"Jesus wohnt nicht mehr hier"

Warum es in Nordwales viele Kirchen mit biblischen Namen gibt und warum sie jetzt geschlossen sind
Hinter den Häusern von Blaenau erhebt sich die Abraumhalde des Schieferabbaus. Foto: Martin Glauert
Hinter den Häusern von Blaenau erhebt sich die Abraumhalde des Schieferabbaus. Foto: Martin Glauert
Die walisischen Täler waren einst geprägt von freikirchlicher Frömmigkeit. Vor hundert Jahren nahm die größte Erweckungsbewegung des Landes hier ihren Ausgang. Davon ist heute nichts mehr zu spüren, wie der Mediziner und Autor Martin Glauert bei einem Besuch festgestellt hat.

Verwundert liest der Reisende die Ortsnamen. Durch Bethlehem und Bethesda geht die Fahrt durch Nasareth und Cesarea. Für einen Moment wähnt er sich im Heiligen Land. Doch der Dauerregen macht rasch wieder klar, dass man in den Tälern von Nordwales unterwegs ist. In den Dörfern finden sich erstaunlich viele Kirchen. Und auch sie tragen biblische Namen: Jerusalem Chapel, Salem, Tabor und Siloa. Alle aber sind verlassen und verbarrikadiert. Der Putz bröckelt, Scheiben sind eingeworfen, andere mit Holzbrettern zugenagelt. An der Eingangstür hängt eine schwere eiserne Kette mit Vorhängeschloss, der passende Schlüssel ist sicher längst verrostet. Wie kommt es, dass ausgerechnet in dieser einsamen Gegend so viele Gotteshäuser stehen? So viele - und so leer?

Nachdem der englische König Henry VIII. sich von Rom losgesagt hatte, um ungestört seinen Hochzeiten und blutigen Scheidungen nachzugehen, erklärte er sich 1534 kurzerhand selbst zum Oberhaupt der "Kirche von England". Später nutzten die frommen und mindestens ebenso eigenwilligen Waliser die Gelegenheit, nach ihrer Fasson selig zu werden, und schon bald sprossen die unterschiedlichen Gemeinden der "Nonkonformisten" wie Pilze aus dem Boden. Adamiten, Baptisten, Anabaptisten, Methodisten, Kongregationalisten, Enthusiasten, Independenten, Presbyterianer, Puritaner, Quäker, Sabbatarianer, Unitarier - die Liste ist nahezu endlos und veranlasste den französischen Philosophen Voltaire zu der spöttischen Bemerkung, die Briten hätten "hundert Religionen, aber nur eine Sauce".

So vielfältig die Gemeinden auch waren, ihre Kirchen, die "Chapels" heißen, sind sich von außen alle ähnlich. Schmucklos sind sie, unscheinbar und grau - wie der Himmel und wie der Schiefer, der Nordwales einst groß machte. Walisischer Schiefer bedeckte Häuser und Kathedralen auf allen Kontinenten, das Militärkrankenhaus von Kapstadt ebenso wie den Kölner Dom.

Gebet im Stollen

Die Arbeit der Bergleute war hart und gefährlich, wie man bei einem Besuch der ehemaligen Minen selbst erfahren kann. Dunkel und eng ist es unten, und unablässig tropft Wasser. Wie eine Spinne hing der "rock man" von der Decke einer Schieferkammer herab, ein Seil um die Hüfte geschlungen, und trieb mit einem Handbohrer Sprenglöcher in den Fels. Vier Kumpel arbeiteten jeweils als Team zusammen, zwölf Stunden täglich im Akkord, an sechs Tagen der Woche. Die langen Arbeitstage im Dunkeln, in stickiger, staubiger Luft, ruinierten die Gesundheit der Arbeiter.

Der zeitgenössische Besucher einer Schiefermine berichtete: "Sie arbeiten im Licht von rußenden Kerzen, die einen solch üblen Gestank verbreiten, dass sie mittags nicht essen können.” Viel Zeit blieb ihnen dazu nicht, lediglich eine halbe Stunde Pause, die sie im Caban verbrachten. Diese kleinen Steinhütten unter Tage waren sozialer und zugleich religiöser Brennpunkt, hier sprach man über verunglückte Arbeitskollegen, über Politik, sang und betete gemeinsam.

Der Caban unter Tage war ein Notbehelf, sozusagen die Außenstelle der Kirche über Tage. Oberirdisch, aber nicht überirdisch, spielte sich das Gemeindeleben in den Tälern ab. Die Sonntagsschule war für die Kinder nicht nur Ort der religiösen Erbauung, sondern häufig der einzigen Bildung, die sie erhielten. Hier lernten sie Lesen und Schreiben, da sie in der Woche arbeiten mussten und für den Schulbesuch keine Zeit hatten. Gemeinsames Singen, politische Meinungsbildung, dörfliche Feiern - all das geschah im Rahmen der Gemeinde, so dass man in den Tälern von einer "Chapel Society" sprach.

