Die Grenzen des Selbstverständlichen

Pfarrinnen und Pfarrer in der EKD sind gleichgestellt. Doch werden sie auch gleich geschätzt?
Teilen sich das Regionalbischofsamt in Nürnberg: die Eheleute  Elisabeth Hann von Weyhern und Stefan Ark Nitsche (Foto: dpa).
Teilen sich das Regionalbischofsamt in Nürnberg: die Eheleute Elisabeth Hann von Weyhern und Stefan Ark Nitsche (Foto: dpa).
Eine Pfarrerin auf der Kanzel ist keine Ausnahme mehr. Jede dritte Pfarr­stelle wird mittlerweile von einer Frau besetzt, zwei Drittel der Theo­logie studierenden sind weiblich. Und doch wäre es verfrüht, die Gender­thematik in der evange­li­schen Kirche als erledigt zu betrachten, meint ­Ulrike Wagner-Rau, Theologie­professorin an der Philipps-Universität in Marburg.

Vor zwanzig Jahren wurde in der Evangelisch-Lutherischen Landeskirche Schaumburg-Lippe die völlige Gleichstellung von Frauen und Männern im Pfarrberuf beschlossen. Das war der überfällige Nachklapp einer rechtlichen Entwicklung, die in den anderen Mitgliedskirchen der EKD bereits in den Sechzigerjahren begonnen hatte und mit dem 1. Januar 1978 abgeschlossen war. Seither ist der Pfarrberuf von den rechtlichen Voraussetzungen her "genderneutral": Was die beruflichen Bedingungen angeht, so gibt es keine Unterschiede für die Geschlechter. Gemessen an der langen Geschichte der Kirche ist das eine sehr kurze Zeitspanne. Wenn man beobachtet, mit welcher Selbstverständlichkeit heute Frauen wie Männer das Pfarramt ausfüllen, könnte man das beinahe vergessen.

Ist es wirklich erst einige Jahrzehnte her, dass Frauen diesen Beruf aufgeben mussten, wenn sie heirateten? Dass sie - bei identischer Qualifikation wie Männer - weniger verdienten, dass sie den Titel "Pfarrerin" nicht führen durften und in ihrem Aufgabenbereich eingeschränkt waren? Studentinnen, die heute das Theologiestudium aufnehmen, um Pfarrerin zu werden, wissen oft nicht mehr, dass die­se Wahl in der Generation ihrer Großmütter alles andere als eine selbstverständliche Entscheidung war. Viele der frühen Theologinnen waren starke und engagierte Persönlichkeiten oder sind es in den Auseinandersetzungen um Frauenordination und rechtliche Gleichstellung geworden. Sie erkämpften sich ihre Anerkennung und bahnten den Weg, den andere jetzt selbstverständlich einschlagen. Manche machten die Hindernisse, die zu bewältigen waren, aber auch krank, oder sie wurden wegen der fehlenden Akzeptanz traurig und verbittert.

Deshalb war es wichtig, dass der bayrische Landesbischof Johannes Friedrich im vergangenen Jahr sagte, die Kirche habe sich schuldig gemacht, "in­dem sie Männern und Frauen in der Nachfolge Jesu nicht den gleichen Wert und die gleichen Möglichkeiten eingeräumt hat, wie es der Glaube an Jesus Christus geboten hätte". Denn es sind theologische Gründe, die für die Frauenordination sprechen. Die Ordination von Frauen ist spezifisches Kennzeichen eines reformatorischen Schrift- und Glaubensverständnisses. Die Schriften des Neuen Testamentes bezeugen insgesamt, dass Frauen im Umkreis Jesu wie in den ersten Ge­meinden eine bedeutsame Rolle spielten. Taufe und Abendmahl waren von Anfang an offen für Frauen wie Männer. Die eschatologische Dimension des Seins in Christus überholt und unterläuft signifikante Differenzen menschlichen Zusammenlebens überhaupt (Galater 3,27-29).

