Jenseits der Schuldshow

Wer auf den medialen Sündenbänken landet, kommt so leicht nicht wieder runter
Am Pranger: Die Verantwortlichen der Loveparade in Duisburg, bei der 21 Menschen starben. (Foto: dpa/Malte Ossowski/Sven Simon)
Am Pranger: Die Verantwortlichen der Loveparade in Duisburg, bei der 21 Menschen starben. (Foto: dpa/Malte Ossowski/Sven Simon)
Die Medien lieben es, Schuldige zu finden und zu richten - und manchmal zu begnadigen.

Das Publikum will Tränen sehen. Deshalb zoomen die Kameras auf das Gesicht, um den Wasserstand in den Augen zu überprüfen. Sind da unter der Maske am Haaransatz ein paar Schweißperlen zu sehen? Das Fernsehauge wechselt auf die Hände, die unter dem Tisch miteinander ringen. Ist er nervös oder tut er nur so?

Unbarmherzig wird der Filmausschnitt nun tagelang auf allen Sendern ge­zeigt und in heftigen Diskussionen in­terpretiert. Ex­perten und Zu­schauer beraten über dem öf­fentlichen Schuldbekenntnis eines ge­fallenen Golfstars. Je­de Ges­­te wird hundertmal an­ge­se­hen. Jeder Satz auf die Gold­waage gelegt. War sein Eingeständnis aufrichtig oder hat er uns nur was vorgemacht? Steht er zu seiner Schuld oder bleibt er hinter der Inszenierung von öffentlicher Reue uneinsichtig?

Schuld als Publikumserfolg

Schuldbekenntnisse sind in den USA ein Publikumserfolg. Ob Ehebruch oder Steuerhinterziehung, ob Missbrauch oder Ladendiebstahl - hat sich ein halbwegs prominenter Politiker, eine Schauspielerin oder ein Sportheld etwas zu Schulden kommen lassen, verlangt die Öffentlichkeit nach einer Schuldshow. Reue und Scham sind ein gängiger Gesichtsausdruck. Es soll Medienberater geben, die sich aufs öffentliche Beichten spezialisiert haben.

Das alte puritanische Ritual der Sündenbänke, auf denen im Gottesdienst die saßen, die im Laufe der Woche gegen eine ausgesprochene oder unausgesprochene Gemeinderegel verstoßen hatten, hat es auf unheimliche Weise bis ins 21. Jahrhundert ge­schafft. Der hochrote Kopf, die Verlegenheit, die Beschämung und die schweißnassen Hände, die mit diesem Ritual verbunden sind, kann sich jeder vorstellen, der ein wenig Ein­bildungskraft besitzt. Doch durften die, die auf den Büßerbänken saßen, nach dem Schuldbekenntnis wenigstens auf den Zuspruch der Vergebung hoffen. Sinnfällig wechselten sie dann zu­rück in die Ge­meindebänke. Der me­diale Schulddiskurs er­laubt einen solchen Wechsel nicht.

Im Internet am Pranger

Mit dem Internet ist auch der öffentliche Pranger neu in Mode gekommen: Ein aus der Haft entlassener Kinderschänder zieht in un­sere Stadt. Seht her, hier wohnt er, der Verbrecher. Das Strafmaß der Öffentlichkeit ist in jedem Falle le­benslänglich. Die Medienöffentlichkeit richtet unbarmherzig, hat ein geradezu pedantisch genaues Gedächtnis und ist bis in die Sprache so gnadenlos, dass das moderne Rechtssystem wie ein überkommenes Relikt wirkt. Sühne und Rache sind Be­gleitbegriffe, die ganz un­geniert gebraucht werden.

Die mediale Subkultur des Schulddiskurses ist die düstere Fratze einer aufgeklärten Rechtsordnung, die Schuld bemisst, aber auch Reue und Neuanfang ermöglicht. Die Wiederkehr der ­Schuld­obsession ist vielleicht die konsequenteste Antwort auf die mediale Inszenierung einer Glamourwelt der Schönen, Reichen und Perfekten, Suggestion einer Makellosigkeit, die ein wenig Schmutz geradezu herbeisehnen läßt. Wenn die Normalsterblichen schon nicht daran teilhaben, wollen sie die gefallenen Götter immer wieder stürzen sehen, ein dämonisches Ritual wie aus einem fernen Zeitalter, begleitet vom Soundtrack selbstgerechter Empörung.

Vergeben ohne Vergessen

Wer sich schuldig macht, wird immer wieder daran erinnert. Auf die Schuld folgt die Endlosschleife der Beschämung. Bildarchive und Interviews können jeder Zeit wieder her­vorgeholt werden. Nach dem Vergeben kommt nie das Vergessen.

