Licht in der Finsternis

"Da wird keine Nacht mehr sein." Biblische Reflexionen
Rembrandt: „Anbetung der Hirten“, 1646. Foto: akg-images
Rembrandt: „Anbetung der Hirten“, 1646. Foto: akg-images
Fast überall in der Bibel ist die Nacht negativ konnotiert, und sei es auch nur, weil "niemand in ihr wirken kann", wie Jesus selbst bemerkt. Doch andererseits ist sie die Zeit, mit Gott zu ringen: Marcus A. Friedrich, Pfarrer in Bozen, lässt sich von der Bibel inspirieren, über Taghelle und nächtliches Dunkel nachzudenken.

Wer einmal ein Kleinkind hat ringen sehen mit dem Einschlafen, beim Kontrollverlust über sein eigenes Leben, als Hingabe an etwas, das mächtiger ist als es selbst, der bekommt eine Ahnung, was die Nacht einmal war, was sie ist und was sie sein wird, so lang die Erde besteht.

"Solange die Erde steht, sollen nicht aufhören Saat und Ernte, Kälte und Hitze, Tag und Nacht!", versprach Gott den Menschen nach der Sintflut. Alles natürliche Hell und Dunkel der irdischen Welt hatte er in Tag und Nacht zu Anbeginn der Schöpfung geschieden. Diese Grundeinteilung, im ersten Buch Mose, Kapitel 1,5 erzählt, bestimmt den Rhythmus des Lebens wie kein zweiter. Die Scheidung von Taghelle und nächtlichem Dunkel ist himmlische Hilfe zum Dasein, so die Tora.

Im ptolemäischen Weltbild konnte diese tägliche Veränderung nur als eine große Geste des himmlischen Weltenherrschers gedacht werden. Nacht und Tag bestimmten in einem Lebensraum fast ohne künstliches Licht Aktivität und Passivität. Wachsein und Handeln am Tag, sich dem Schlaf und Gott überlassen in der Nacht. Auch heute gilt trotz aller künstlicher Lichtquellen: Am Tage geben wir Kraft, des Nachts können wir sie sammeln. Das wird grundlegend möglich durch die Dunkelheit, ihr unweigerliches Hereinbrechen über alle Geschäfte.

Der Mensch muss sich hüten

Der Mensch sieht des Nachts im Finstern wenig, er ist um seinen zentralen Orientierungssinn gebracht: "Wer aber bei Nacht umher geht, stößt sich, denn es ist kein Licht in ihm." (Johannes 11,10)

Es macht also nichts, wenn man das Umhergehen sein lässt und die Augen schließt, man kann ohnehin kaum etwas machen. Die Nacht macht indes viel mit dem Menschen. Sie macht zu allererst Angst, denn sie erinnert an des Schlafes Bruder, den Tod. Und dann: Die Nacht ist dem Menschen gefährlich undurchsichtig. In der Dunkelheit lauern Gefahren für die zu hütende Herde (Lukas 2,8). Auch Diebe und andere zwielichtige Gestalten schleichen um die Behausungen (1. Thessaloniker 5,2). Und auch der Mensch selbst muss sich hüten. Denn es kann auch sein, dass in der Nacht der Tod kommt und man "die Seele von Dir fordern wird" (Lukas 12,20). Dann ist das Leben aus. Der Tod nährt das "Grauen der Nacht". In Psalm 91,5 wird er auch besungen, als "Pest, die im Finstern schleicht".

Darum gibt es sicher mehr Abendgebete als Morgengebete: weil sich Menschen auf dem Weg in die Nacht ihrer Angreifbarkeit, ihrer Verletzlichkeit und ihrer Endlichkeit bewusst werden und in dieser Erfahrung der einbrechenden Nacht beginnen, Gott zu suchen und sich selbst zu begegnen.

Einsam macht die Nacht. Der Nächste ist nicht sichtbar. Jeder geht den Weg in den Schlaf alleine, oder kann eben alleine nicht einschlafen. Umso mehr ist er sich selbst ausgesetzt, besonders in Trauer. "Ich schwemme mein Bett die ganze Nacht, und netze mit meinen Tränen mein Lager" (Psalm 6,7) - und in Zweifeln: "... auch mahnt mich mein Herz des Nachts." (Psalm 16,7)

Ort der exklusiven Gottesbegegnung

Es ist Nacht, als Jesus von Nazareth Gott im Garten Gethsemane seine Zweifel und seine Ängste hinwirft im Gebet, alles, was ihn umtreibt und nicht schlafen lässt. Die Mächte der Finsternis hat er vor Augen: "...so lass doch diesen Kelch an mir vorüber gehen." Jesus bleibt allein trotz all seiner Bitten. Seine Jünger können nicht wachen mit ihm. Sie schlafen den Schlaf der Verdrängung. Diese Einsamkeit Jesu ist der Beginn jener metaphorischen "Nacht, da niemand wirken kann", wie der Autor des Johannesevangeliums später deutet (Johannes 9,4). Die Nacht ist ein Ort trostloser Einsamkeit und der Verlassenheit von allen guten Geistern.

