Gewisse Nüchternheit

Gespräch mit Klaus Brackmann über seine Nachtarbeit in der Rettungsstation eines Berliner Krankenhauses
Foto: Rolf Zöllner
Foto: Rolf Zöllner
Dr. med. Klaus Brackmann (56) arbeitet schon lange in Notaufnahmestationen, häufig in Nachtschichten, seit vier Jahren im Urbanklinikum in Berlin. Wie viel Stress das mit sich bringt und wie er damit fertig wird, erläutert er im Gespräch.

zeitzeichen:

Herr Dr. Brackmann, Sie sind Arzt in der Notaufnahme des Urbankrankenhauses in Berlin-Kreuzberg. Dort arbeiten Sie häufig auch in Nachtschichten. Welches Ereignis in den vergangenen Wochen hat Sie am meisten bewegt?

Klaus Brackmann:

Das ist gar nicht so leicht zu beantworten, denn die Nachtdienste sind ziemlich homogen. Über die Jahre hinweg wiederholen sich die Ereignisse, und man wird natürlich auch routinierter. Doch gibt es immer wieder dramatische Situationen, die mich sehr berühren. Vor einiger Zeit brachten zum Beispiel nachts türkische Eltern ihr totes Kind zu uns. Der Säugling war offensichtlich eines plötzlichen Kindstods gestorben, und diese Leute haben das Kind in ihrer Not hierhergebracht.

Die Eltern wussten, dass es tot ist?

Klaus Brackmann:

Man hat es eigentlich gesehen, aber ich kann nicht sagen, ob es die Eltern auch so wahrgenommen haben. Wir haben alles daran gesetzt, das Kind zu reanimieren, aber es war aussichtslos.

Wie häufig passiert in der Nacht so etwas Dramatisches, dass Menschen zwischen Leben und Tod zu Ihnen gebracht werden?

Klaus Brackmann:

Eher selten. Das Urbankrankenhaus ist kein Krankenhaus der Maximalversorgung, es gibt zum Beispiel keine Neurochirurgie. Leute mit schweren Schädelhirntraumata kommen also in der Regel gar nicht erst zu uns. Die Kollegen, die schon länger hier arbeiten, sagen, dass sie früher mehr Menschen mit Messerstichen in der Notaufnahme hatten. Das ist seltener geworden, möglicherweise, weil solche Fälle gleich in andere Krankenhäuser eingeliefert werden.

Wie lang ist Ihre Nachtschicht?

Klaus Brackmann:

Von 23 Uhr bis morgens 8 Uhr. In der Woche gibt es in dieser Zeit manchmal Ruhepausen, am Wochenende arbeiten wir in der Regel durch.

Unterscheiden sich die Patienten in der Nacht von denen am Tag?

Klaus Brackmann:

Ja, ziemlich deutlich. Mehr Alkohol, deutlich mehr Gewalt - das macht die Nacht aus, vor allem am Wochenende. Sie können sich vorstellen, dass es schwierig ist, mit betrunkenen Patienten umzugehen. Manchen macht der Alkohol zwar gute Laune. Das ist aber eher die Ausnahme. Einige werden aggressiv. Vor allem in den späten Nachtstunden oder frühen Morgenstunden überwiegen die Gewaltopfer nach Schlägereien. Auch die sind fast immer Folge von Alkoholkonsum.

Opfer von Raubüberfällen behandeln Sie nicht so oft?

Klaus Brackmann:

Nein, kaum. Das nimmt in den Medien einen viel breiteren Raum ein, als es unserer Arbeit entspricht und gehört nicht zum üblichen Wochenendprogramm. Kreuzberg ist ja inzwischen eher ein Vergnügungsviertel geworden. Da ist Aggression ein Abfallprodukt.

Mussten Sie sich während einer Nachtschicht auch schon mal körperlich verteidigen?

Klaus Brackmann:

Nein, das mache ich nicht. Meistens gibt es da doch eine Grenze, die auch aggressive Patienten nicht überschreiten, wenn man selber ruhig bleibt. Verlassen kann man sich darauf natürlich nicht. Wir haben seit einiger Zeit einen Security-Mann, der von nachmittags vier bis morgens vier im Wartezimmer und in der Aufnahme patrouilliert. Seitdem wird man als Arzt seltener mit bedrohlichen Situationen konfrontiert.

Handelt es sich bei den alkoholisierten Patienten überwiegend um Männer?

