Achtzehn Jahre in Jerusalem

Als evangelischer Langzeit-Pilger in einer faszinierenden Stadt
Begegnung eines christlichen Pilgers und einer pälastinensischen Bettlerin. Foto: ddp/Sebastian Scheiner
Begegnung eines christlichen Pilgers und einer pälastinensischen Bettlerin. Foto: ddp/Sebastian Scheiner
Jörg Bremer lebte fast zwei Jahrzehnte mit seiner Familie als Korrespondent der Frankfurter Allgemeinen Zeitung in Jerusalem - eine lange und ereignisreiche Strecke seines Lebensweges. Nun erinnert er sich, an kirchenpolitische Querelen ebenso wie an spirituelle Erfahrungen.

Wer in der Fremde lebt, der sucht auch dort Heimat. Dazu gehört für einen Christen meist eine gleichsprachige Gemeinde. Gerade in Jerusalem, wo die Fremde viele Sprachen spricht und viele Religionen und Konfessionen in sich birgt, mithin die Verwirrung besonders groß ist, wird der Wunsch nach einem bisschen Heimat noch größer. Achtzehn Jahre lang haben meine Familie und ich in Jerusalem verbracht. Gleichwohl sind wir nur länger bleibende Pilger in einer magischen Stadt geblieben. Wir konnten zwar Gastgeber sein für Kurzbesucher; aber das Geheimnis dieser Stadt im Heiligen Land wurde auch uns nicht enthüllt. Der Schnittpunkt zwischen irdischer Stadt mit Krieg und Dreck und der himmlischen Hoffnung auf Frieden und Schönheit bleibt verwirrend und für jeden jüdischen, muslimischen oder christlichen Bewohner Zions, Al Quds' und Jerusalems lebenslange Herausforderung.

Bald nach unserer Ankunft 1991 wurden meine Familie und ich Mitglied der evangelischen Gemeinde deutscher Sprache in Jerusalem, die zunächst noch von Propst Johannes Friedrich, dem heutigen bayerischen Landesbischof, geleitet wurde. Dann wurde für zehn Jahre Karl Heinz Ronecker unser Bischof, der auch unsere Kinder Friedrich und Anna taufte; später folgten die Pröpste Martin Reyer, und Uwe Gräbe. Unsere Söhne Philipp und Friedrich wurden in Jerusalem konfirmiert. Meine Frau Christiane arbeitete fünfzehn Jahre im Kirchengemeinderat mit, und ich gehörte zur Redaktion des Gemeindebriefs und Stiftungsjournals, das viermal im Jahr erschien.

Offene Herzen

Wir haben in der Erlöserkirche erleben können, welche Kraft sich daraus ergibt, dass eine Gemeinde ihre Besucher mit der heimatlichen Liturgie empfangen kann. Wir haben beim Tee nach Gottesdienst und Abendmahl oder beim Gemeindeabend die offenen Herzen der Besucher gespürt, die bereit waren, Jerusalem zu erkennen. Wir konnten die Vorurteile gegen die Bösen "hier" oder "auf der anderen Seite" überwinden helfen, erklären, dass Jerusalem nicht völlig erklärbar ist und dass es das Wichtigste sei, sich selbst in diesem Land des 5. Evangeliums zu öffnen, in dem Jesus bis heute so nahe ist, um dann gestärkt wieder zurückzukehren.

Die Erlöserkirche in der Altstadt ist Sitz des Propstes, des örtlichen Chefs der deutschen evangelischen Einrichtungen und ihrer Stiftungen in den palästinensischen Gebieten und in Amman. Die Propstei ist aber auch Bischofssitz der Evangelisch-Lutherischen Kirche Jordaniens und des Heiligen Landes (ELCHJHL). Zu dieser Kirche gehören nach einem nicht enden wollenden Exodus nunmehr noch gut 1500 Gemeindeglieder. Die meisten leben in Jerusalem und in Beit Jala bei Bethlehem. Gleichwohl hat diese kleine Kirche seit den Siebzigerjahren einen Bischof. 1998 wurde Munib Younan zum Oberhirten der ELCHJHL gewählt. Seither verschärften sich die Spannungen zwischen Propst und Bischof, ungeachtet, welcher Propst von der EKD entsandt worden war. Stets schien es mir so, als würden die Pröpste von Hannover mit der Weisung ausgesandt, sich unbedingt mit diesem palästinensischen Bischof gut zu stellen, und jedes Mal ging das schief. Und im nächsten Jahr wird ein neuer Propst vor dieselbe Aufgabe gestellt werden.

