"Die leychen alle zu pulver"

Warum sich die Friedhofs- und Bestattungskultur dramatisch wandelt
Discount im Leben und im Sterben: Billigbestatter in Berlin. Foto: dpa
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Der Reformator Martin Luther hat vor fast 500 Jahren die Grundlagen für den Wandel in der Bestattungskultur gelegt. Die Jenaer Kulturwissenschaftlerin Barbara Happe gibt einen Überblick.

Zeichnet man die großen Entwicklungslinien der christlichen Bestattungskultur von der Reformation bis in die Gegenwart nach, zeigt sich, dass die epochalen Einschnitte und Reformen durch den Protestantismus bestimmt sind. Ausschlaggebend hierfür ist die Haltung der Protestanten. Für sie ist die Art der Bestattung ein Adiaphoron, also etwas, was dem Seelenheil nicht zuträglich und somit ethisch und sittlich neutral ist. Protestanten sind anders als Katholiken aus theologisch-dogmatischen Gründen nicht an feste Formen der Bestattung und des Grabes gebunden. Dies wiederum erlaubt ihnen einen unbefangenen Umgang mit Neuerungen, die in den allermeisten Fällen von den Protestanten selbst mit veranlasst wurden. Besonders deutlich wird diese Haltung in der Einstellung gegenüber der neuen Vielfalt der heutigen Bestattungskultur, der mit Offenheit und Flexibilität begegnet wird.

Vor fast 500 Jahren hat Martin Luther bereits die entscheidenden Grundlagen gelegt, welche langfristig die Bestattungskultur prägen und wesentliche Entwicklungen späterer Jahrhunderte vorwegnehmen sollten. Sie betreffen die Trennung von Grab und Kirche, die Haltung zur Feuerbestattung und den Ort des Grabes selbst, in der Natur außerhalb eines Friedhofes.

Bis zur Reformation bestand eine enge Verbindung zwischen Kirche und Grab, und die Toten wurden als Ausdruck einer übernatürlichen Gemeinschaft zwischen Lebenden und Toten, der communio sanctorum, auf den innerstädtischen Kirchhöfen begraben. Die aus der Reliquienverehrung erwachsene Fürsprache der Gläubigen bei Gott für das Schicksal nach dem Tod zog gewissermaßen die Gräber in den Wirkungsbereich des Altares. So speiste sich der Wunsch des mittelalterlichen Christen, in der Nähe der Märtyrergräber oder deren Reliquien begraben zu sein, aus dem Sicherheitsbedürfnis, sich der fortwährenden Fürbitte für das Jenseits gewiss zu sein. Das Begräbnis bei den Kirchen wurde schließlich von Karl dem Großen als Zeichen des christlichen Glaubens gefordert, und auf den Kirchhöfen entwickelte sich eine soziale Hierarchie der Grablagen, die man als visuelle Summa der Jenseitshoffnung bezeichnen kann.

Hygiene statt Nähe

Die Protestanten brachen nun mit der Vorstellung eines Fegefeuers und somit mit der wirksamen Handlung der Lebenden für die Toten, wodurch sich eine Nähe des Grabes zur Kirche oder selbst im Kircheninnern erübrigte. Martin Luther hat erstmals in seinem berühmten Traktat "Ob man vor dem Sterben fliehen möge" aus dem Jahre 1527, das er anlässlich einer Anfrage von Pastor Johann Hess und dem evangelischen Klerus in Breslau, wegen der dort grassierenden Pest, verfasst hatte, aus hygienischen Erwägungen empfohlen, die Begräbnisplätze außerhalb der Ortschaften anzulegen, wo bei er die Entscheidung den Ärzten überlassen wollte: "Auffs erst las ich das die Doctores der erztney urteilen und alle die des bas erfaren sind, obs ferlich sey, daß man mitten ynn stedten kirchhofe hat. Denn ich weis und verstehe mich nichts drauff, ob aus den grebern dunst odder dampf gehe, der die lufft verrücke. Wo dem aber also were, so hat man (...) ursachen genug, dass man den kirchhof ausser der stad habe."

Diese revolutionäre Ansicht wurde alsbald in die Tat umgesetzt: Im Laufe des 16. und 17. Jahrhunderts wurden vornehmlich - aber nicht ausschließlich - in protestantischen Regionen außerörtliche Begräbnisplätze angelegt. Eine bedeutende Neuerung war der Camposanto-Friedhof, ein all- oder mehrseitig von Arkaden oder Gruftbauten umschlossenes Begräbnisfeld. In den kreuzgangartigen Umgängen befanden sich die Grablegen und Gruften reicher Bürger, Ratsherren, Senatoren oder Vögte, die diese als Ersatz für ein Grab im Kircheninnern erhielten, ohne mit dieser privilegierten Lage eine Heilswirkung zu verbinden. Die oft prächtigen Camposanto-Friedhöfe fanden sich vorwiegend in den protestantischen Kerngebieten wie dem heutigen Thüringen, Sachsen und Sachsen-Anhalt.

