Verantwortung für das Ganze

Zu den blinden Flecken der EKD-Schrift über "Verantwortungseliten"
Evangelisch und Elite: EKD-Ratsvorsitzender Nikolaus Schneider und Bundesverteidigungsminister Thomas de Maiziere beim Johannisempfang in Berlin. Foto: epd
Evangelisch und Elite: EKD-Ratsvorsitzender Nikolaus Schneider und Bundesverteidigungsminister Thomas de Maiziere beim Johannisempfang in Berlin. Foto: epd
Bischofsdinner, Spiritual Coaching oder Kloster auf Zeit - mit solchen Angeboten sollten Pfarrer, Gemeinden und Kirchenleitungen auf die Evangelischen in der gesellschaftlichen Elite zugehen. Das schlägt zumindest das EKD-Impulspapier "Evangelische Verantwortungseliten" vor. Der Theologe Christoph Fleischmann hat das Papier gelesen und einiges Kritikwürdige gefunden.

Evangelische Verantwortungseliten" heißt eine Schrift, die eine Arbeitsgruppe des Rates der EKD erarbeitet und vor einigen Monaten der Öffentlichkeit vorgestellt hat. Wie bei allen Komposita, so versteht sich auch bei dem Begriff "Verantwortungseliten" der Zusammenhang zwischen den einzelnen Teilen nicht von allein. Sind Verantwortungseliten diejenigen unter der Elite, die Verantwortung übernehmen, im Gegensatz zu denen, die es nicht tun? Oder sind es die Eliten unter den Verantwortungsträgern, also diejenigen mit großem Wirkungsbereich, im Gegensatz zu denen, die nur einen kleine Verantwortungsbereich haben?

Damit verbunden ist die Frage, ob es sich bei den Verantwortungseliten um einen deskriptiven oder einen normativen Begriff handelt. Im Papier der ekd bleibt bezüglich dieser Fragen eine gewisse Unschärfe, so dass die Leserinnen und Leser, je nach ideologischem Temperament und ih rem Bedürfnis nach Selbstbestätigung, mehr das eine oder das andere aus dem Text herauslesen können.

In jedem Fall sind sich die Autorinnen und Autoren des Papiers sicher, dass man an allen Orten in der Gesellschaft - als Ausnahmen werden nur die von Luther als "sündig" bezeichneten Berufe Prostitution, Räuberei und Wucherhandel genannt - "auch unter widrigen Bedingungen", "gut, gerecht und nützlich" handeln könne. Das, was hier kurzerhand behauptet wird, versteht sich heute aber keineswegs mehr von allein, ja wäre die eigentlich spannende Frage, wenn es um gesellschaftliche Verantwortung geht. Denn die, die in Politik, Wirtschaft und - vielleicht in geringerem Maße? - in der Kultur an der Spitze stehen, sind in Zwänge eingebunden, die ihre Handlungsmöglichkeiten erheblich einschränken. Zum Begriff der Verantwortung gehört aber auch die Vorstellung, frei handeln zu können, also, sowohl das eine wie das andere tun zu können.

Zu kurz gegriffen

Es ist aber nicht so, dass derjenige, der an einer verantwortlichen Position steht, damit auch per se mehr Handlungsfreiheit hat als jemand in niederer Stellung. Der eine wie der andere hat in einem gesellschaftlichen System eine bestimmte Funktion auszufüllen - das heißt, viele mögliche Handlungsalternativen kommen für ihn bei Strafe des Verlustes seiner Stellung nicht in Betracht. So ist es zu kurz gegriffen, wenn in der EKD-Schrift einerseits positiv auf den Begriff der Funktionselite Bezug genommen wird, andererseits aber von den Verantwortungseliten gefordert wird, über ihre jeweiligen Handlungsbereiche hinaus Verantwortung für das gesellschaftliche Ganze zu übernehmen.

Wenn Josef Ackermann sich dafür einsetzt, dass die deutsche Regierung, im Verein mit anderen EU-Staaten, diverse Schulden absichert und damit Verluste seiner Bank vermeiden hilft, dann ist dies nicht automatisch im öffentlichen Interesse, sondern im Interesse seiner Aktionäre. Denen ist er als Vorsitzender einer Aktiengesellschaft auch zuerst verantwortlich; das ist seine Funktion im wirtschaftlichen System. Der Verkauf von Zinswetten an Kommunen durch die Deutsche Bank zeigt überdeutlich, worum es geht: Die Kommunen wetten gegen die Deutsche Bank, damit spekuliert die Bank auf den Verlust öffentlicher Gelder. Der Gewinn der einen Seite ist der Verlust der anderen Seite. Man sollte vom Wolf im Schafstall kein zu großes Verantwortungsgefühl für die Schafe erwarten.