Die EKD und verschiedene deutsche Landeskirchen unterstützen die arabisch-lutherische Kirche bei vielen Projekten. Vor allem die Vereinigte Evangelisch-Lutherische Kirche Deutschlands (VELKD) bestreitet ihren Haushalt. Doch leider schützt sie ihre eigene deutsche Gemeinde nur unzureichend vor den Machtansprüchen des palästinensischen Bischofs. Die EKD steht unter dem Druck anderer lutherischer Kirchen, es den Finnen oder Amerikanern gleichzutun, die sich der palästinensischen Kirche unterordnen. Dabei ist die Unabhängigkeit der Deutschen von lebenswichtiger Bedeutung. "Der Propst muss zwischen den Stühlen sitzen", sagte Propst Ronecker einmal, "um von beiden Seiten anerkannt zu werden", von den mehrheitlich jüdischen Israelis und den mehrheitlich muslimischen Palästinensern. Und das dient auch den Palästinensern. Gegenüber den Israelis bekennen wir uns nämlich - aufgrund der eigenen historischen Erfahrungen und besonders mit Blick auf die Shoa - mit einer Verbindlichkeit zur Sicherheit des Staates Israel, die man den Palästinensern nicht abverlangen kann. Die Israelis achten im Allgemeinen unsere Kirche. Darum können wir glaubwürdig Partei für die Bruderkirche ergreifen und fordern Gerechtigkeit für die Palästinenser auf ihrem Weg zum eigenen Staat. Wir sind mithin "leidenschaftlich auf beiden Seiten".

Gehört der Ölberg zu Al Quds?

Das ist mit dem palästinensischen Bischof Younan, der auch Präsident des Lutherischen Weltbundes (LWB) ist, nicht leicht. Der fordert immer wieder, deutsche Institutionen mögen de facto ihre Eigentumsrechte abtreten. Zum Beispiel beim Areal der Auguste-Victoria-Stiftung, das treuhänderisch in der Obhut des LWB ist. Aus Israels Sicht ist der Ölberg westlich der Trennanlagen strategisch bedeutend, von ihm herab ließe sich fast jeder Stadtteil Jerusalems beschießen. Der Lutherische Weltbund unter Younan und eine palästinensische Kirche mit einem nationalpalästinensischen Bischof an der Spitze sind für Israel dagegen ein weniger verlässlicher Partner als die deutsche Kirche mit der Regierung in Berlin als Partner. Deutschland will deutlich machen, dass der Ölberg dereinst zur palästinensischen Hauptstadt Al Quds gehören sollte. Das Auswärtige Amt versucht darum, EKD und LWB davon zu überzeugen, Teile des Areals der Auguste-Victoria-Stiftung langfristig an den Bund zu vermieten, um dort die Residenz für den deutschen Botschafter bei den Palästinensern zu errichten.

Zur länger wirkenden Verknüpfung zwischen Jerusalems Gemeinde und der Heimat tragen neben den Gottesdiensten das Pilgerzentrum der Auguste-Victoria-Stiftung mit seinem beliebten Café bei, sowie das archäologische Institut mit seinen Veröffentlichungen - auch im Stiftungsjournal und Gemeindebrief, das in Deutschland vertrieben wird. Es ist unschwer zu erkennen, dass die Ökumene von Jerusalem, der historisch-religiöse Reichtum des Heiligen Landes, die Schilderungen von Alltag und Normalität bezeugen können, dass der Besucher keine Angst vor Terror und Gewalt haben muss sondern sich auf einen Besuch in Jerusalem oder am See Genezareth freuen kann. So besonders ein Leben in Jerusalem ist, so normal ist doch der Alltag.

Foto: dpa/Ton Koene
Foto: dpa/Ton Koene

Markt in der Jerusalemer Altstadt.

