Rosen im Frost

Kultur-Tour: 50 Jahre türkische Literatur in Deutschland
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Vor fünfzig Jahren kamen die ersten Arbeiter aus der Türkei in die Bundesrepublik. Türkische Literatur wurde hier jedoch lange Zeit nur am Rande wahrgenommen. 2006 änderte sich das schlagartig, als Orhan Pamuk den Nobelpreis für Literatur erhielt.

Fünfzig Jahre ist es her, dass Türken und Türkinnen in der Türkei als Arbeiter und Arbeiterinnen für Westdeutschland und West-Berlin angeworben wurden. Ihre Kinder und Enkel sind längst in der Mitte der Gesellschaft angekommen, mit ihren Berufen, ihrer Gastfreundschaft und ihren Lebensgewohnheiten. Viele von ihnen sind in beiden Kulturen, in beiden Sprachen zu Hause - und können heute diese Zweigleisigkeit, auch dank günstiger Flugpreise, pflegen. Aber türkische Literatur? Ist die überhaupt in Deutschland präsent?

Nun, immerhin: In der Türkischen Bibliothek des Unionsverlags - einer Initiative der Robert Bosch Stiftung - sind in den letzten fünf Jahren zwanzig Bände erschienen, fünfzehn Romane und fünf Anthologien, darunter ein Essayband zur Geschichte der Türkei in Berichten von Zeitzeugen.

Verbotene Verse

Was aber war Anfang der Sechzigerjahre von türkischen Theaterstücken, Ro­manen und Gedichten hierzulande bekannt? Gewiss, an den Universitäten befasste man sich seit dem 19. Jahrhundert mit osmanischer und türkischer Literatur, seit Beginn des 20. Jahrhunderts waren vereinzelt Werke türkischer Schriftsteller ins Deutsche übersetzt worden.

Die Arbeiter, die ab 1960 kamen, waren aber natürlich weniger mit der Literatur vertraut, sie hatten Lieder im Kopf, von Yunus Emre und Pir Sultan Abdal - und Gedichte, auch von Celâlettin Rumi, genannt "Mevlâna", die seit Jahrhunderten von Mund zu Mund gehen - und die Verse von Nâzım Hikmet, die seinerzeit noch in der Türkei verboten waren.

Nâzım Hikmet: Bertolt Brecht veranlasste die ersten Übertragungen seiner Verse. Sie erschienen 1956 unter dem Titel Türkische Telegramme (hg. von Annemarie Bostroem) in Ost-Berlin. Hans Magnus Enzensberger nahm 1960 drei der Gedichte in seine Anthologie Museum der modernen Poesie auf.

Epen über Arbeiter

In den Siebzigerjahren wurden die Poeme von Aras Ören in den Feuilletons der überregionalen Zeitungen ausführlich besprochen. Heute gilt Ören als Nestor der Literatur der Migration, schilderte er in seinen lyrischen Epen doch gerade die Situation der türkischen Arbeiterfamilien treffend und deutlich. Seit Jahrzehnten veröffentlicht Yüksel Pazarkaya Übertragungen, Nachdichtungen türkischer Lyrik und eigene Romane und Gedichte. Als wegweisend gilt die Kultur- und Literaturgeschichte "Rosen im Frost - Einblicke in die türkische Kultur" (erste Auflage 1982).

In den Neunzigerjahren wurde man auf Nedim Gürsels Roman Der Eroberer aufmerksam, der die Eroberung Konstantinopels im Jahr 1453 aus der Sicht der Sieger wie der Besiegten schildert - und dies aus einer strikt pazifistischen Haltung heraus.

Also: Türkische Literatur war stets präsent. Allerdings wurde sie doch eher nur am Rande wahrgenommen. Das änderte sich schlagartig, als Orhan Pamuk im Jahr 2006 den Nobelpreis für Literatur erhielt. Plötzlich zog die türkische Literatur eine ganz neue Aufmerksamkeit auf sich, erst recht, als dann im Jahre 2008 die Türkei Gastland der Frankfurter Buchmesse wurde. Es kam eine Fülle von Büchern auf den Markt, Romane, Erzählungen und Lyrik, und da viele auch ausführlich besprochen wurden, waren dies schon nachdrückliche Leseanreize - vor allem natürlich für das gebildete und für die Literaturen der Welt aufgeschlossene Lesepublikum.

Die Literatur bildet eine Brücke zwischen den Kulturen. Das ist eine Binsenweisheit, aber auch eine unbestreitbare Tatsache. Literarisch jedenfalls ist die Brücke von der Türkei nach Europa geschlagen. Auf regen Verkehr ist zu hoffen.

Monika Carbe

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