Handlungszwänge

Wenn Josef Ackermann Vorschläge zur Finanzkrise propagieren würde, die die öffentlichen Haushalte zu Ungunsten der Bilanz der Deutschen Bank schonen, und wenn er nichts täte, um die Renditen seines Hauses wieder auf Vorkrisen-Niveau zu heben, dann wäre er wahrscheinlich nicht mehr lange in der Funktion des Vorstandsvorsitzenden der Deutschen Bank. Dass niedere Chargen in der Wirtschaft nicht nur Funktionen ausfüllen müssen, sondern zum Teil unter deutlichen Handlungsimperativen stehen, muss hier nicht ausgeführt werden. Ähnliches gilt auch für die politischen Eliten. Die Spitzenpolitiker stehen zunehmend unter Handlungszwängen, weswegen in den wesentlichen Fragen fast austauschbar erscheint, wer gerade regiert; und die Hinterbänkler stehen unter Fraktionszwang.

Was aber heißt unter diesen Bedingungen "verantwortliches Handeln"? Geht es nur noch darum, die Funktion gewissenhaft und gut auszufüllen? Oder sich bei der Funktionserfüllung an die von der Gesellschaft gesteckten Grenzen zu halten? Wobei die Überschreitung der Grenze zu strafbarem Handeln durchaus auch im Interesse der Funktionserfüllung liegen kann. Handelt verantwortlich, wer diese Grenze beachtet oder wer im Sinne der Funktionserfüllung das Beste herausholt?

Es wird deutlich, dass das Konzept der Verantwortung nur Sinn macht, wenn man es einerseits auf die handlungsleitenden Systeme bezieht, und wenn andererseits die Funktionsträger auch Möglichkeiten haben, für diese Systeme Mitverantwortung zu übernehmen. Eine bloße Erfüllung der Rollenfunktion allein ist kaum ein "freies" und damit "verantwortliches Handeln" zu nennen.

Für die Armen

Verantwortung für das Gesamtsystem der Gesellschaft kann aber nur - aufgrund der vorhandenen Interessengegensätze - sinnvoll als kollektive Verantwortung verstanden werden. Nicht allein die Eliten, ja nicht einmal die Eliten zuerst, verantworten die Ordnungen der Gesellschaft, sondern diese Verantwortung kann nur in Prozessen getragen werden, die möglichst viele Mitglieder der Gesellschaft einschließen. Hier lohnt es, die Diagnose aus dem neuen Werk "Das Recht der Freiheit" von Axel Honneth wahrzunehmen: Der Sozialphilosoph vermutet, dass mit der Wende zum finanzmarktdominierten Kapitalismus auch eine kulturelle Wende einhergegangen sei, dass nämlich dem Einzelnen zunehmend die Verantwortung für sein Geschick innerhalb der Marktgesellschaft zugeschrieben wird und die Vorstellung einer kollektiven Verantwortung der unterschiedlichen Akteure für die Gestaltung des Marktes in den Hintergrund tritt.

Das EKD-Papier vermag damit, dass es die Verantwortung zuvörderst bei den Eliten vermutet, dieser von Honneth diagnostizierten Tendenz kaum etwas entgegenzustellen. Es wird stattdessen behauptet, dass die Führungsrolle der Eliten ein "Kredit der Gesellschaft" sei - oder sein sollte. Worin der "Kredit der Gesellschaft" gesehen wird, die ja in der Regel nicht gefragt wird, wer an der Spitze der Deutschen Bank stehen soll, bleibt schleierhaft. Selbst bei Politikern, für die man solch einen "Kredit" behaupten kann, erodiert diese Legitimationsgrundlage mit sinkender Wahlbeteiligung zunehmend.