Foto: epd/Fröhlich
Foto: epd/Fröhlich

Vorbereitung auf das Laubhüttenfest in Jerusalem.

Freilich, wenn Straßenkehrer in Jerusalem Propheten und der blaue Himmel über der Stadt der Eingang zum Paradies sein können, wenn man mithin offen bleibt für die Spiritualität des Heiligen Landes, wird jeder Besucher beschenkt. Dies erfuhr ich zum ersten Mal nach unserer Ankunft beim Gottesdienst in einer syrisch-orthodoxen Kirche: die bescheidene Innigkeit in einer sicheren liturgischen Form. Der Ursprung selbst des modernsten Gottesdienstes einer charismatischen Gemeinde von heute liegt in der überkommenen Liturgie von Jerusalem. Sie will an die christliche Urgemeinde und ihren Gottesdienst anknüpfen, also den Teilnehmer an der heutigen Feier mit den Anfängen des Christentums verbinden. Zugleich soll die Liturgie mit ihrer strengen Form Vertrauen schaffen und Festigkeit geben, sollen Weihrauch und Lobgesang Priester und Gemeinde aus dem Alltag herauslösen. Während der Liturgie soll es weder Raum- noch Zeitgrenzen geben, soll das Paradies erlebbar werden. Die Zeit steht still, wenn Mönche mitten in der Nacht, von wenigen Kerzen beleuchtet, in den heiligen Büchern lesen und singen: ein paar Menschen in der dunklen Wüste, aus der plötzlich Frömmigkeit und Besinnung sprießen.

Eines meiner Lieblingsbücher wurde so die Geistige Wiese des Mönches Johannes Moschos, der kurz vor Beginn der islamischen Eroberungen um 550 n. Chr. das reiche geistliche Leben in und um Jerusalem für uns festhielt. Moschos wollte zeigen, dass Glauben und Philosophie eine Einheit bilden - ein Ansatz, den heute Papst Benedikt XVI. wieder in den Vordergrund rückt, wenn er Glaube und rationales Denken versöhnen will. In Jerusalem lernte ich, dass am Beginn der Klostergeschichte nicht das gemeinschaftliche Leben von Mönchen hinter Mauern stand, so wie wir das heute kennen, sondern die asketische Einsamkeit eines Eremiten in seiner Einsiedelei. Schon bald freilich bildeten sich Mönchssiedlungen, genannt "Laura", in denen die Einsiedeleien sich um ein Zentrum gruppierten.

Der griechische Begriff Laura lässt sich mit "Weg" oder "Straße" übersetzen, er kommt im 4. Jahrhundert in Palästina auf. In ihrer Einsamkeit setzten sich die Anachoreten in der Wüste den Urgewalten der Natur aus: Tag und Nacht, Hitze und Kälte, Wasser und Trockenheit, Leben und Tod. Dabei scheinen die Übergänge zu fehlen: Der Tag bricht innerhalb kürzester Zeit heran; die Nacht innerhalb von Minuten. Es gibt weder Herbst noch Frühling. Entweder es ist trocken oder die Wüste überflutet. In den Zentren feierten sie mit dem Priester die Liturgie, Kommunion, Taufe und Beichte.

Heilige Orte

Ich habe in Jerusalem gelernt, wie heilige Orte wirken: der Tempelberg oder Haram as-Sharif, jener weite Platz zwischen der al-Aqsa-Moschee und der goldenen Kuppel des Felsendoms. Das Plateau muss dazu nicht menschenleer sein. Es reicht die Kraft der archaisch wirkenden Gemäuer und der blaue Himmel, der sich in den blauen Kacheln des Felsendoms spiegelt. Über größte spirituelle Kraft verfügen das Katharinenkloster auf dem Sinai und die es umgebenden Berge. Dort konnte ich in jeder Nacht an der Liturgie teilnehmen, und am Tage begleitete ich einen der Brüder, die in verschiedenen Einsiedeleien die Ikonen beleben sollten.

