Des Todes verjüngende Flut

Novalis und seine Hymnen an die Nacht: "Zeitlos und raumlos ist der Nacht Herrschaft"
Alexander Harrison: "Solitude" (Einsamkeit), 1893. Foto: akg-images/Erich Lessing
Alexander Harrison: "Solitude" (Einsamkeit), 1893. Foto: akg-images/Erich Lessing
Novalis war kein Vertreter der Schwarzen Romantik, auch wenn Nacht und Tod eine seltsame Faszination auf ihn ausübten. Für ihn waren sie die Medien zu einer christlich-mystischen Erlösung, wie er sie sich ausmalte.

Hast auch du ein Gefallen an uns, dunkle Nacht? Was hältst du unter deinem Mantel, das mir unsichtbar kräftig an die Seele geht? Köstlicher Balsam träuft aus deiner Hand, aus dem Bündel Mohn. Die schweren Flügel des Gemüths hebst du empor. Dunkel und unaussprechlich fühlen wir uns bewegt -".

Das sind Worte aus den Hymnen an die Nacht, veröffentlicht 1800. Die Nacht als Faszinosum, das war etwas radikal Neues: "Trägt nicht alles, was uns begeistert, die Farbe der Nacht?" Auch der christliche Glaube muss nach Novalis, wenn er die Menschen begeistern soll, die Farbe der Nacht annehmen.

Dabei war die Nacht ursprünglich keineswegs die Zeit des Heiligen, sondern die der Mächte der Finsternis; das Dunkel war das Element alles Lichtscheuen. In der Nacht tat der Mensch gut daran, im Haus zu bleiben. Drinnen, am heimischen Herd, hörte er vielleicht das Käuzchen rufen, vom Friedhof her, zum Friedhof hin. Schaute er aus dem Fenster, zackten vor der Scheibe des Mondes geräuschlos die Schatten der Fledermäuse, wie schwarze Blitze, Boten der Hölle. Wer sich schlaflos wälzte, lauschte mit stillem Grausen der Totenuhr, dem Klopfen des Holzwurms im Holzwerk. Die Nachtluft, Träger krankmachender Fluidien, war ausgeschlossen, das Fenster blieb fest geschlossen.

Wir zucken über so viel Aberglauben die Achseln - spätnachts, auf großstädtischem Heimweg, bereitet uns höchstens die bevorstehende Fahrt mit der U-Bahn Unbehagen.

Es gibt so etwas wie eine Faustregel: Je urbaner, jünger, aktiver der (erwachsene) Mensch, um so mehr ist er geneigt, die Nacht zum Tag zu machen und zu bedauern, wenn er sie zum schnöden Schlaf nutzen muss, um den Anforderungen des kommenden Tages gewachsen zu sein.

Wer aber die Nächte allzu oft durchmacht, den flieht irgendwann der Schlaf. Stellt er sich endlich ein, so sind da noch die Träume. "Träume sind Schäume", das war seit je der Spruch aller Realisten: zur Beruhigung des aufgewühlten Gemüts bei schweißnassem Aufschrecken in der Nacht, zur Abwehr aller mantischen oder psychologischen Deutungsanmaßungen. Wen aber der Alb drückt, dem geht der nüchterne Realismus aus, und wo der Traum Bedeutendes oder Rätselhaftes oder gar Glücksverheißung vors innere Auge rückt, ist selbst der postaufgeklärte moderne Mensch davon überzeugt, dass "mehr dahinter steckt", im Zweifel der Sinn, der uns am hellichten Tag verborgen bleibt.

Licht und Finsternis, Tag und Nacht, hell und dunkel: das zieht sich als Ur-Dichotomie durch das Bewusstsein und die Seele des Menschen - und, religions- und kulturübergreifend, durch seine Symbolwelt. Nicht von ungefähr ist es die Scheidung, die Gott in der Schöpfungsgeschichte ganz am Anfang unternommen hat. Das Licht ist Quell des Lebens und alles Guten; das Dunkel der Tod und das Böse.

Weit über ein Jahrtausend lebten die Menschen im Licht des Glaubens. Aus Fanatismus im Namen des eigenen Glauben angerichtetes Unheil galt als eine Art Autodafé ("Glaubenshandlung"), welches das Licht nur noch heller aufstrahlen ließ. Doch irgendwann und zunächst unmerklich wurde man des "Theologengezänks" (Melanchthon) überdrüssig und auch der religiösen Vorwände für Scheiterhaufen und Krieg. Das Lichtlein des Glaubens flackerte eher in den Hütten als in den Palästen, und in den Gelehrtenstuben beugte man sich nicht mehr wie einst Hieronymus im Gehäus über die Heilige Schrift, sondern dachte und schrieb Ketzerisches, produzierte Zunder, um das triumphale Licht der Vernunft zu entzünden.