Verbrennung in Betracht

Herausragend ist der heute noch sehenswerte "Stadtgottesacker" in Halle an der Saale, der im Laufe des 16. Jahrhunderts mit einem Geviert von 94 aufwändig geschmückten und ornamentierten Familiengruften umschlossen wurde. Im Zuge der Aufklärung erfolgten hygienische Eingriffe in das Bestattungswesen. Sie führten dann am Ende des 18. Jahrhunderts zu einer weiteren Zäsur in der Geschichte der Begräbnisplätze: Die innerstädtischen Kirchhöfe wurden geschlossen und neue Friedhöfe in weltlicher Trägerschaft außerhalb der Städte nach hygienischen Erkenntnissen und unter Aspekten von Funktionalität und Wirtschaftlichkeit eingerichtet. Im Laufe des 19. Jahrhunderts sollten zunehmend Architekten und Gartenkünstler die Gestaltung der modernen Friedhöfe prägen, welche zu Orten säkularer Erinnerungskultur wurden.

Auch mit seinen Äußerungen zur Kremation hat Martin Luther vorgegriffen, denn er zog sogar die Verbrennung der Leichen in Betracht. Im Zuge seiner hygienischen Überlegungen und in Anknüpfung an antike Traditionen des außerörtlichen Begräbnisses schrieb er: "Denn sie trugen sie nicht alleine hinaus, sondern verbrannten die leychen alle zu pulver, auff das die lufft ja auffs reinste bliebe." Wie gewagt diese Anmerkung Luthers war, lässt sich nur daraus ermessen, dass Karl der Große die Erdbestattung als eine genuin christliche Form der Bestattung dekretiert und die Leichenverbrennung 785 als "heidnische Sitte" unter Strafe gestellt hatte. Der Feuertod wurde während des gesamten Mittelalters nur als schwere Todesstrafe, insbesondere zur Hinrichtung von Ketzern praktiziert.

Traditionen können sich ändern

Als in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts ein erbitterter Kampf um die Einführung der Feuerbestattung einsetzte, verliefen die Fronten in dieser fast als "Glaubenskrieg" zu bezeichnenden Auseinandersetzung zwischen Katholiken einerseits und Protestanten und Materialisten andererseits. Während für die Katholiken zu diesem Zeitpunkt eine Feuerbestattung aus Gründen des Glaubens an die leibliche Auferstehung undenkbar war, war für die Protestanten die Frage, ob Erd- oder Feuerbestattung zwar von sittlich-moralischer Bedeutung, aber nicht von theologisch-dogmatischer Relevanz. Zwar gab es auch auf Seiten der Protestanten Vorbehalte und teilweise praktische Einschränkungen bezüglich der Beteiligung von Geistlichen an einer Feuerbestattung, aber im Kern verstößt sie nicht gegen grundsätzliche Glaubensfragen. Dies war auch der Tenor auf der Eisenacher Kirchenkonferenz im Jahre 1898, wo zwar Einwände gegen die Verbrennung erhoben wurden, aber nur insofern, als sie der christlichen Tradition der Körperbestattung, aber keinem Gebote Gottes und keinem Artikel des christlichen Glaubens an sich widerspreche. Denn der Glaube an die Auferstehung bleibe unberührt von dem, wie man mit der Zersetzung der entseelten Hülle verfahre. Und Traditionen sind bekanntlich wandelbar.

Die Feuerbestattungsbewegung am Ende des 19. Jahrhunderts wurde von Naturwissenschaftlern, protestantischen Bürgern und vereinzelt sogar von protestantischen Pfarrern getragen, die auch den größten Anteil an den Einäscherungen hatten. In den ersten beiden Jahrzehnten nach der Eröffnung des ersten Krematoriums im thüringischen Gotha im Jahre 1878 war der Löwenanteil der eingeäscherten Personen im deutschen Reich protestantisch, nämlich 83,5 Prozent. Kennzeichnend für den Zusammenhang von Konfessionszugehörigkeit und der Haltung zur Feuerbestattung war auch, dass die Coburger Landeskirche zum Zeichen ihrer Liberalität bereits 1907 die Feuerbestattung einführte. Heute beträgt in dieser Region der Anteil der Menschen, die sich einäschern lassen, über 80 Prozent. Die Feuerbestattung, die nun in Deutschland fast zwei Drittel der Bestattungen ausmacht, bietet nicht zuletzt die praktische Voraussetzung für die Vielfalt gegenwärtiger Bestattungsformen.