Wenig empirisches Wissen

Dem biblischen Befund entspricht die Lehre vom allgemeinen Priestertum, die das Amt der Verkündigung allen Gläubigen gleichermaßen aufträgt. Nach Martin Luthers Überzeugung springen alle Getauften als Priester aus der Taufe, ist jede und jeder im Glauben unmittelbar zu Gott. Zwar zogen die Reformatoren selbst im Kontext ihrer Zeit noch nicht die praktischen Konsequenzen aus dieser Einsicht, aber sie legten die theologische Grundlage für die Öffnung des öffentlichen Amtes der Verkündigung für alle Geschlechter. Weil bereits Luther in enger Bindung an die Bibel, aber nicht biblizistisch argumentierte, war der Weg in der beginnenden Moderne frei für eine Interpretation der Schrift in Auseinandersetzung mit den Herausforderungen der Zeit.

Heute beträgt nach der EKD-Statistik der Anteil der Frauen im Pfarrberuf 33 Prozent. Diese Zahl vermindert sich, wenn man den größeren Anteil der Frau­en an Teildienstverhältnissen und Beurlaubungen berücksichtigt. Dennoch ist die Veränderung unübersehbar. Es gibt zwar immer noch zahlreiche Gemeinden, in denen bisher noch keine Pfarrerin auf der Kanzel gestanden hat. Aber die Zukunft wird mehr Frauen ins Pfarramt bringen. Über 60 Prozent unter den gegenwärtig Studierenden sind weiblich.

Nachdem die Gleichstellung erreicht war, richtete die Forschung nicht mehr viel Aufmerksamkeit auf die Pfarrerinnen. Darum gibt es wenig empirisches Wissen über die Situation der Pfarrerinnen und über die Bedeutung von Genderfragen für den Pfarrberuf. Eine Umfrage, die ich unter den Pfarrerinnen der Evangelischen Kirche von Kurhessen und Waldeck angestellt habe, stieß auf starke Resonanz: Die Pfarrerinnen selbst schätzen es offenbar, dass ihre berufliche Situation in den Fokus erneuerter wissenschaftlicher Aufmerksamkeit ge­rät. Und sie beantworten die Frage, ob ihr Geschlecht eine signifikante Rolle im beruflichen Alltag spielt, fast durchgehend mit Ja. Worin sich das zeigt, war jedoch noch nicht erkennbar. Jedenfalls heißt es nicht, dass sie ihre Situation als problematisch empfinden. Vielmehr sind die allermeisten zufrieden mit ihrem Beruf und halten sich - nicht ohne Selbstbewusstsein - für eine gute oder sogar sehr gute Pfarrerin.

Geschätzt wegen ihrer "kommunikativen Fähigkeiten"

Offenbar gibt es viel Normalität in der Berufsausübung der Frauen. Trotzdem wäre es interessant, mehr darüber zu wissen, wie sie selbst ihre berufliche Identität und Wirklichkeit wahrnehmen, wie ihre Tätigkeit von anderen gesehen und bewertet wird und wie Geschlechterkonstruktionen in diesen Selbst- und Fremdwahrnehmungen vorausgesetzt und weitergeschrieben werden. Ebenso wichtig ist die Frage, ob und wie sich der Pfarrberuf insgesamt im Prozess sich wandelnder Geschlechterbeziehungen verändert. Dabei spielen nicht nur die Pfarrerinnen eine Rolle, sondern ebenso die berufstätigen Partner und Partnerinnen der Pfarrerinnen und Pfarrer, ja: die Veränderung der privaten Lebensformen im Pfarrhaus überhaupt, die das für den Pfarrberuf typische Ineinander von Arbeit und Privatleben neu zum Thema machen.

Auffallend ist es, dass sich Veränderungen im gesellschaftlichen und kirchlichen Kontext unmittelbar auch in der kirchlichen Debatte über die Pfarrerinnen niederschlagen. In den Siebziger- und Achtzigerjahren - nachdem sich die grundsätzliche Akzeptanz der Frauenordination durchgesetzt hatte - wurden ausdrücklich positive Erwartungen mit der Tätigkeit der Frauen verbunden. Der Pfarrberuf, so war durch die Rezeption sozialwissenschaftlicher Ansätze in der Pastoraltheologie und nicht zuletzt durch die Kirchenmitgliedschaftsuntersuchungen der EKD deutlich geworden, erfordert in hohem Maß kommunikative Fähigkeiten. "Hier", so hieß es 1989 in einem EKD-Papier zu Perspektiven des Pfarrberufs, "kommt gerade der zunehmenden Zahl von Frauen im Pfarrdienst in ihrer stärkeren Sensibilisierung für zwischenmenschliche Beziehungen ei­ne besondere Aufgabe als Kommunikationshelfer zu." In einer von Aufbruch und Wandel geprägten Zeit wurden die - damals noch wenigen - Pfarrerinnen als bereicherndes Potenzial für die kirchliche Arbeit wahrgenommen - freilich auch auf eine nicht unproblematische Rolle festgelegt.