Klaus Brackmann:

Ja. Aber es werden auch genügend alkoholisierte Frauen eingeliefert. Hinsichtlich des Grades der Alkoholisierung gibt es da keine großen Unterschiede.

Was ist mit jugendlichen Koma-Säufern? Bekommen Sie von denen etwas mit?

Klaus Brackmann:

Nicht sehr viel. Vielleicht liegt das daran, dass in unserem Einzugsgebiet sehr viele Jugendliche türkischer, libanesischer oder palästinensischer Herkunft sind. Bei denen ist Alkohol nicht so verbreitet.

Werden also Jugendliche mit Migrationshintergrund in der Nacht weniger auffällig als andere?

Klaus Brackmann:

Nein. Es spielen ja auch andere Drogen als der Alkohol eine Rolle. Man lernt als Arzt ganz unabhängig von der Herkunft der Patienten die unterschiedlichsten Drogen- oder Rauschzustände kennen. Ich war vorher in einem Krankenhaus im Osten, da hatte man eigentlich nur mit Alkohol zu tun. Hier ist das anders.

Also auch Heroin, Kokain, letztendlich der ganze Drogencocktail?

Klaus Brackmann:

Ja. Wobei Heroin eher auf dem Rückzug ist und Kokain und Designer-Drogen auf dem Vormarsch.

Mussten Sie erst Ihren Blick dafür schärfen, um welche Droge es sich handelt?

Klaus Brackmann:

Das ist für mich gar nicht so wichtig. Ich bin ja als chirurgisch tätiger Arzt in der Rettungsstation. Das heißt, wer kommt, hat Verletzungen und muss in dieser Hinsicht versorgt werden. Manchmal rate ich den Patienten zwar, erst einmal hierzubleiben und auszunüchtern. Wer aber trotzdem gehen will, der geht halt, den kann ich nicht festhalten. Wenn die Probleme des Patienten daher rühren, dass er zu viel an Drogen zu sich genommen hat, ist das Sache des Internisten, dann auch des Psychiaters, nicht des Chirurgen.

Sind Sie schon einmal einem Menschen, den Sie nachts in seinem berauschten Zustand erlebt haben, in den nächsten Tagen begegnet? Kommt das vor?

Klaus Brackmann:

Nein. Jedenfalls kann ich das nicht mit Sicherheit sagen. Manchmal grüßen mich Leute auf der Straße, die ich nicht einordnen kann. Aber ich kann mir schon denken, woher sie mich kennen.

Wie viele Menschen behandeln Sie während einer Nachtschicht?

Klaus Brackmann:

Zwischen zehn und zwanzig in einer durchschnittlichen Nacht am Wochenende. Das hängt aber auch ein wenig davon ab, von wem ich die Schicht übernehme. Junge und weniger erfahrene Kollegen überlassen mir meist eine Reihe von Patienten, einfach, weil sie noch länger für jeden Fall brauchen. Dann muss ich erst einmal die Patienten behandeln, die schon eine Zeitlang warten, ehe das eigentliche Nachtprogramm beginnen kann.

Auf der Website Ihres Krankenhauses gibt es viele sehr kritische Stellungnahmen von Patienten. Sie klagen über unfreundliches Personal, lange Wartezeiten, auch in der Notaufnahme. Wie stellt sich das aus der Sicht des Arztes dar?

Klaus Brackmann:

Das meiste hängt von der jeweiligen Situation in der Notaufnahme ab: Wieviele Menschen warten darauf, behandelt zu werden? Welche Erkrankungen oder Verletzungen haben sie? Und natürlich - wieviel Personal ist da? Die Personaldecke ist sehr dünn. Nicht nur hier in Berlin wird das Krankenhauswesen nach betriebswirtschaftlichen Kriterien betrieben. Das bedeutet ständiger Spardruck: immer weniger Ärzte, immer weniger Pflegepersonal. Meine Arbeit haben früher in der Tagschicht zwei Ärzte gemacht. Irgendwann geht es nicht mehr.

Die Belastung ist also gestiegen.