Foto: Martin Glauert
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Caban in der Mine von Llechwedd.

Foto: Martin Glauert
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Schieferarbeiter im Kirchenfenster.

Foto: Martin Glauert
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Tafel mit Größen und Färbungen der Schieferplatten.

Die Kapelle der Nonkonformisten stand dabei in erbitterter Rivalität zur Pfarrkirche der Staatskirche. Die anglikanische "Kirche von Wales" galt als die Kirche des Klassenfeindes, der englischen Landbesitzer und Fabrikherren, verbandelt mit der politischen Fremdherrschaft über Wales. Und vor allem: Hier wurde englisch gepredigt, in der Kapelle dagegen walisisch. Und diese Sprache ist bis heute identitätsbildend, in den Familien wird walisisch gesprochen, Englisch gilt dagegen als die erste Fremdsprache.

Sparen auf die Bibel

Nur so ist die anrührende Geschichte von Mary Jones zu verstehen, die hier in den Tälern jedes Kind kennt. Sie war die Tochter eines armen, aber strenggläubigen Wollwebers, der am Fuße des Cader Idris lebte. Nachdem sie in der Sonntagsschule Lesen gelernt hatte, sparte sie jahrelang all ihr Geld, um eine eigene Bibel zu kaufen. Eines Morgens im Jahr 1800 machte sie sich schließlich auf den Weg ins nächste Dorf. Vierzig Kilometer weit wanderte sie barfuß, um ihre Schuhe zu schonen. In Bala aber waren alle Bibeln ausverkauft.

In ihrer Verzweiflung wandte sie sich an den Pfarrer Thomas Charles, dessen Herz das fromme Kind erweichen konnte: Er überließ ihr seine eigene Bibel. Das Ereignis soll den Geistlichen so beeindruckt haben, dass auf seine Initiative hin die British and Foreign Bible Society gegründet wurde, die heute weltweit Bibeln verschickt, damit jeder Christ die Heilige Schrift lesen kann. Die Bibel der Mary Jones kann man in der Bibliothek der Universität Cambridge anschauen.

Ein weiteres Mal noch sollte Nordwales Kirchengeschichte schreiben. Wie ein Gewitter aus heiterem Himmel brach 1904 das Welsh Revival über die abgelegenen und beschaulichen Täler herein, die größte pietistische Erweckungsbewegung, die das Land je erlebt hatte. Wanderprediger erschütterten die Gemeinden mit Visionen von Hölle und Gnade und lösten damit eine Welle von Bekehrungen aus. Ihr wichtigster Protagonist war Evan Roberts.

Glaubensturm entfacht

Mit elf Jahren hatte er von der Schule abgehen und in einem Kohlebergwerk arbeiten müssen. Jeden Tag nahm der fromme Junge seine Bibel mit in den Schacht. Eine Explosion überlebte er wie durch ein Wunder, während sämtliche Kameraden um ihn herum getötet wurden. Und auch seine Bibel überstand das Unglück, wenn auch mit versengten Seiten.

Als 26-Jähriger taucht er in Nordwales auf und entfacht einen Glaubenssturm, der die einheimischen Pfarrer sprachlos macht. Dabei ist Roberts alles andere als ein brillanter Redner. Langsam und zögernd spricht er, mit einem seligen Lächeln im Gesicht. Ein amerikanischer Besucher notiert: "Was mich am meisten beeindruckte, war seine völlige Natürlichkeit, das Fehlen jeder Feierlichkeit. Die pure Glückseligkeit blubberte aus ihm heraus wie bei einem jubelnden Burschen in einem Baseballspiel."

Foto: Martin Glauert
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Werkzeug des "Splitters", der den Schiefer in feine Platten spaltete. Schiefer wird heute noch von Hand bearbeitet.

Foto: Martin Glauert
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In Blaenau sind viele Geschäfte geschlossen und fast alle Kirchen verbarrikadiert.

Roberts' Botschaft war einfach: Lasst ab vom Weg der Sünde und bekehrt euch zu Gott! Die nahezu massenhysterische Wirkung, die er ausübte, ist heute noch schwerer zu verstehen als damals. Die Leute bewegten nicht so sehr die Worte, sondern Roberts' Ausstrahlung, seine Visionen und der gemeinsame Gesang. Die Gottesdienste dauerten oft zehn Stunden lang, ohne Unterbrechung. So verloren die Besucher jegliches Gefühl für Zeit und Wirklichkeit. Ein Teil der Versammlung sang die Erweckungslieder in verzückter Andacht, während andere sich in Höllenqual auf dem Boden wälzten und um Gottes Gnade flehten. Ein Augenzeuge berichtet: "Es gab keinen Leiter, aber die Menschen fühlten eine unsichtbare Macht. Singen, Schluchzen und Beten wechselten sich unablässig ab."

