Trollinger statt Karmelwein

Der Staat Israel hat theologisch keine besondere Bedeutung
Ein Wanderer auf dem Pilgerpfad, der den Spuren Jesu vom Berg Kedumim nach Kapernaum folgt. Foto: epd/Debbie Hill
Ein Wanderer auf dem Pilgerpfad, der den Spuren Jesu vom Berg Kedumim nach Kapernaum folgt. Foto: epd/Debbie Hill
Für einige Landeskirchen wie die rheinische ist der Staat Israel ein "Zeichen der Treue Gottes". So kann man es sehen, aber das ist problematisch.

"Ja, Dir geliebtes Stuttgart, unserem Jerusalem, wünschen wir Heil!" Mit diesen Worten schloss Rabbiner Joseph Maier seine Predigt zur Einweihung der Stuttgarter Synagoge am 3. Mai 1861. Dies war nicht aus einer Festtagsstimmung heraus so dahingesagt. Württembergs Juden waren auf dem Weg zur Gleichberechtigung, die drei Jahre später gesetzlich festgeschrieben wurde. Und die Synagoge im Zentrum der Landeshauptstadt war Ausdruck ihres Selbstbewusstseins. Am Tag vor der Einweihung hatten Kronprinz Karl und seine Frau Olga den Neubau besichtigt. Und sechs Jahre später erhob Karl, mittlerweile König geworden, Joseph Maier in den Adelsstand. Er war der erste Rabbiner Deutschlands, dem diese Ehre widerfuhr. Juden fühlten sich im Ländle daheim. Warum sollten sie also den Schwarzwald gegen die Negevwüste tauschen, das Schwäbische Meer gegen das Tote Meer, Trollinger gegen Karmelwein?

Eine Auswanderung nach Palästina lehnten religiöse Juden auch aus theologischen Gründen ab, die liberalen, weil sie gerade in der Diaspora ein "Licht unter den Völkern" (Jesaja 42,6) sein wollten und konnten. Und die orthodoxe Minderheit betrachtete eine Rückkehr ins gelobte Land, ohne dass zuvor der Messias gekommen wäre, als Gotteslästerung.

Shoa und Staatsgründung

Zwanzig Jahre vor Joseph Maier und Tausende Kilometer entfernt, hatte Rabbiner Gustave Poznanski in Charleston im US-Bundesstaat South Carolina erklärt: "Diese Synagoge ist unser Tempel, diese Stadt unser Jerusalem, dieses glückliche Land unser Palästina." Wie Maier war Poznanski ein Liberaler. Er hatte das Reformjudentum in Hamburg kennengelernt.

Die amerikanischen Reformjuden erklärten 1885 in ihrer "Pittsburgh Platform": "Wir betrachten uns nicht länger als eine Nation, sondern als religiöse Gemeinschaft." Und "wir erwarten weder eine Rückkehr nach Palästina, noch einen Opferkult unter der Führung von Aarons Söhnen." So bezeichneten sie ihre Synagogen als "Tempel".

Man gewinnt den Eindruck, dass Protestanten, die der Gründung des Staates Israel eine theologische Bedeutung verleihen und sie gar in einen Zusammenhang mit der biblischen Landverheißung stellen, dies nicht wissen oder ignorieren. Erst als der Nazismus heraufzog, und erst recht als er sein antisemitisches und mörderisches Pogramm umsetzte, wuchs die Zahl der Zionisten unter den Juden West- und Mitteleuropas und der USA. Mit anderen Worten: Ohne die Shoa, den Massenmord an den europäischen Juden, hätte es den UN-Beschluss von 1947 und die Errichtung des Staates Israel wahrscheinlich nie gegeben.

Mehrdeutige Zeichen

Die Rheinische Kirche sieht "in der Errichtung des Staates Israels ein Zeichen der Treue Gottes gegenüber seinem Volk". Und andere Landeskirchen haben sich ähnlich geäußert. Der Vorwurf, sie würden eine Geschichtstheologie wie die nazistischen "Deutschen Christen" vertreten, ist perfide und unsinnig. Schließlich interpretiert ein Christ auch Ereignisse in der eigenen Lebensgeschichte als Zeichen der Treue Gottes, so wenn man einen Partner oder eine Arbeitsstelle findet und dies als ein glückliches Widerfahrnis empfindet. Und warum sollen Polen die Wiedererlangung ihrer Souveränität 1918 und die Deutschen die Wiedervereinigung 1990 nicht als Zeichen der Treue Gottes interpretieren? Und das gilt umso mehr für die Überlebenden der Shoa, die auf den Straßen und Plätzen Tel Avivs tanzten, nachdem Ben Gurion am 14. Mai 1948 die Unabhängigkeitserklärung verlesen hatte? Wer die Filmaufnahmen sieht und diejenigen aus der Nazizeit im Hinterkopf hat, kann den Jubel nachempfinden.