Bei uns scheint die öffentliche Lust an der Schuld weniger ausgeprägt zu sein. Tritt ein Politiker zurück, ist nur selten von Schuld die Rede. Als die Bischöfin Margot Käßmann unter Blitzlichtgewittern schlicht und klar von "Schuld" sprach, fanden viele das außergewöhnlich und bemerkenswert. Lieber versteckt man sich hinter nebulösen Sätzen. Er "ziehe Konsequenzen aus den Vorkommnissen der letzten Wo­chen", sie "übernehme die politische Verantwortung" für die­se oder jene Verfehlung oder Unterlassung.

Nach der Loveparade

Das S-Wort ist zwar auch in unserer Kultur allgegenwärtig, doch verbindet es sich scheinbar eher mit Schuldenbergen, Schuldnerberatungen, Kreditbetrug und Steuerlasten. Unter der Ober­fläche, die die Rede von der Schuld vor allem mit Geldtrans­aktionen verbindet, ist das Thema "Schuld" jedoch überall präsent. Da­für braucht es nicht mal Fernsehkrimis. Die Fra­ge nach den Schuldigen ist bei jeder großen oder kleinen Katastrophe allgegenwärtig. Als bei der der Loveparade in Duisburg jun­ge Menschen bei einer Massenpanik zu Tode kamen, war der Ruf nach den Schuldigen fast lauter als die Trauer. Selbst wenn sich he­raus­stellt, dass ein Unglück das Er­gebnis vieler Fehl­ein­schätz­ungen ungünstiger Mo­­­mente war, suchen viele Menschen rastlos nach Verursachern. Zu schrecklich die Vorstellung, dass es niemanden gibt, den man zur Verantwortung ziehen kann.

Der Theologe Paul Tillich (1886–1965) hat sich deshalb geirrt, als er behauptete, nach dem Zeitalter der Schuld sei das Zeitalter des Sinns angebrochen und auch das Christentum stelle sich der Frage nach dem Menschen nicht mehr über das alte Thema „Schuld“. Schuld und Sinnhaftigkeit haben sich eher schon auf neue Weise verknüpft. Wer das, was in der Gesellschaft und im Privaten schiefläuft, nicht einer anonymen Schicksalsmacht anheimstellen will, die uns immer wieder zum Verhängnis wird, kommt ohne die Kategorie der Schuld schon deshalb nicht aus, weil sie die Kehrseite der Freiheit ist.

Keine menschliche Existenz ohne Schuld

Deshalb ist das "Schuldig-werden-können" die zweifelhafte Auszeichnung des Menschen als Mensch und das "Schuldig-werden-müssen" das Verhängnis, dem er nicht entgehen kann. Wer sich erst einmal schonungslos der Einsicht stellt, dass es keine menschliche Existenz gibt ohne schuldig zu werden, entweder durch unser Tun, oder noch tü­ckischer, durchs Unterlassen, Übersehen oder Verstolpern, wird nicht daran glauben können, dass der Schulddiskurs in unserer Gesellschaft über kurz oder lang verblassen wird.

Eher schon stellt sich die Frage, wie wir mit dem Schuldig-werden-müssen umgehen. Viel wird daran hängen, wie vital das Christentum bleibt. Denn der Um­gang mit der Schuld ist die eigentliche He­rausforderung. Noch vor ei­nigen Jahren konnte man ei­nen Bestseller landen, wenn man die Kirche nur ordentlich be­schimpft hatte wegen der Schuldgefühle, hervorgerufen durch einen falsch verstandenen christlichen Mo­ra­lismus und eine Sün­den­pre­digt, die Le­ben mit Lust und Leidenschaft unter Dauerverdacht stelle. Es ist ja auch was dran an der "Gottesvergiftung", die Men­­schen klein und un­si­cher ge­macht hat.

Umschuldung auf die Gesellschaft

Doch mittlerweile scheint das größere Problem ein Um­gang mit Schuld zu sein, der keinen Ausweg mehr bietet. Entweder wird das Schuldig-werden-müssen auf die Ge­sellschaft umgeschuldet. Dann verschwindet die Ka­tegorie der Verantwortung. Schließlich kann ja keiner was für die Verhältnisse, in denen er lebt. Oder Schuld wird so stark entmoralisiert, dass am Ende des Tages nur noch Rechtsbrüche gemeint sind. Alle anderen Formen von Schuld werden zu Fragen des Lebensstils und des Geschmacks umgedeutet. Betrug, Lüge, Verrat und Kränkung sind dann nur noch eine Frage der Perspektive oder des wechselseitigen Aushandelns.

Den Preis für diese Relativierung von Schuldverhältnissen zahlen immer die Opfer. Es gilt deshalb, die Relativierung zu relativieren. Was Beziehungen zerstört, und das ist im Kern das Problem der Schuld, bleibt auch dann Schuld, wenn der eine von beiden findet, dass man das doch nicht so eng sehen müsse.