Age of Enlightenment, Siècle des Lumières, Verlichting: Die Aufklärung verdankt ihren Namen einer Lichtmetapher. Noch Kant führte seine praktisch-vernünftige Gottesgewissheit neben dem Sittengesetz in seiner und aller Menschen Brust zurück auf den Anblick des gestirnten Himmels über ihm, also auf das Licht, das das Dunkel durchbricht.

Doch vor dem Licht der Vernunft wichen zwar die dunklen Gespenster der Religion, die den Menschen einst geängstigt hatten, die Hölle dankte ab und damit die Angst vor dem himmlischen Gericht. Leider aber auch die Hoffnung auf himmlischen Lohn; die Profanierung der Welt hatte begonnen. Zwar ließen wenigstens die Klassiker in Weimar das Kleinliche der praktischen Aufklärung unter sich und erklommen Geisteshöhen, auf die, damit diese Welt eine bessere werde, die Menschen ihnen nur noch zu folgen hatten - aber ach, auch die mächtigsten Geistesaufschwünge konnten nicht darüber hinweg täuschen, dass ein Menschenleben, das nur noch trostlos im Diesseits steckt, elend kurz und folgenlos ist. Die Aufklärung war auf dem besten Wege, nach dem Himmel auch die Erde vollends zu entzaubern - bei Novalis wird der Befund rückprojiziert in eine fiktive Unheilsgeschichte vor Beginn der christlichen Heilsgeschichte: "... hinauf in den freyeren, wüsten Raum strebten die unkindlichen, wachsenden Menschen. Die Götter verschwanden mit ihrem Gefolge - Einsam und leblos stand die Natur."

Indirektes Licht

Ließe sich das aufhalten? Dazu dürfte das Licht nicht länger als einziges Medium aller Erkenntnis gelten. Vielleicht müsste gar die Ur-Symbolik, die Nacht und Finsternis mit allem Menschenfeindlichen assoziierte, umgekehrt werden. Was der Engel einst den Hirten zu verkünden hatte, war die frohe Botschaft gewesen: Die galt es, wieder zu hören. Das "Fürchtet euch nicht" war auch ein Wink, dass die Finsternis nicht länger das Element des Bösen war. Das jedenfalls meinte Novalis. Anderen Romantikern geriet das Lob der Nacht zu einem Lob der Nachtseite der Menschheit und der alten Mächte der Finsternis - der Übergang zur "Schwarzen Romantik" war fließend.

Das Leitlicht der Romantiker aber war das des Mondes. In seiner indirekten Beleuchtung stellten sich die ersten und die letzten Dinge anders dar als im kalten Licht der Aufklärung.

"Zwei Männer in Betrachtung des Mondes" - Caspar David Friedrichs berühmtes Gemälde verkündet gleichsam das Programm: Über den Himmelskörper lässt sich eine Ewigkeit anvisieren, die nicht mit Vernichtung droht, sondern anzieht, mit "Ahndungen", die Geborgenheit versprechen, vielleicht gar ein Wiedersehen in einem kaum noch geglaubten Drüben.

Am Entschiedensten wurde das in den "Hymnen an die Nacht" in Worte gefasst. Beim jungen Novalis gab es noch nichts von biedermeierlichem Einrichten im Schön-Schauerlichen, bei ihm war alles Furor und Ekstase. Darin aber war er ein echter Romantiker, dass er das kühn geträumte Neue unbedingt in der Geschichte wurzeln lassen wollte. Das Neue, hieß das, hat die Würde des Alten, nämlich des Ursprünglichen.

Friedrich Freiherr von Hardenberg, so Novalis‘ eigentlicher Name, Sohn eines strengen Pietisten, war schon auf der Schule als Hochbegabter aufgefallen, er studierte Bergwerkswesen und stieg rasch in der sächsischen Staatsverwaltung auf. Er war alles andere als ein Träumer im Winkel, immer produktiv, hyperaktiv, unter Freunden geradezu aufgedreht, dabei ein mädchenhaft-zarter Typ mit langem Blondhaar. Mit 23 verliebte er sich, auf den ersten Blick und unbedingt, in die dreizehnjährige Sophie von Kühn, die zwei Jahre später starb; forthin besang er sie wie einst Dante seine Beatrice, Petrarca seine Laura (was ihn nicht an einer weiteren späteren Verlobung hinderte).