Diese Einsiedeleien waren längst nicht mehr bewohnt, bisweilen kaum mehr zu finden. Der Mönch musste dort dann vor dem Gnadenbild eine Kerze anzünden und ein Gebet sprechen. Danach war die Einsiedelei mit ihrer Ikone wieder lebendig und konnte an seinen früheren Bewohner erinnern, an Heilige wie Cosmas oder Damian, Mittler zwischen Mensch und Gott. Unvergessen ist mir die Liturgie am "brennenden Dornbusch" um drei Uhr in der Nacht. Manche sagen, diese Kapelle hinter der Hauptkirche von St. Katharinen könne nicht der Platz gewesen sein, an dem Gott aus dem brennenden Busch zu Moses sprach. Aber ist das wichtig? Für die Mönche und ihre Besucher ist das der Platz, an dem an jenes Geschehen erinnert und in die Wirklichkeit des Glaubens geholt wird.

Yin und Yang und die heiligen Väter

Im Kloster lernte ich auch Norbert kennen. Schon als ich mit einem Taxi quer über den Sinai fuhr, fiel er mir auf: Ein etwa fünfzigjähriger Mann, einen Rucksack auf dem Rücken und ein zerfleddertes Buch in der Hand, ging mit einem Wanderschuh an dem einen und einer Sandale am anderen Fuß am Straßenrand entlang. Den Rest des Weges saß er neben mir im Wagen und berichtete, wie er als Masseur der Deutschen Fahrradmannschaft das erste Mal auf dem Sinai gewesen sei. Nun habe ihm seine Frau einen Urlaub hier gegönnt. Mit einem Buch über die fernöstliche Harmonielehre, über Yin und Yang, wolle er nun, müde von Stress und Arbeit, zur inneren Ruhe finden. Norbert schlief draußen im Gästehaus.

An jedem Tag trafen wir uns wieder, am Kloster oder irgendwo in der Wüste. Das konnte kein Zufall sein; auch nicht, dass mich seine fernöstlichen Neigungen in dieser für mich so christlich aufgeladenen Umgebung beunruhigten. Ich lernte bei den Wanderungen mit den Mönchen mehr über das Leben der heiligen Väter, über ihre Auffassung von der Harmonie zwischen Mensch und Natur. Auch die Alten versuchten ihre menschliche Enge spirituell zu überwinden. Ihre Weisheiten haben uns bis heute viel zu sagen, nicht zuletzt hatten sie sehr modern anmutende Kenntnisse über eine gesunde Lebensführung. Norbert jedenfalls reizte mich so sehr, dass ich ihm immer wieder Predigten über meine Eindrücke und Erfahrungen halten musste. Am letzten Tag geschah es: Ich hatte mich vor dem Ansturm der Pilger zur kurzen Stunde zwischen Tag und Nacht auf den Gipfel des Moses-Berges zurückgezogen und saß bei Jesus mit einer Tasse Tee - bei Issa, wie dieser Namen auf Arabisch heißt. So ließ sich der junge Beduine rufen, der die Pilger am Tage mit Wasser oder Tee und in der Nacht vor allem mit Decken versorgte.

Da kam Norbert angeschlappt. Ich konnte ihn schon hören, bevor ich ihn sah; und einen Moment spürte ich den Impuls in mir, mich hinter dem nächsten Felsen zu verstecken. Ich wollte schließlich diesen letzten Abend allein sein, gerade hier an dieser Stelle, an der Christen und Juden die Erinnerung daran pflegen, wie Gott einst Moses die Zehn Gebote übergab. Aber wegen dieser Gebote blieb ich dann doch, und Norbert setzte sich zu mir. "Du hattest recht", hob er an, "ich brauche dieses fernöstliche Buch nicht mehr. Meine eigene Kultur bietet mir alles das, was ich dort bisher nur vergeblich suchte." Was sollte ich darauf sagen? Ich habe ihn wohl mit großen Augen angesehen. Welche fromme Floskel ich stammelte, habe ich vergessen. Ich versuchte jedenfalls, besonders höflich zu sein, und brach doch unvermittelt auf. Der Platz und sein göttliches Mysterium hatten auf ihn und auf mich gewirkt. Ich hörte mein Blut rauschen. Ich sah den Sternenhimmel. Jerusalem beschenkt.

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Jörg Bremer

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