Die Nacht ist aber auch der Ort der exklusiven Gottesbegegnung. Herausragende Segensträger des Ersten Testamentes werden über Nacht zu "Stars". Allein ist Abraham, als er in der Dunkelheit der Nacht die göttliche Stimme hört: "Siehe gen Himmel und zähle die Sterne. Kannst du sie zählen?" (1. Mose 15,5) - Gottes nächtliche Verheißung nährt Abrahams Glauben.

Allein war auch Jakob in der Wüstennacht, und es fragt sich, wie er denn eigentlich schlafen konnte, geplagt von der Angst vor dem Zorn Esaus, seines Bruders, und den Zweifeln an seiner eigenen Hinterhältigkeit. Wahrscheinlich übermannte ihn der Schlaf, weil er von der Flucht vor der Blutrache völlig erschöpft war. Erstmals in der Bibel, lange vor der Heiligen Nacht, bricht in dieser Nacht der Himmel auf. Gott schickt seine leuchtenden Boten: Engel steigen hinab und herauf auf der Himmelsleiter. Durch ein Lichtloch am Himmel ist Gott zu erahnen und zu hören - wohlgemerkt im Traum Jakobs.

Der Tag bricht an

Die Nacht ist der Ort der intimen Begegnung mit Gott und sich selbst, nicht nur im Zweifel, sondern auch im Glauben, in der Gotteserkenntnis. "Führwahr, der Herr ist an dieser Stätte, und ich wusste es nicht", stellt Jakob am nächsten Morgen beglückt fest. "Den Seinen gibt‘s der Herr im Schlaf" (Psalm 127,2), möchte man meinen und selbst auf himmlische Träume warten. Doch wie selten kann man von sich behaupten: "Ich liege und schlafe ganz in Frieden..."! (Psalm 4,9) Den vielen Zweiflern und Grüblern ist das Wachliegen beschieden oder sogar das nächtliche Kämpfen. Ein Trost ist, dass die durchkämpfte und nicht die himmlische Engelsnacht Jakob später zu Israel gemacht hat. Gott, der namenlose Mann, den die Übersetzer immer wieder zu einem Engel degradieren, ringt am Jabbok mit Jakob und Jakob mit ihm: "Ich lasse dich nicht, Du segnest mich denn." (1. Mose 32,27) - Auch das ermöglicht die Nacht: Gott, den gefährlichen Angreifer, nicht loszulassen, sich nicht geschlagen zu geben, sondern den Segen zu erringen.

Es ist auch der Bruder, dem Jakob in der Gestalt des namenlosen Mannes gegenüber tritt. Kurz vor der Wiederbegegnung mit Esau klärt sich, dass sie miteinander um Segen ringen müssen. Wer die schlaflose Nacht im imaginären Streit mit Nahestehenden durchwacht, kann ein Lied davon singen, wie hart das sein kann. Es heißt nicht zufällig: "Jakob, du sollst jetzt Israel heißen, du hast mit Gott und mit Menschen gerungen und hast obsiegt!" Und ganz ohne Spuren gehen solche Nächte auch nicht am Menschen vorüber. Jakob wird künftig aus der Hüfte heraus hinken. Als er gesegnet wurde, ging es auf den Tag zu. In der Morgenröte segnete er ihn. Der Tiefpunkt der Finsternis ist überschritten. Der Tag bricht an.

Keine Einsamkeit im Stall

Eindrucksvoll rückt im Neuen Testament Lukas die Geburtsgeschichte Jesu in die Unwirtlichkeit der Nacht. Dieser Kampf ist subtiler: ein Ringen um Schutzraum angesichts der einbrechenden Dunkelheit und unter dem Druck, dass da einer das Licht der Welt erblicken will. Kinder richten sich mit ihrem Zur-Welt-Kommen nicht nach Tageszeiten. Sie kommen aus jener Sphäre, in der Tag und Nacht noch nicht geschieden sind, jenem göttlichen Raum, den auch Ultraschallbilder nicht entzaubern können.

Ein Stall diente mehr schlecht als recht als Herberge. Aber es herrschte keine Einsamkeit. Gemeinsam waren Maria und Joseph im Stall angekommen. Tiere zeugten von friedlichem Mitleben. Der nächtliche Himmel öffnete sich diesmal zuerst Hirten - furchtlosen Männern, zwielichtigen Gestalten -, er öffnete sich diesmal tatsächlich, so wird erzählt. Das brachte Licht in das Dunkel. Gott sei im Stande gewesen, die Dunkelheit außer Kraft zu setzen, diesmal nicht für einen Einzelnen, sondern für eine ganze Gruppe, diesmal nicht nur im Traum, sondern wirksam, erzählt Lukas. Angst hatten sie schon, die rauen Hirtenleute, allerdings nicht vor der Nacht, sondern vor den die Nacht ins Licht setzenden Erscheinungen. "Fürchtet Euch nicht!" - vorm göttlichen Licht -, so die Botschaft.

