nach dem Eigentlichen. Also die Frage, die die so genannten Erwachsenen sich auch stellen. Kinder können es nur besser.

Denn sie können Widersprüche als wahr empfinden, Logik und Rationalität zugunsten eines tieferen Wissens besser entbehren. Was sie wissen, besitzen sie nicht wie etwas, auf dem man sitzt, um nie wieder aufzustehen. Sie richten sich noch nicht ein in Weltanschauung oder Haltung. Zeit ist für sie ein Raum, nicht eine Straße, die abgeschritten werden muss bis zum (bitteren) Ende.

Gute Kinderbücher wissen das. Sie zeigen, dass der Weg zur Erkenntnis des Eigentlichen durch das Nadelöhr einer literarischen Sprache geht, die von Kindern verstanden werden kann. Wir pfeifen auf den Gurkenkönig von Christine Nöstlinger, Hechtsommer von Jutta Richter, Das Buch von allen Dingen von Guus Kuijer - es lohnt sich für jeden, solche Literatur zu lesen.

Tanja Jeschke

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