Glaube ohne Denkverbote: Den Glauben zu denken und zu formulieren, vollzieht sich als Abschied von Dogmen, die der Machtausübung dienen. Gotthold Hasenhüttl, ehemals katholischer Priester und Universitätsprofessor, nahm Abschied von seiner Kirche, die ihn als Priester suspendiert und ihm die Lehrerlaubnis entzogen hatte. In seinem neuen Buch begründet er seinen Schritt, skizziert seine Sicht christlichen Glaubens und plädiert für einen Glauben als jesuanische Nachfolge ohne traditionelle dogmatische Vorgaben: "Jesus als Verkündiger meint: Befreiung von fixierten Lehren und jeder Art göttlicher Autorität."
Wo die Bibel über eine Gottesmacht berichtet, gilt es zu entmythologisieren und stattdessen auf die Erzählungen zu setzen, die von "Erfahrungen (berichten), die den Sinn des Lebens erschließen". Solche Erfahrungen des Guten und Heilenden eröffnen Heil, denn in ihnen wird die Wahrheit in Liebe erfahren. Hasenhüttl setzt Erfahrungstheologie gegen Jenseitsvertröstung und kämpft gegen alle Religiosität, die der Ehre nur eines einzigen Gottes dient. Jesuanische Ethik ist "ganz auf die Welt und den Mitmenschen bezogen". "Jesus ist Modell und Orientierungshilfe, aber kein Glaubensobjekt." Was er den Menschen ermöglicht, ist ein "Kommunikationsgeschehen", sich auf dem eigenen Weg zurechtzufinden. Es geht ihm um eine Jesuserfahrung, die humaneres Leben erschließt, entfremdetes Leben überwindet und Fremdbestimmung zu durchschauen hilft.
Religion dagegen sei "ein Überwachungssystem der Werteselektion". "Gott dient den Religionen zur Käfighaltung der Menschen. Fixierungen auf Lehrautorität ist Fesselung des freien Menschen. Der Käfig der Gebote, durch die der Mensch eingesperrt wird, verspricht ihm Heil." Weder Gottesoffenbarung noch mystische Innerlichkeit sind Grundlagen des Jesusglaubens. Hasenhüttl nennt mystische Formen der Religion "Verführungen", die Freiheit und Liebe pervertieren. "Nur im Lebensvollzug selbst erschließen sich Wert und Sinn." Das jesuanische Christentum ist weder Religion noch Mystik. Jesus hat keine Religion gegründet, auf seiner allumfassenden Liebe lässt sich kein System aufbauen. "Jesus lehrt im Hinblick auf alle Systeme einen absoluten Relativismus, weil alle Gesetze und Normen nur gelten, wenn sie dem konkreten Menschen dienen."
Unter diesem Vorzeichen beschreibt Hasenhüttl Jesu Stellung zu Recht und Staat, seine Nähe zu Außenseitern, zum Kreuzestod. Jesu Leiden nennt er "Ratifizierung dessen, was er in seinem Leben geworden ist", die "Konsequenz der gelebten Freiheit". Das hätten seine Jünger allmählich begriffen und wüssten nun, dass Liebe "der Index der Vermenschlichung des Todes und daher 'göttliches' Ereignis" sei. Auch hier spricht der Autor über Ausrichtung der Nachfolge entsprechend "jesuanischer" Erfahrung.
Kirche bedeutet für Hasenhüttl: Gemeinschaft der Glaubenden und nicht das "hierarchische Krebsgeschwür", als das er die katholische Kirche bezeichnet. Vor allem die geltenden Glaubenslehren über den Zölibat, die Einstellung zur Sexualität unterzieht er einer beißenden Kritik. Er geißelt den Absolutheitsanspruch der monotheistischen Religionen. Auch wenn das Zweite Vatikanum eine humanere Haltung formuliert habe, sei der Dialog nur peripher möglich. Im Grunde gelte die Formulierung Augustins, dass die nichtkatholischen Christen eine "verfluchte Menschenmasse" bildeten. Alle Religionen außerhalb der römisch-katholischen Kirche seien eine Vorbereitung auf das Christentum, sofern sie Gutes und Wahres erkennen. Nur die Hierarchie verfüge nach ihrem Selbstverständnis über die volle Wahrheit und entscheide, was bei anderen gut und wahr sei.
Mit "Glaube ohne Denkverbote" vertritt Hasenhüttl eine a-theistische Glaubensvorstellung, wie sie ähnlich in den frühen Schriften von Dorothee Sölle zu finden ist. Während Hasenhüttl jedoch als nicht existent bezeichnet, was von der Vernunft nicht zu erfassen ist, also keine Transzendenz jenseits der Rationalität anerkennt, warb Sölle für eine andere Art, Transzendenz zu denken: Der befreiende Christus hat die befreite Sicht auf Gott ermöglicht, der Widerspruch und Veränderung will, politische Arbeit und Einsatz für Befreiung.
Gott ist für die Vernunft nicht fassbar, insoweit ist der Ansatz Hasenhüttls zu akzeptieren. Aber deswegen muss Gott nicht als Machtprojektion abgetan werden. Vielmehr kann der Mensch weiter tastend nach dem Geahnten suchen und sich in die Erfahrungen vertiefen, die Glaubende mit Gott gemacht und weitergegeben haben.
Gotthold Hasenhüttl: Glaube ohne Denkverbote. Lambert Schneider-Verlag, Darmstadt 2012, 238 Seiten, Euro 24,90.
Manfred Kock