Aber Novalis, 1772 bis 1801, war selbst ein Todgeweihter. Er war lungenkrank und ahnte, dass er nicht mit einem langen Leben zu rechnen hatte. Vielleicht rührt es daher, dass er seine Wendung zum Christentum als Wiedergewinnung einer Ewigkeitsperspektive betrieb. Aber was für eine Religion kam dabei heraus! Hier reimte einer sich Nacht und Tod und Eros zusammen: Die Toren "wissen nicht, daß du (der Schlaf) es bist, der des zarten Mädchens Busen umschwebt und zum Himmel den Schoß macht". Wie in einem Vexierbild irrlichtert die Liebessehnsucht zwischen irdischem und dem himmlischen Liebesobjekt, Jesus, - das erinnert an die mittelalterliche Mystik und an den Grafen Zinzendorf.

In den Hymnen findet sich eine im wahrsten Sinne des Wortes obskure Theologie: In der Frühzeit lebte der Mensch im unmittelbaren Daseinsgenuss, im Licht, ganz wie seine Götter - "ein ewig buntes Fest der Himmelskinder und der Erdbewohner rauschte das Leben..." Das Bewusstsein aber von der unverrückbaren Finalität des Todes ließ alle Daseinslust und mit ihr die Götter sterben. Jesus musste kommen, um aus dieser Kälte und Ödnis zu erlösen. Doch er brachte den Menschen nicht etwa das kindliche reflexionslose Dasein im hellen Licht des Tages zurück, vielmehr überwand er den Tod, indem er Nacht und Tod zur Annäherungsstation und zum Ort eines endlich erlösten Seins macht. Das hatte kaum noch etwas von alten Himmelsvorstellungen, schon eher vom buddhistischen Nirwana.

"Nur wenig Zeiten, / So bin ich los, / Und liege trunken / Der Lieb‘ im Schooß ..." Hier ist dem Kontext nach nicht etwa die Vereinigung mit der verlorenen Geliebten gemeint, die Rede ist von Jesus: "O! sauge Geliebter / Gewaltig mich an, / Daß ich entschlummern / und lieben kann." - und von der Hingabe an den Tod: "Ich fühle des Todes / Verjüngende Flut, / Zu Balsam und Aether / Verwandelt mein Blut / Ich lebe bey Tage / Voll Glauben und Muth / Und sterbe die Nächte / In heiliger Glut." Es bedarf keiner Auferstehung. Der Tod ist, paradox gesprochen, bereits das wahre Leben.

Bei Novalis war die Poesie nicht länger nur Handwerkszeug zur Fertigung demütigen Gotteslobes, sondern das eigentliche und vielleicht einzige Mittel, zum Glauben zu überreden. Das hatte etwas von Alchimie und roch schon ein wenig nach Schwefel und den Blumen des Bösen. Auf viele Zeitgenossen aber wirkte es wie Opium - "köstlicher Balsam aus dem Bündel Mohn"; kein Wunder, dass der Meister des Maßes, Goethe, dazu nur demonstrativ schweigen konnte. Aber Novalis taugte nicht als Rattenfänger, noch brachte er es zum Religionsstifter. Was er begonnen hatte, wurde tausendfach ironisch oder allzu biedersinnig gebrochen, und im zunehmend prosaisch werdenden 19. Jahrhundert wurde es zwischen rücksichtslos fortschreitender Industrie und Spitzwegidylle zum Häkeldeckchen degradiert. Mondscheinromantik, das war nun Sentimentalität bis hin zum Kitsch.

Zwar benutzen wir in der Alltagssprache noch unentwegt die ganze Symbolik von Licht und Schatten, Licht und Finsternis, Tag und Nacht - aber die Nacht hat ihren Schrecken und auch das Geheimnis ihres Andersseins verloren. Idealerweise ist sie entweder Refugium der Erholung durch Schlaf - wenn er ruhig ist, verdankt sich dies weniger dem Gebet als der Befolgung der Gebote eines gesunden Lebens. Oder die Nacht wird zu dem Raum, in den hinein sich aktiv ausgelebte Lebenslust verlängern kann. Und wie steht es mit Religion und Glaube? Nach wie vor werden die alten Rituale von Heiliger Nacht und Osternacht begangen, in zunehmend ins Diesseits driftender Symbolik. Was Novalis als suggestive Verlockung gedacht hatte, wird heute wohl auch von den meisten Christen als etwas Bedrohlich-Unabwendbares begriffen: "Zugemessen ward dem Lichte seine Zeit; aber zeitlos und raumlos ist der Nacht Herrschaft. - Ewig ist die Dauer des Schlafs."

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Helmut Kremers

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