Schlange vor der Kirche

Auf dem Höhepunkt der Bewegung blieben die Kirchen 24 Stunden am Tag geöffnet, sie waren so überfüllt, dass die Menschen davor Schlange standen. Bergarbeiter eilten nach ihrem zwölfstündigen Arbeitstag nach Hause, wuschen sich kurz, um so schnell wie möglich in die Kirche zu gelangen. Die Auswirkungen der neuen Frömmigkeit waren nicht zu übersehen. Die Kriminalitätsrate sank dramatisch, die Gefängnisse leerten sich, einige Polizeistationen sollen aufgelöst worden sein, um stattdessen einen Kirchenchor zu gründen. Kneipen, Tanzhallen und Theater verloren ihre Kunden, und sogar bei den beliebten Rugby-Spielen blieben die Zuschauer aus. Mehr als eine Million Menschen sollen sich allein in Großbritannien bekehrt haben, die Bewegung strahlte bis nach Skandinavien, Indien, Afrika, Australien und in die USA aus.

Kein Jahr war aber vergangen, da verlosch das Phänomen genauso plötzlich und unerwartet, wie es gekommen war. Es wurde wieder ruhig in den Tälern, die Menschen gingen ihren Geschäften und alten Gewohnheiten nach. Und Evan Roberts, der Leuchtturm der Bewegung, versank in tiefer Depression.

Das Welsh Revival war Höhepunkt und zugleich ein Wendepunkt für die Freikirchen in Wales. Danach ging es nur noch bergab. Zeitgleich brach die Schieferindustrie zusammen, Arbeitslosigkeit und Abwanderung waren die Folge. Von dieser Depression scheint sich auch Blaenau Festiniog nicht mehr erholt zu haben, das Herz der Schieferindustrie. Heute ist der Ort geprägt von Arbeits- und Perspektivlosigkeit. Viele Geschäfte stehen leer, die Schaufenster sind mit vergilbten Zeitungen tapeziert.

Arbeiterbilder in der Kirche

"Nearly new clothes", wirbt ein Laden, nur gebrauchte Waren können sich die Meisten hier leisten. Fast kein Mensch ist auf der Straße zu sehen, und am Sonntag ist die Stadt ganz tot. Eine Zeit lang noch hielten sich die Kirchen als Sozialzentren, veranstalteten Theateraufführungen, Konzerte, Ausflüge ans Meer. Dafür aber braucht es keine Kirchen. Die Gesellschaft ist längst aufgebrochen in eine säkulare Dämmerung, von der man nicht weiß, ob es die Morgenröte oder die Abendfinsternis ist. Viele Kirchen wurden in Spielhallen, Möbellager, Autowerkstätten umgewandelt.

Die anglikanische Pfarrkirche beherbergt ein ganz besonderes Juwel, das kaum jemandem bekannt ist. Sie ist vielleicht die einzige Kirche in der Welt, deren Fenster nicht nur Apostel und Heilige zieren, sondern Schieferarbeiter. Ganz realistisch arbeiten sie sich mit Handbohrer und Presslufthammer vor Ort in den Stein hinein, während der Kollege in Arbeiterjacke und Schirmmütze kunstvoll mit Hammer und Meißel den Schiefer spaltet, wie es nur ein Waliser vermag. Eine Referenz an die Menschen, deren Frömmigkeit und harte Arbeit diese Kirche möglich machten.

Zwei Tage hat es gedauert, um herauszufinden, wer die Schlüssel zur Kirche verwahrt. Denn Gottesdienste finden schon lange nicht mehr statt. Das Pfarrhaus ist verlassen, im Vorgarten hat der Wind den Müll zusammengetrieben. Nur eine Mutter mit Kinderwagen ist auf der Straße unterwegs. Sie rät, in der Kneipe zu fragen.

Hinter dem "Commercial" erhebt sich eine riesige Abraumhalde wie ein Gebirge, innen aber ist es noch trostloser. Der Fernseher läuft, und niemand spricht. Die junge Wirtin reagiert fast empört auf meine Frage nach dem Kirchenschlüssel, wie auf ein unmoralisches Angebot. "I do not go to church”, stellt sie eindeutig klar. Nur so viel weiß sie: Die letzte Pfarrerin hat schon vor langer Zeit ihre Koffer gepackt und ist "nach Holland abgehauen, wo sie herkam". Seitdem gibt es in ganz Blaenau keinen Gottesdienst mehr. "Jesus doesn't live here any more", sagt die Wirtin lakonisch und wischt mit dem Tuch über den Tresen. Jesus wohnt nicht mehr hier.

Martin Glauert

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