Freilich, wer historische Ereignisse als Zeichen von Gottes Treue interpretiert, macht nicht selten die Erfahrung, dass Zeichen meist mehrdeutig sind und man sich bei ihrer Deutung irren kann. So können sich der Partner und die Arbeitsstelle, die man mit Gott in Verbindung brachte, als Verhängnis entpuppen. Solche Erfahrungen setzen die religiöse Deutung von Ereignissen nicht ins Unrecht, aber sie mahnen zur Zurückhaltung. Besonders gefährlich kann die religiöse Deutung von Ereignissen sein, die sich für die einen als Glück und die anderen als Unglück erweisen.

Vor einiger Zeit schilderte eine Überlebende der Shoa im Radio, wie glücklich sie war, als sie nach langer Zeit in Lagern in Jaffa eine eigene Wohnung zu bekam. Doch ein ungutes Gefühl beschlich sie, als sie erkennen musste, dass die Einrichtung einem Araber gehörte, der kurz zuvor geflüchtet oder vertrieben worden war. Ja, die Staatsgründung Israels und der anschließende Krieg brachten für viele Araber den Verlust der Heimat mit sich, ob durch Vertreibung oder Flucht. Trotz ihres Heimwehs muss man aber von ihnen und ihren Nachkommen erwarten, dass sie auf eine Rückkehr verzichten und den jüdischen Staat anerkennen, so wie Deutschland die Oder-Neiße-Grenze anerkannt hat und die meisten Deutschen akzeptiert haben, dass Breslau und Danzig polnische Städte sind. Und wenn Protestanten Errichtung und Fortbestand des Staates Israels als "Zeichen der Treue Gottes" werten, gilt das für Israel in den Grenzen von 1947 oder 1967? Und was ist mit dem Westjordanland und den dortigen, völkerrechtswidrig errichteten, jüdischen Siedlungen?

Notordnung Gottes

Theologisch gesprochen war die Gründung Israels eher eine Notordnung Gottes, um Flüchtlingen aus Nazideutschland und Überlebenden der Shoa eine Heimat zu geben. Wie auch immer, Christen werden respektieren, dass sich die meisten Juden heute Israel verbunden fühlen, so wie Protestanten eine Bindung von Katholiken an den Bischof von Rom respektieren. Und man muss einer Geschichtsklitterung widersprechen, wie sie palästinensische Kirchenführer im "Kairos-Dokument" formuliert haben. Danach hat Gott die Patriarchen und Propheten "mit einem universellen Auftrag" ins Land geschickt.

Gleichzeitig können Christen aber mit den liberalen Juden der Vornazizeit sagen, dass sich die Landverheißung im Laufe der Geschichte erledigt hat. Einst diente sie als materielle Basis dafür, dass Juden ihrer Erwählung nachkommen und als "Licht der Völker" leben konnten. Doch das ist heute auch in der Diaspora möglich, genauer: in den demokratischen Staaten der Welt. Und Christen können sich nur freuen, dass viele Juden nicht dem zionistischen Ideal folgen und nach Israel auswandern. Das erleichtert schon aus räumlichen und kulturellen Gründen den christlich-jüdischen Dialog. Und auf den sind Christen angewiesen. Denn an der Erwählung der Juden, ihrer "besonderen Aufgabe", wie es die "Pittsburgh Platform" treffend ausdrückte, hat sich ja nichts geändert. Im Dialog mit ihnen lernen Christen das Alte, aber auch das Neue Testament und den Juden Jesus besser zu verstehen und Irrtümer zu korrigieren, die sich in der Kirchengeschichte eingeschlichen und verfestigt haben.

Deutschlands Christen und Kirchen sollten dazu beitragen, dass sich Juden zwischen Flensburg und Lörrach, Aachen und Frankfurt an der Oder daheim fühlen und sagen können: "Diese Synagoge ist unser Tempel, diese Stadt unser Jerusalem, dieses glückliche Land für immer unsere Heimat."

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Jürgen Wandel

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