"In der Elbe oder im Walde"

Auch beim Ort des Grabes in der Natur, außerhalb des Friedhofes, hatte Martin Luther Prinzipielles vorgegeben. Er äußerte sich angesichts der ungepflegten Zustände auf dem Wittenberger Kirchhof, dass es nicht von Belang sei: "ob er ynn der Elbe oder ymm walde" begraben sei. Eine Homberger Synode hatte 1526 ebenfalls Grundsätzliches zum Ort des Grabes erklärt: "Es ist ungehörig zu glauben, das Begräbnis (an geweihter Stätte) trage etwas zum Heile bei. Denn es ist ganz einerlei, ob jemand auf freiem Feld oder auf einem Kirchhof beerdigt wird". Diese Auffassung, dass der Ort des Grabes theologisch nicht von Bedeutung ist, weswegen die Protestanten auch keine bischöfliche Weihe der Friedhöfe kennen, weil sie nicht zu den heiligen Dingen, den res sacrae, zählen, eröffnet nun langfristig völlig neue Perspektiven für die Wahl eines Grabes.

Eine der radikalsten und zugleich "erfolgreichsten" Abwendungen vom klassischen Friedhof schafft seit 2001 in Deutschland die Möglichkeit, sich in so genannten FriedWäldern, RuheForsten oder anderen Waldarealen beisetzen zu lassen. Diese von einem Schweizer Unternehmer nach Deutschland exportierte Idee stößt auf sehr große Resonanz. Hatte anfangs die Idee der Urnenbestattung in der Natur zu einem Aufschrei in beiden Kirchen geführt, da sie die Verbreitung naturreligiöser Vorstellungen fürchteten, wich die strikte Ablehnung alsbald einer differenzierten Haltung.

Die EKD hat sich angesichts der Pluralisierung und Individualisierung der Lebenswelten, die zu "tektonischen Verschiebungen" der religiösen Sinnwelten geführt habe, intensiv mit dem FriedWald befasst. In Erinnerung daran, dass es keine bestimmte Begräbnisform gebe, die sich zwingend aus der Bibel und dem christlichen Menschenbild ableiten lasse, gebe es auch keine prinzipielle Unvereinbarkeit mit einer Bestattung in einem FriedWald. Dieser müsse nur mit christlichen Grundüberzeugungen "kompatibel" gemacht werden, ja, er müsse gleichsam "getauft" werden. Konkret bedeutet dies, dass die ausgewiesenen Waldstücke als "friedhöfliche Flurstücke" gekennzeichnet werden, dass die Möglichkeit gegeben ist, den Namen der Verstorbenen an den Bäumen anzubringen und sie auf Wunsch mit christlichen Symbolen zu versehen. Die "Taufe" erfolgt nun dergestalt, dass vor allem die Protestanten versuchen, die Bestattungswälder mit Kreuzen und Bänken auszustatten, an denen Gottesdienste und Andachten abgehalten werden können. Die Wälder werden "christianisiert".

Für die Katholiken war die Feuerbestattung bis zum Zweiten Vatikanischen Konzil 1963 verboten. Und noch im Codex des kanonischen Rechts (Cic) von 1983 wird empfohlen, dass die "fromme Gewohnheit beibehalten wird, den Leichnam Verstorbener zu beerdigen". Die letzte Verlautbarung der Deutschen Bischofskonferenz (2005) "Tote begraben und Trauernde trösten - Bestattungskultur im Wandel aus katholischer Sicht" hat in der katholischen Kirche in Deutschland zu einer weiteren Öffnung gegenüber den veränderten Bestattungsformen geführt. Es erstaunt, dass gerade aus der Beharrung einer der ungewöhnlichsten neuen Bestattungsorte entstand, die Urnenkirchen. Die Möglichkeit für Laien, sich im Kircheninnern in Kolumbarien bestatten zu lassen, knüpft in unerwarteter Weise an die "Ad Sanctos"-Bestattung der vorreformatorischen Zeit an. Und auch wenn dieses Wissen selbst bei gläubigen Christen heute vielfach nicht mehr präsent sein mag, ist die Urnenkirche ein Erfolgsmodell, das großen Zuspruch findet.

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Barbara Happe

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