Klaus Brackmann:

Ohne Frage. Das Besondere an so einer Rettungsstelle ist ja unter anderem, dass man mehrere Dinge gleichzeitig machen muss. Es kommen immer mehrere Leute zur gleichen Zeit. Ich behandele jemanden, dann kommt der Notarzt und bringt einen anderen Patienten. Dann muss ich sofort dort präsent sein, muss mit dem Notarzt sprechen, ich muss liegen lassen, was ich gerade mache. Nebenher fragt vielleicht eine Schwester, was sie bei einem weiteren Patienten machen soll. Dazwischen klingelt das Telefon. Mit einem Wort: Der Stress ist schon enorm.

Sind Sie in so einer Situation der einzige Arzt?

Klaus Brackmann:

Mit den chirurgischen Aufgaben stehe ich allein da. Es sind zwar immer ein Internist und ein Chirurg anwesend. Die haben aber nicht die gleichen Aufgaben, arbeiten also nicht wirklich zusammen. Wenn viel los ist, wenn der Stress steigt, kommt bei jedem Menschen der Punkt, wo er nicht mehr allen Ansprüchen gleichermaßen genügen kann. Dann muss er sich auf das Dringendste konzentrieren. Die Leute, die sich darüber beschweren, dass ihnen nicht die volle und höfliche Aufmerksamkeit zuteil wurde, haben aus ihrer Sicht ohne Zweifel Recht. Aber oft ist das Gesamtgeschehen so, dass das Personal bis zum Anschlag gefordert ist.

Wie oft fühlen Sie sich am Rande Ihrer Leistungsfähigkeit?

Klaus Brackmann:

Häufig. Sehr häufig. Ja.

Gibt es Zeiten, wo es ruhiger zugeht?

Klaus Brackmann:

Ja, in den Morgenstunden. Die Frühschicht ist sicherlich die bei weitem ruhigste Schicht. Ab Mittag erhöht sich dann kontinuierlich die Zahl der Patienten.

Haben Sie während Ihrer Schicht manchmal die Zeit, mit Kollegen zu reden?

Klaus Brackmann:

Nicht sehr oft. Wenn ich einen Patienten einem Kollegen übergebe, sprechen wir natürlich miteinander. Aber die Kommunikation erschöpft sich dann darin, dass ich kurz erläutere, was ich gemacht habe und wo ich weiteren Behandlungsbedarf sehe.

Es geht also immer nur um den Patienten, nicht etwa um Sie, möglicherweise gar um Ihr Befinden?

Klaus Brackmann:

Nein, dafür ist in der Regel keine Zeit.

Wann ist dafür Zeit? Ist dafür überhaupt Zeit?

Klaus Brackmann:

Wenig.

Es gibt unter den Menschen bekanntlich „Eulen“ und „Lerchen“, Nacht- und Morgentypen. Welcher Gruppe würden Sie sich zuordnen?

Klaus Brackmann:

Eher den Nachttypen. Oder sagen wir: Den Spät-Abend-Typen. In den Morgenstunden nimmt auch mein Schwung deutlich ab. Normalerweise würde ich so zwischen halb eins und halb zwei zu Bett gehen.

Auch Sie haben gelegentlich Urlaub. Wie kommen Sie mit der Umstellung des Schlafrhythmus und der plötzlichen Freiheit zurecht? Wie schalten Sie ab und um? Fühlen Sie sich manchmal gezwungen, Ihrem Erholungsbedürfnis in Nachtaktivitäten nachzukommen?

Klaus Brackmann:

In der Regel schlafe ich morgens lange. Je länger dann der Urlaub währt, desto früher stehe ich auf. Früher habe ich Phasen gehabt, wo ich nach all den Nachtdiensten mal eine Nacht durchgemacht habe. Das mache ich mittlerweile nicht mehr. Ich bin eben älter geworden.

Haben Sie schon vor Ihrer Zeit im Urbankrankenhaus in Rettungsstellen gearbeitet und Nachtdienste gemacht?

Klaus Brackmann:

Ja, ich habe mein ganzes Berufsleben in Rettungsstellen gearbeitet. Das hat wohl damit zu tun, dass ich zu der Generation gehöre, die nach dem Abitur nicht gleich einen Studienplatz bekommen hat. Ich habe vor Beginn des Studiums fünf Jahre als Hilfspfleger in einer Rettungsstelle in Westdeutschland gearbeitet, in Osnabrück, meiner Heimatstadt. Nach dem Studium war die erste Stelle, die ich bekommen konnte, wieder eine in der Rettungsstelle, und zwar in einer, in der interdisziplinär und selbstständig gearbeitet wurde. Das habe ich ganz gern gemacht - und bin in diesem Arbeitsfeld hängen geblieben.

