Hier stehe ich ...

Das Reformationsjubiläum sollte den Mut Martin Luthers herausstellen und würdigen
Da sage einer, man könne und würde aus der Geschichte nicht lernen: Beim Reformationsjubiliäum 1917 priesen deutsche Lutheraner Martin Luther als "deutschen Propheten", dessen Innerlichkeit ihn von "Welschen" und "verwelschten Deutschen", sprich: Katholiken und Kalvinisten, unterscheide.

An solche Verirrungen erinnert heute nur noch die Berliner Kirche, in der Margot Käßmann vor einem Monat als Reformationsbotschafterin der EKD eingeführt wurde. Sie ist nach Kaiser Wilhelm I. benannt, dem "Kartätschenprinzen", der 1849 in Rastatt die demokratische Revolution blutig niederschlug.

Käßmanns Weltläufigkeit garantiert, dass das Reformationsjubiläum 2017 kein provinzielles Ereignis wird. Und dass die EKD eine nationale und konfessionelle Engführung vermeidet, zeigte in Berlin die Anwesenheit des Schweizers Thomas Wipf, Präsident der Gemeinschaft Evangelischer Kirchen in Europa (GEKE).

Mitunter lernt man aus der Geschichte auch das Falsche, dass zum Beispiel der Stolz auf die eigene Nation und Konfession per se schlecht ist. Bei Käßmanns Einführung wurde kein einziges Lutherlied gesungen. Nur in einem Medley des Chores klang kurz "Ein feste Burg ist unser Gott" an. Dabei hätte es sich gehört, dass die Festgemeinde gemeinsam die "Marseillaise der Reformation" (Heinrich Heine) gesungen hätte - und zwar stehend.

2017 jährt sich ein Ereignis, in dessen Mittelpunkt nicht die Reformation im Allgemeinen und andere Reformatoren stehen, sondern ein Mönchlein und sein Anschlag von 95 Thesen an die Schlosskirche von Wittenberg. Die Erinnerung daran muss so gefeiert werden, dass es viele Zeitgenossen berührt, Lutheraner und Reformierte, Katholiken und Konfessionslose. Am 31. Oktober 1517 ist ein Einzelner seinem Gewissen gefolgt, dem, was er für wahr und richtig hielt, und hat dafür sein Leben riskiert. So taugt Luther auch heute als Vorbild. In der evangelischen Kirche versteckt mancher Amtsträger seine Meinung hinter frommen Floskeln, weil er Angst vor dem Streit hat - und dass ihm andere die Rechtgläubigkeit absprechen. Und wer in der römischen Kirche abweicht, riskiert nicht nur einen Karriereknick, sondern ein Lehrverfahren ohne rechtstaatliche Grundsätze - und als Strafe "Bußschweigen" und Entzug der Lehrerlaubnis. An diesem Punkt gewinnt die Erinnerung an Luther eine ökumenische Dimension.

Das Gebot Vater und Mutter zu ehren, umfasst auch die geistlichen Eltern. Und das heißt: Wie den leiblichen Vater kann man Luther verehren, ohne die dunklen Seiten seiner Persönlichkeit, Worte und Taten auszuklammern.

Eine Folge der Reform(en), die Luther anstieß oder fortführte, wenn man an die Vorreformatoren denkt, war die Spaltung der westlichen Kirche. Und dies wirkte sich nicht nur organisatorisch aus, sondern auch mental. So vergaßen Deutschlands Protestanten mit der Zeit, dass sie Teil der "einen heiligen katholischen Kirche" sind. Dieses Bewusstsein zu erneuern, muss ein wichtiges Ziel für 2017 sein. Lutheraner und Reformierte sollten sich in der römischen und anglikanischen Kirche umschauen und umhören und sich fragen: Was haben wir in und nach der Reformation zu Recht über Bord geworfen? Und was haben wir verloren, was sollten wir wiedergewinnen? Auch so bekäme das Reformationsjubiläum eine ökumenische Dimension.

Jürgen Wandel

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