Das Kind Gottes kommt in der Nacht zur Welt, jenseits der Geschäftigkeiten des Tages. Die Nacht konzentriert das Geschehen, nicht nur, weil sonst alles ruht. Sie schafft auch Konzentration im wörtlichen Sinne. Die kleine Lichtquelle des Feuers, das Licht einer Lampe oder Kerze bestimmt ein neues Lichtzentrum. In der Krippe liegt jener, der nach dem Evangelisten Johannes sagen wird: "Ich bin das Licht der Welt!" Und der Mensch darf aus dem Off der Nacht, aus der Dunkelheit der Welt in den Lichtkegel dieses göttlichen Lichts treten.

Intimer Raum für Liebe

In der Intimität der Nacht kann Liebe besonderen Raum gewinnen. Die Nacht ist auch geschaffen für intensive Liebesbeziehungen, nicht nur jener erotischen Liebe zwischen Mann und Frau, die im Hohelied besungen wird, sondern auch der sinnlichen geistlichen Liebe zwischen Gott und Mensch, Mensch und Gott, die innerlich erleuchtet und erwärmt. Sie spiegelt sich in der Liebe zu einem Neugeborenen ab. Dies ist das große Zeugnis der Lukanischen Geburtsgeschichte.

Göttliches Leben, göttliche Liebe weiht jene Nacht. Grund zu Feiern bis heute. Die Einsamkeit des Menschen ist überwunden, indem die Nacht überwunden ist. Gott ist da, im Licht der Krippe.

Doch ganz so ideal beleuchtet stellte sich den ersten Christen die Welt dann doch nicht dar. Trotz dem, was da in Bethlehem geschah, schien die Nacht der Welt offensichtlich noch nicht um zu sein. Aber: "Das Licht scheint in der Finsternis. Und die Finsternis hat‘s nicht ergriffen." (Johannes 1,5) Die prophetischen Worte vom Volk, das im Finstern wandelt (Jesaja 9,1-6), klingen nach bis heute. Genauso wie das: "Ich bin das Licht der Welt. Wer mir nachfolgt, soll nicht wandeln in der Finsternis, sondern das Licht des Lebens haben", das über beinahe jeder Taufkerze gesprochen wird. Immerhin: "Die Nacht ist vorgedrungen, der Tag aber nahe herbeigekommen." (Römer 13,12)

Mag Christus nicht immer als Licht der Welt entdeckt werden können, so doch mindestens als Morgenstern, als jener, der das Ende der Nacht um den jüngsten Tag schon erahnen lässt. Die Sterne als Bilder der Verheißung Abrahams kehren wieder in dem wegweisenden Stern über der Krippe.

Das Mahl zur Nacht

Bis dahin ist den Christen auch jenes abendliche, nächtliche Fest der Gemeinschaft gegeben, das zwar "Abendmahl" heißt, aber selten als Abendmahl gefeiert wird. Als festliches Mahl, das die Nacht erhellt, könnte es so erfüllend sein, das man singen mag: "Komm, lass diese Nacht nicht enden!". Und es könnte ein Zeichen gegen die Dunkelheit der Nacht setzen. Die Angst braucht dort nicht Raum greifen, wo Menschen das Licht Gottes feiern. Von der Osternacht her gewann ja auch die Auferstehung an Boden, wie das Licht im Morgengrauen über die Nacht gewinnt. Im Morgengrauen, noch im Dunkeln, machten sich die Frauen auf den Weg zum Grab, um die Auferstehung Christi zu bezeugen.

In einmaliger Weise besingt dies auch Psalm 139 und wendet noch einmal individuell, was im Großen kosmologisch gemeint ist: "Spräche ich: Finsternis möge mich decken, und Nacht statt Tag um mich sein, so wäre Finsternis nicht finster bei Dir und die Nacht leuchtete wie der Tag." (Psalm 139,11) - Gott kann die Nacht erhellen, sogar dann, wenn der Mensch sich regelrecht nach der Finsternis sehnt, wenn es ihn ins Dunkle der Nacht zieht, auch in den Tod. Warum? Der Psalmist spitzt zu: "Finsternis ist wie das Licht." Die Dualität von Nacht und Tag scheint bei Gott schließlich wieder aufgehoben. Es gilt nicht nur: "Dein ist der Tag und Dein ist die Nacht", sondern zukünftig radikaler noch: "Die Herrlichkeit Gottes erleuchtet sie, ... Die Völker werden wandeln in ihrem Licht; ... Da wird keine Nacht mehr sein." (Offenbarung 21,25)

Es ist ein genialer Schritt gewesen, das Geburtstagsfest Jesu auf die Wintersonnenwende, den Johannistag auf die Sommersonnenwende zu legen: "Er muss wachsen, ich aber muss abnehmen", lautet das Zeugnis des Täufers (Johannes 3, 30). Jedes Jahr wird dies aufs Neue im Zunehmen der Nacht bis Weihnachten und ihrem anschließenden Abnehmen anschaulich. So kommt der Tag als Gottes lichter Raum immer näher und die Nacht weicht zurück - für ein halbes Jahr jedenfalls, bis der Zyklus, zum Gedächtnis der Menschen, von vorn beginnt - ein Gedächtnis im Licht der Erlösung, und doch noch nicht ganz befreit von der Nacht dieser Welt.

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Marcus A. Friedrich

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