Das heißt, Sie kennen die Situation des Pflegepersonals aus eigener Erfahrung ...

Klaus Brackmann:

Ja, und das ist hilfreich für die Zusammenarbeit. Zudem ist das Pflegepersonal, mit dem ich gegenwärtig zusammenarbeite, ausgesprochen fit und qualifiziert. Das liegt sicher auch daran, dass nur selten junge Pflegekräfte neu eingestellt werden. Immerhin bringt das den Vorteil, dass die Schwestern und Pfleger sehr viel Erfahrung haben.

Es fällt auf, dass Ärzte, zumal Krankenhausärzte, die ja über Krankheit und Gesundheit einiges wissen, wenig Gelegenheit dazu haben, selbst gesund zu leben. Sie gehören ihrer Lebenserwartung nach auch nicht gerade zur Spitzengruppe der Altwerdenden.

Klaus Brackmann:

Gegen den zeitlichen Strich zu arbeiten ist sicherlich nicht gesund. Erst vor einigen Tagen ist wieder eine Kollegin aus einer anderen Abteilung gestorben. Die hat ihr ganzes Leben geschuftet, dann war sie drei Jahre in Rente, und das war's. Ich bekleide nur eine halbe Stelle, das reicht mir finanziell, und so habe ich zwischen den Dienstblöcken immer lange Freizeit, in der ich mich mit ganz anderen Dingen beschäftige. Das empfinde ich als besonderes Privileg.

Als Arzt gehen Sie mit den Erlebnissen in Ihren Nachtschichten eher rational um. Können Sie noch das empfinden, was viele Menschen mit dem "Zauber der Nacht", dem romantischen oder gar dionysischen Aspekt dieser Stunden verbinden?

Klaus Brackmann:

Ja, dafür bin ich durchaus empfänglich. Mit zunehmendem Alter allerdings eher für die romantische Seite: Ich mache zum Beispiel gerne ausgedehnte Radtouren. Wenn ich dann die Dämmerung und den Übergang in die Nacht erlebe, dann lässt mich das schon durchatmen, das hat seine eigene Faszination.

Hatten Sie schon einmal Heiligabend oder Weihnachten Dienst?

Klaus Brackmann:

Ja, häufig. Aber das unterscheidet sich kaum von normalen Tagen. Man darf nicht vergessen: Hier in Kreuzberg lebt man in einer überwiegend nicht-christlichen Umgebung. Für unsere islamischen Mitmenschen ist Weihnachten eher ein Tag wie jeder andere. Etwas anderes ist es mit Silvester, dem ersten 1. Mai, dem Karneval der Kulturen an Pfingsten, da steigt die Arbeitsbelastung rapide.

Aber gibt es zu Weihnachten nicht doch eine besondere Stimmung im Team?

Klaus Brackmann:

Vielleicht wünscht man sich zur Begrüßung "Frohe Weihnachten", aber dann geht's auch weiter. Es ist einfach nicht die Zeit da, sich zusammenzusetzen. Allerdings gibt es seitens des Krankenhauses so eine verordnete Adventsbegrünung, Weihnachtsbaum im Wartezimmer, genormte Beleuchtung auf diversen Fluren. Nicht besonders geschmackvoll. Ich übersehe es einfach. Meine Weihnachtsstimmung fördert das nicht.

Sind die Patienten emotionaler?

Klaus Brackmann:

Nein. Da müssten schon besondere Umstände hinzukommen, etwa wenn sich eine alte Frau ausgerechnet an Weihnachten auf dem Weg zur Toilette den Schenkelhals bricht.

Die meisten Menschen geben sich gelegentlich einem Traum hin, wie sie ganz anders leben möchten. Kennen Sie das auch?

Klaus Brackmann:

Ich glaube, nichts im Leben ist optimal. Vielleicht hilft mir diese gewisse Nüchternheit. Aber ich muss auch sagen: Eigentlich bin ich mit meinem Leben zufrieden. Wäre meine Arbeit mit weniger Stress verbunden, wäre ich noch zufriedener. Aber ich kann sagen: Ich habe mein Leben so gestaltet, wie ich das gerne möchte. Und ich bin dankbar, dass ich das konnte und noch kann.

Das Gespräch führten Stephan Kosch und Helmut Kremers am 18. Oktober 2011 in Berlin.

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