Riskantes Dasein

Nicht auf Ratgeber verlassen
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Von "A" wie "Alkohol" bis "Z" wie "Zeitmanagement" werden zeittypische Phänomene abgearbeitet, die vor allem deshalb in unserem Leben eine Rolle spielen, weil dessen Weg und Formen nicht mehr von Traditionen bestimmt werden.

Den Begriff der "Risikogesellschaft" prägte der Soziologe Ulrich Beck. Die Produktion von Reichtum gehe einher mit derjenigen von Risiken, die, wie jener sinnvoll zu verteilen seien, so seine These. Beck sprach auch von der "Weltrisikogesellschaft", die man jetzt, bezogen auf den Kernkraftkomplex in Fukushima, im Zusammenhang mit dem dubiosen Begriff des "Restrisikos" erlebt. Liest man den Titel des neuen Buches des Kulturwissenschaftlers Frank Böckelmann, Risiko, also bin ich, kann man mithin auf ein sehr zeitbezogenes Werk tippen.

Allerdings analysiert Böckelmann in seinen stilbewussten Miniaturen wesentliche Gegenwartsphänomene, um über sie hinauszukommen.

Der die cartesianische Grundformel cogito ergo sum - Ich denke, also bin ich - umdeutende Titel soll bedeuten, das prinzipiell riskante Dasein müsse angenommen werden, weil die diversen Maßnahmen, Risiken zu minimieren, letztlich nur dazu führten, das Leben zu verpassen. So zeigt der 1941 geborene Autor, der als Wortführer der Studentenbewegung begann und sich allmählich einer auch konservativ geprägten, flexiblen kritischen Mitte näherte, dass existenzphilosophische Fragestellungen aktuell bleiben.

120 Stichworte findet man in diesem Band. Von "A" wie "Alkohol" bis "Z" wie "Zeitmanagement" werden zeittypische Phänomene abgearbeitet, die vor allem deshalb in unserem Leben eine Rolle spielen, weil dessen Weg und Formen nicht mehr von Traditionen bestimmt werden. Um der riskanten Freiheit Herr zu werden, gibt es Partnervermittlung und Potenzmittel ebenso wie soziale Netzwerke, Karriereberater und "Positives Denken", außerdem Gesundheitsvorsorge, Diät, Fitnesstraining und die Patientenverfügung. Und zu fast allem existieren Ratgeber - Therapeuten und Coaches nebst zugehöriger Literatur. Allerdings, so Böckelmanns These, sind auch diese im Grunde ziemlich ratlos.

Wozu rät dann dieses Buch? Zu Selbstvertrauen und letztlich auch wieder dazu, als wahres Glück die Beschränkung zu begreifen. Doch darf man ständig fragen, ob das, was wir "Beschränkung" nennen, nicht nur "geistige Beschränktheit" bedeutet und ob es eine Optimierungsmöglichkeit gibt. Mit ruhiger Überlegung und Besinnung auf uns selbst sollte es möglich sein, damit gelassen und mit Weile zu leben, Wagnisse aber nicht auszuschließen. "Nur wer ins Offene lebt, spannt seine Kräfte für langfristige Vorhaben an", gibt Böckelmann zu bedenken. Besonders mit Blick aufs Alter gelte es, "Ballast abzuwerfen", auch finanziellen, um sorglos(er) zu leben.

Und immer wieder empfiehlt der Autor, sich in Gemeinschaft zu begeben, seit alters her ein probates Mittel, auch zur Risikominderung. Religiöse Gemeinschaften erwähnt er dabei allerdings nicht, obgleich deren lebensweltlicher Rat in der Regel in eine ähnliche Richtung geht, freilich mehr das Gott- als das Selbstvertrauen betonen würde. Metaphysische Tröstungen scheinen für Frank Böckelmann eher entbehrlich zu sein. Er bleibt lieber konkret: Wer etwa die (gemeinsame) Elternschaft anstrebt, übt sich zugleich in Sinngebung durch Selbstentäußerung und lernt später selbstverständlich die Fähigkeit mit, öfter mal nachzugeben, laut Böckelmann eine "zeitgemäße Form der Askese".

Das ist aber nur ein Beispiel dafür, wie es dem Kulturwissenschaftler immer wieder gelingt, allgemeine, überzeitliche Dimensionen einzuholen, indem er die Widrigkeiten zeitgemäßer Risikostrategien benennt. Warum sollte man von einem Ratgeber weniger erwarten?

Frank Böckelmann: Risiko, also bin ich. Verlag Galiani, Berlin 2011, 302 Seiten, Euro 19,95.

Thomas Groß

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