Vergebung als Zivilisierung

Fataler als die Umdeutung ist wohl die Halbierung der Schuldgeschichten. In der Möglichkeit der Vergebung, die als die befreiende Botschaft des christlichen Glaubens vor aller Welt Gehör finden soll, steckt eine ungeheure Zivilisierung, die da gefährdet ist, wo wieder Rache und Reuemaßstäbe gesetzt werden, die keiner erfüllen kann. Die Schuldfixierung ist eben kein Erbe des Christentums, wie ihre ungebildeten Verächter neuerdings wieder behaupten.

Im Gegenteil. Das Chris­tentum fragt unerbittlich da­nach, wie Menschen aus Schuldverstrickungen he­raus­kommen. Das Bekenntnis, sei es öffentlich oder privat, die Wahrhaftigkeit und die Ehrlichkeit der Einsicht sind nur ein Teil der Botschaft. Der Zu­spruch der Vergebung ist der Teil, der bei den öffentlichen Schuldinszenierungen weggelassen wird. Oder die Me­dien spielen sich selbst zur göttlichen Instanz aus und begnadigen oder verurteilen nach eigenem Gutdünken. "Vergib uns unsere Schuld, wie auch wir vergeben unseren Schuldigern", heißt es im Vaterunser. Dieser Zu­sammenhang ist Welt­kul­turerbe geworden. Es wird aber verblassen, wenn Menschen die Bitte nicht mehr als ihr Gebet und ihre Le­bensform be­greifen.

Kultur der Scham

In der Welt gigantischer Speichermöglichkeiten sind Entlastung und Erlösung die größte Herausforderung. Wir brauchen nicht nur eine neue Schamkultur, die Schuld beim Namen nennt, schonungslos aufklärt und Verantwortliche benennt, so es sie denn gibt. Wir brauchen vielmehr auch eine neue Kultur der Scham. Wer die öffentliche Beschämung befürchten und von der tendenziellen Unverzeihbarkeit ausgehen muss, wird zwangsläufig zum Meister der Vertuschung.

Natürlich braucht es bei öffentlichen Ämtern auch öffentliche Einsicht und Verantwortung. Aber die gnadenlose Jagd auf die, die gefehlt haben, ist unmenschlich und dient nur der Schuldverschiebung. Nur wer keine öffentliche Be­schämung, keine Häme und keine Schikane fürchten muss, traut sich, zu seiner Schuld zu stehen. Das gilt für Schulkinder wie für Politikerinnen.

Verzeihen als gesellschaftliche Grundkategorie

Hannah Arendt, die jüdische Denkerin mit einem ausgewiesenen Interesse an der christlichen Theologie, hat das Verzeihen zu einer Grundkategorie auch des gesellschaftlichen Handelns erklärt. Ein heikler Satz, wenn damit ge­meint ist, dass Menschen Gott spielen sollen. Doch sie setzt das Verzeihen gegen die Unwiderruflichkeit des Getanen.

Die couragierte Beobachterin des Eichmannprozesses in Jerusalem, die immer wieder den barbarischen Abgründen des Menschen ins Auge gesehen hat, weiß natürlich: Keine Folge einer menschlichen Schuld lässt sich rückgängig ma­chen. Arendt neigt auch nicht zur Verharmlosung dessen, was Menschen an­deren schulden können – ihre Würde, ihre Existenz, ihr Leben. Geschichte ist in­sofern unwiderruflich. Doch lotet sie mit der Kategorie des Verzeihens, die Judentum und Christentum verbinden, die Möglichkeitsgewinne aus, die in der offensiven Schuldübernahme liegen.

Politische Folgen

Verzeihenkönnen bleibt eine theologische Kategorie, aber die Folgen sind politische. Wer zu seiner Schuld steht, wer einsieht, welch des­truktive Macht im eigenen Handeln wohnt, der sucht nach Vorkehrungen, um sich selbst künftig an­ders zu verhalten. Über Schuld wächst kein Gras, dazu ist der Boden zu vergiftet. Traumata und verletzte Gefühle sind im Ar­chiv der Gefühle oft lange aufgehoben.

Deshalb ist das Verzeihen auch oft kein einmaliger Akt, sondern ein Pro­zess, eine vertrauensbilden-de Maßnahme. Das braucht Zeit, Behutsamkeit und oft auch geschlossene Räume, in denen man sich alles sagen kann. „Wie auch wir vergeben unseren Schuldigern“. Dieser Satz des Vaterunsers ist die Verkürzung einer Lebenshaltung, die viel Übung verlangt.

Und das gilt nicht nur für die Lebensgeschichte des Einzelnen, sondern auch für Völker. Es gibt Gesten der Neuorientierung und den Willen, das eigene Verhalten künftig nach anderen Kriterien zu richten. Ja, der Geist des Verzeihens kann sogar ins Recht einwandern. Die Mühe lohnt sich. Das Verzeihenkönnen ist die menschliche Möglichkeit des Neuanfangs, ein abgeleiteter Neuanfang, einer, den Menschen sich nur deshalb zusprechen können, weil er ihnen zugesprochen ist. Und das macht frei.

Die Autorin ist Kulturbeauftragte der EKD.

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Petra Bahr

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