Wenn man das Thema theologisch betrachtet, dann könnte einem die "Option für die Armen" einfallen, die freilich zu einem unverbindlichen Allgemeinplatz in unseren Breiten verkommen ist. Die Nagelprobe, ob man die mit diesem Schlagwort verbundene Parteilichkeit Gottes ernst nimmt, wäre in unserem Kontext das, was die Väter der Befreiungstheologie den "epistemologischen Vorsprung der Armen" genannt haben. Mit anderen Worten: Die Armen, im Kontext der westlichen Industriegesellschaften reden wir besser von Ausgegrenzten oder Entbehrlichen, haben einen Erkenntnisvorsprung, wenn es um die Fragen nach der gerechten Gestaltung einer Gesellschaft geht, weil sie es sind, die Ungerechtigkeiten schärfer erleben.

Aufgabe der Kirche wäre es dann, nicht die Eliten zur Verantwortung zu mahnen oder schlimmer noch, sich ih nen anzudienen, sondern Prozesse der Integration und Mitbestimmung zu organisieren, so dass die Ausgegrenzten Möglichkeiten sehen, an der wirksamen Gestaltung der Gesellschaft mitzuwirken. Töricht und albern sind in diesem Zusammenhang die kirchlichen Aufrufe, zur Wahl zu gehen: als sei die sinkende Wahlbeteiligung ein individueller Defekt, Ausdruck von Faulheit, und nicht vielmehr ein Alarmsignal dafür, dass immer mehr Bürger das Gefühl haben, mit einer Wahl ihre Lebensumstände nicht mehr effektiv verändern zu können. Dabei ist die kollektive Mitverantwortung bei fortschreitender Verflechtung der Weltwirtschaft zunehmend nur noch durch Beteiligungsprozesse auf transnationaler Ebene zu gewährleisten. Ein weites Feld gewiss, die Kirchen könnten aber als weltweit gut vernetzte Größe hier ein hervorragender Impulsgeber sein.

Werden Berufsverbote wieder aktuell?

Und was ist mit der gesellschaftlichen Verantwortung des Einzelnen? Ist die ehemals individualethische Kategorie der Verantwortung aus ihrem angestammten Bereich unwiderruflich vertrieben? Können nur noch Kollektive gesellschaftliche Verantwortung übernehmen? Nein, die entscheidende Frage an den Einzelnen in von Funktionszwängen geprägten Systemen ist die: Wo bin ich bereit, mitzumachen? An welcher Stelle des Systems kann ich das, was von mir erwartet wird, noch verantworten? Und wo muss ich mich verweigern? Da bekäme dann die alte Tradition der christlichen Berufsverbote neue Aktualität. Wenn man diese Fragen ernst stellen würde, könnten einem noch mehr Berufe einfallen, als die von Luther genannten Prostitution, Räuberei und Wucherhandel. Kann man als Christ guten Gewissens dort mitmachen wo es zur Raison d'être gehört, gegen die Interessen des Gemeinwohls zu arbeiten? Und solche beruflichen Positionen gibt es einige.

Wenn Christen sich bestimmter Berufsgruppen oder Funktionen innerhalb der Gesellschaft enthielten, könnte das ein Signal sein. Freilich, das Nicht-Mitmachen hat kein gutes Image. Es wird gerne als verantwortungslos oder Flucht vor der Verantwortung gebrandmarkt. Zu Unrecht. Wenn man an einem Ort nichts mehr von dem erreichen kann, was man selber als verantwortbar erkannt hat, dann wäre der weitere Verbleib auf diesem Posten bloß noch eine Mischung aus Eitelkeit und Opportunismus. Zu hören sind dann gemeinhin die dümmsten aller Ausreden: Man könne so das Schlimmste verhindern oder ein anderer würde es viel schlechter machen. Verantwortlicher aber wäre es, durch einen Rücktritt offen zu dokumentieren, dass in diesem Bereich verantwortungslos gehandelt wird.

Dass sich die Frage, wo man mitmachen kann im System, nur für wenige so deutlich stellt, ist auch klar. Viele dürfen um des Geldverdienens willen nicht zu wählerisch sein. Aber unter denjenigen, die die Kirche als "junge Verantwortungseliten" im Blick hat, den jungen Akademikern, wären vielleicht noch einige zu finden. Vielleicht sind sie eine Verantwortungselite in dem Sinne, dass sie die wichtigste individuell verantwortbare Entscheidung treffen können: In welcher Funktion soll ich in der Gesellschaft mitmachen? Sie dabei zu begleiten, wäre keine schlechte Aufgabe der Kirche.

Christoph Fleischmann

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