In der Grauzone

Geschichten aus dem Leben
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Der Strafverteidiger Ferdinand von Schirach hat in einem Erzählband fünfzehn Fälle aus seinem Berufsalltag zusammengetragen und in Literatur verwandelt.

Ferdinand von Schirach ist Strafverteidiger. Sein täglich Brot ist die Frage nach Gut und Böse, nach Schuld und Unschuld. Fünfzehn Fälle aus seinem Berufsalltag, wie sie unterschiedlicher kaum sein können, hat er in einem Erzählband zusammengetragen und in Literatur verwandelt. Alle eint: Es geht um Schuld.

Gleich in der ersten Geschichte erzählt er, wie er als junger unbedarfter Anwalt einen Fall übernahm: Neun Männer einer deutschen Blaskapelle vergewaltigen eine Siebzehnjährige, liefern einen Exzess der Brutalität, zerstören ihr Leben. Verurteilt und so­mit juristisch schuldig gesprochen, wird keiner der Beteiligten. Denn es gilt: In ei­nem Strafverfahren muss niemand seine Unschuld beweisen. Die Meute war kostümiert und somit für die junge Frau nicht identifizierbar. Und das gemeinsame Schweigen, von den Anwälten instruiert, half, der juristischen Schuld zu entkommen. Mangels an Beweisen folgte kein Schuldspruch.

Von Schirach wusste, dass er und sein Anwaltskollege mit dem juristisch richtigen Urteil selbst schuldig wurden: "Wir wussten, dass wir unsere Unschuld verloren hatten und dass das keine Rolle spielte... Wir waren erwachsen geworden."

Rechtschaffene Täter

Fast alle Geschichten schildern Gewalt. Vergewaltigung, Kindstötung, Mord. Immer geht es um die Schuld, doch die liegt meist nicht auf der Hand. Wie in der Geschichte, in der ein psychopathischer Gewalttäter im Wagen auf sein weibliches Opfer wartet. Ein Autofahrer erwischt ihn unabsichtlich beim Aussteigen, so dass der Mann noch auf dem Weg ins Krankenhaus stirbt. Der Autofahrer büßt für seinen Unfall mit einem Jahr und sechs Monaten auf Bewährung, obwohl er einem anderen Menschen das Leben gerettet hat.

Die Frage nach Schuld und Schicksal wird an den Lesenden abgegeben. Kurzum: Die Rechtsauslegung deckt sich nicht immer mit unserem moralischen Empfinden. Während Schuld im Gerichtssaal durch einen persönlichen Verstoß gegen das Strafgesetz definiert wird, zeigen von Schirachs Geschichten aus dem Leben, dass der Mensch oft nur von einer schicksalhaften Grauzone von der Schuld getrennt ist. In seinem Erzählband sind es meist Menschen, die sich in ihrem Leben gut eingerichtet haben, mit Kindern und eigenem Haus, die Steuern werden bezahlt. Rechtschaffene wäre wohl ein naheliegender Begriff.

"Die Dinge sind wie sie sind", diesen Satz von Aristoteles stellt der Strafverteidiger seinen Fällen voraus. Der Leser bemerkt bald: Weder verurteilt, noch bewertet von Schirach seine Mandanten, er räsoniert auch nicht. Wie ein Berichterstatter betrachtet und beschreibt er nur das, was er sieht. Zeigt die menschlichen Schicksale, die sich hinter einem Fall verbergen. Das zur Tat führende "Warum" für die Bewertung der Schuld zu ergründen, bleibt dabei dem Lesenden nicht erspart. Umso grausamer erscheinen im Kontext die so genannten Spiegelstrafen des Mittelalters: Wo einfach die Hand abgehackt wurde, die gestohlen hat.

Menschliche Abgründe

In der Form des Ich-Erzählers schildert von Schirach fünfzehn Fälle aus der strafrechtlichen Praxis, verfremdet und literarisch verdichtet. Kurz und knapp lesen sich seine Sätze, schnörkellos, fast kühl distanziert. Doch niemand kann diesen brutalen und bisweilen unglaublichen Verbrechen entgehen; sie führen in menschliche Abgründe und zwängen dem Leser ständig die Frage nach der Schuld auf, fern ab jeder Juristerei. Der Erzählband Schuld ist eine überaus lesenswerte Lektüre über den schmalen Grad zwischen Schuld und Unschuld, auf dem wir uns bewegen.

Ferdinand von Schirach: Schuld. Piper Verlag, München 2010, 206 Seiten, Euro 16,95.

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Kathrin Jütte

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Kathrin Jütte

Kathrin Jütte ist Redakteurin der "zeitzeichen". Ihr besonderes Augenmerk gilt den sozial-diakonischen Themen und der Literatur.


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