Ethos der Mitte

Alltagsethik für die Zukunft
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"Die Goldene Regel ist nicht allein unser Weltkulturerbe, sondern auch die ethische Pointe der Globalisierung."

Die Goldene Regel begegnet uns im christlichen Abendland in zweifacher Gestalt. Zum einen handelt es sich um die positiv formulierte Regel aus der Bergpredigt Jesu: "Alles, was ihr also von anderen erwartet, das tut auch ihnen!", zum anderen um das seit dem römischen Kaiser Alexander Severus als Verbotsregel formulierte lateinische Sprichwort: "Was du nicht willst, dass man dir tu, das füg' auch keinem andern zu."

Während die Goldene Regel im deutschen Kulturraum über zwei Jahrhunderte lang im Schatten des kategorischen Imperativs Immanuel Kants stand, maß man ihr in der angelsächsischen Welt stets eine besondere ethische Relevanz zu. Jedoch ist seit den Neunzigerjahren zu beobachten, dass sich die Goldene Regel sowohl hierzulande als auch weltweit einer zunehmenden Wertschätzung erfreuen kann: sei es als moralisches Grundprinzip, als konstitutiver Bestandteil eines Weltwirtschaftsethos, als Instrument der Unternehmenskultur oder als Eckpfeiler einer humanen Schulkultur.

Im ersten Teil des klar gegliederten Buches wird die Goldene Regel als "moralisches Weltkulturerbe" erörtert. Der Autor Martin Bauschke legt hier Einsichten seiner Spurensuche in Politik und Alltag, in der Religions- und Philosophiegeschichte vor. Neben ihrer vielfachen Bezeugung in Hinduismus, Jainismus, Buddhismus, Zoroastrismus, Judentum, Christentum, Islam und der Bahai-Religion findet sich die Goldene Regel vielfach auch in der säkularen Ethik, da sie als ethische Selbstverpflichtung unabhängig von einer religiösen Einstellung praktiziert werden kann. Dabei wird die Reichweite der Goldenen Regel verschieden bestimmt: Aristoteles beispielsweise beschränkte sie als "Ethos positiver Nächstenliebe" auf den geliebten Freund, während die Stoiker die "entgrenzte Goldene Regel als Liebe zur Menschheit" verstanden.

Im zweiten Teil gibt der Verfasser einen Einblick in die über die Goldene Regel geführten philosophischen und theologischen Diskussionen. Dabei behandelt er verschiedene Fragen: "Welche Typen der Goldenen Regel gibt es?", "Wie verhält sie sich zur Vergeltungsregel?" und "Ist sie dasselbe wie der kategorische Imperativ?". In didaktischer Hinsicht erweisen sich die Tabellen als hilfreich, weil sie Ergebnisse übersichtlich zusammenfassen. Bauschke plädiert für die Goldene Regel als "Ausdruck eines Ethos der goldenen Mitte und des rechten Maßes im Alltag" zwischen einem Minimalethos des bloßen Vergeltungsdenkens und einem Maximalethos der Selbstaufopferung.

Der dritte Teil ist schließlich der ethischen Praxis gewidmet. Der Autor führt hier eine Reihe von überzeugenden Beispielen vor Augen, wie wir die Goldene Regel leben können. Dabei werden der Dialog der Religionen, das Privat- und Berufsleben und die Schule als Anwendungsbereiche in den Blick genommen. Da diese Regel nur ein formales Prinzip ist, das lediglich das Gebot der Wahrhaftigkeit enthält, muss sie mit Werten verbunden werden, um als ethische Orientierungshilfe in der Lebenspraxis dienen zu können. Bauschke verbindet sie daher im Schlusskapitel mit folgenden Werten: Gerechtigkeit und Fairness, Ehrfurcht vor dem Leben und Friedfertigkeit, Mitgefühl und Liebe, Vergebung und Versöhnung, Mitmenschlichkeit.

"Die Goldene Regel ist nicht allein unser Weltkulturerbe, sondern auch die ethische Pointe der Globalisierung"; denn: "Langfristig tut das, was ich anderen und auch der Natur, der Mitwelt, zugute kommen lasse, auch mir selbst gut. Und umgekehrt: was wir anderen wie auch der Erde an Schaden zufügen, fällt früher oder später auf uns zurück." Möge das gut lesbar geschriebene und ansprechend gestaltete Buch dazu dienen, dass immer mehr Menschen sich in ihrem Denken und Verhalten von der Goldenen Regel inspirieren und bestimmen lassen. Für die eigene Weiterarbeit dürfte das ausführliche Literaturverzeichnis gewinnbringend sein.

Martin Bauschke: Die Goldene Regel. Staunen - Verstehen - Handeln. EB-Verlag, Berlin 2010, 254 Seiten, Euro 22,80.

Werner Zager

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