Problemanzeige durch den Begriff "Feminisierung"

Heute hat sich der Kontext verändert: Die große Zahl der Pfarrerinnen macht die Unterschiedlichkeit der Frauen deutlicher. Sie werden nicht mehr als eine einheitliche Gruppe gesehen, sondern als bunter und differenzierter Bestandteil der Berufsgruppe insgesamt. Allerdings gibt es auch Hinweise darauf, dass die Selbstverständlichkeit nicht fraglos ist. Zum einen drängen Frauen in größerer Zahl nur langsam in die Führungspositionen vor, in manchen Kirchen wird sogar über einen Rückgang in dieser Hinsicht diskutiert.

Zum anderen ist seit wenigen Jahren häufig das Stichwort von der "Feminisierung" der Kirche zu hören, und zwar im Sinne einer Problemanzeige. Der Begriff wird sozialwissenschaftlich in einer opaken Mischung aus Deskriptivität und Bewertung verwendet. In der Entwicklung von Institutionen und Berufen beschreibt er das Anwachsen der Zahl und des Einflusses von Frauen: Ein soziales Feld, das bisher von Männern dominiert wurde, wird zunehmend von Frauen besetzt und damit "feminisiert". Zugleich aber kommt eine Bewertung dieses Prozesses ins Spiel, weil parallel eine wachsende Bedeutungslosigkeit des entsprechenden Feldes beobachtet wird. Seine gesellschaftliche Wertschätzung nimmt mit dem Anwachsen von Zahl und Einfluss der Frauen ab.

Es ist leicht zu erkennen, dass in der Perspektive einer "Fe­minisierung" die Pfarrerinnen und überhaupt die Frauen als Problemanzeiger für eine herausfordernde und schwierige Lage der Kirchen fungieren, mit der sie ursächlich nicht das Geringste zu tun haben. Darum erscheint es mir angebracht, diesen Begriff nicht zu benutzen, der in der Gefahr steht, nicht nur die Frauen, sondern auch die Kirche zu entwerten. Denn die Ordination der Frauen ist ein wichtiges und theologisch zentrales Merkmal der evangelischen Kirchen. Die Kirchen profitieren davon nicht nur, weil es sonst viel zu wenige Menschen im Pfarrdienst gäbe, sondern vor allem, weil die gemeinsame Kirchenleitung durch Frauen und Männer, durch Ordinierte und Nicht-Ordinierte einen besonderen Reichtum des Protestantismus darstellt.

Die Aufmerksamkeit der Forschung wachhalten

Die Gendertheorie hat immer deutlicher die kulturelle Bedingtheit der Geschlechts­iden­titäten herausgearbeitet. Dennoch braucht eine nachhaltige Veränderung dieser Identitäten Zeit, denn Geschlecht ist ein Ensemble von Einstellungen, Lebens- und Sprachstil, Geschmack und Gewohnheiten, das bis in den Körper reicht. So hat es der Soziologe Pierre Bourdieu in seinem Konzept des "Habitus" beschrieben. Das heißt: Erscheinungs- und Verhaltensweisen der Menschen in unserer Gesellschaft sind vielfältiger geworden und Grenzen zwischen den Geschlechtern verschwimmen.

Aber zugleich ist zu beobachten, dass Verhalten, Erwartungen und Bewertungen hartnäckig auch von traditionellen Rollenvorstellungen und Beziehungsdynamiken zwischen den Geschlechtern bestimmt sind. Es verändert sich etwas, aber langsam und durchaus anders, als wir es bewusst anstreben. Es wäre also verfrüht, die Genderthematik im Pfarrberuf als erledigt zu betrachten. Historisch und ökumenisch spricht alles dafür, die Aufmerksamkeit dafür in der kirchlichen Praxis und in der Forschung wach zu halten und neugierig zu bleiben, wie das Miteinander der Frauen und Männer im Pfarrberuf das Gesicht der Kirche prägen wird.

Ulrike Wagner-Rau

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