Nach der Wahl: Das Volk geht

Der Südsudan vor der Unabhängigkeit - bedeutet das endlich Frieden?
Nach dem Referendum: Tauben symbolisieren die Hoffnung auf Frieden und Freiheit. Foto: dpa/Philip Dhil
Nach dem Referendum: Tauben symbolisieren die Hoffnung auf Frieden und Freiheit. Foto: dpa/Philip Dhil
Die Südsudanesen haben abgestimmt und sich mit überwältigender Mehrheit für die Loslösung vom Nordsudan und damit für die Unabhängigkeit ent­schieden. Marina Peter, die im Rahmen des Evangelischen Entwicklungs­dienstes (EED) für das Sudan Ecumenical Forum arbeitet, schildert, welch langer Weg bis zu dieser Wahl zurückgelegt werden musste.

In Juba, der Hauptstadt des Südsudan, herrscht kurz nach dem Referendum, in dem die Menschen sich in überwältigender Mehrheit für die Unabhängigkeit ihres Landesteils ausgesprochen haben, schon wieder hektische Betriebsamkeit. Begleitet von Feierlichkeiten für eine Vielzahl hochrangiger Gäste aus dem Ausland soll am 9. Juli 2011 die "Republik Süd-Sudan" offiziell ausgerufen werden, und bis dahin gibt es noch viel vorzubereiten.

Mit der Verkündung soll ein Schlussstrich unter mehr als fünfzig Jahre gewaltsamer Auseinandersetzungen zwischen Nord- und Südsudan gezogen werden. Die Menschen im Süden sehen diesem Tag mit unendlicher Freude und großen Hoffnungen entgegen, während im Norden Furcht und Unsicherheit herrschen. Noch aber sieht die Zukunft weder für den Norden noch für den Süden wirklich vielversprechend aus. Zu groß sind die Hoffnungen, zu vielfältig die Herausforderungen für den neuen Staat Südsudan, der in den sechs Jahren seit Unterzeichnung des umfassenden Friedensabkommens (Comprehensive Peace Agreement - CPA) trotz umfangreicher Teilautonomie und eigener Regierung (Government of Southern Su­dan - GoSS) erwartungsgemäß nur erste Schritte auf dem Weg der Umwandlung eines von Rebellen kontrollierten Gebietes ohne Infrastruktur oder zivile Verwaltung gehen konnte.

In den Bundesstaaten des Nordsudan herrscht seit Jahrzehnten Unzufriedenheit mit der Zentralregierung, die sich im Fall von Darfur zu einem anhaltenden Krieg entwickelte und dazu führte, dass sich während des Krieges auch Menschen aus dem Norden der jetzt im Süden regierenden Befreiungsbewegung Sudan People’s Liberation Movement/Army - SPLM/A anschlossen. Das Konzept "Neuer Sudan" der SPLM/A stammt von ihrem Führer John Garang de Mabior, der 2005, kurz nach seiner Vereidigung als erster südsudanesischer Vizepräsident des Sudan und Präsident des Südsudan, bei einem Flugzeugabsturz ums Leben kam. "Neuer Sudan" - das zielte auf die Beendigung der Marginalisierung weiter Teile der sudanesischen Bevölkerung ab, auf gleiche Teilhabe an Entwicklung, Wohlstand und politischer Willensbildung, auf die Demokratisierung von Gesellschaft und Staat.

Die Scharia sollte nicht länger Grundlage des öffentliches Rechtes sein (sie war es seit 1983), auch sollte die Politik der Arabisierung in dem Vielvölkerstaat ein Ende haben. Sie sollte durch eine Politik der "Afrikanisierung" abgelöst werden. Erst mit diesem Programm war es Garang gelungen, auch weite Teile der nicht-südsudanesischen Bevölkerung für den bewaffneten Widerstand zu gewinnen. Die vollständige Unabhängigkeit des Südsudan war hier noch nicht vorgesehen. Die Menschen im Süden glaubten aber weiter daran, dass es im Grunde um ihre Unabhängigkeit gehe - wie schon im ersten Krieg zwischen Nord- und Südsudan in den Jahren 1955 bis 1972, und in dem 1983 wieder entflammten Krieg.

Skeptische Freunde

Wie schwer sie es hatten, selbst wohlmeinende Freunde von diesem eigentlichen Ziel zu überzeugen, verdeutlicht ein kurzer Rückblick auf Ereignisse innerhalb der ökumenischen Bewegung: "Ich bin dagegen, dass wir uns für das Recht auf Selbstbestimmung einsetzen, mit der Gefahr, dass der Süden sich abspaltet. Schließlich ist es nicht einmal gesichert, dass die sudanesischen Kirchen wirklich die Stimme des Volkes repräsentieren ..." Nie werde ich diese Bemerkung eines hochrangigen internationalen kirchlichen Partners bei der Generalversammlung des Sudan Ecumenical Forum (SEF) Anfang 2002 in London vergessen. Und zu diesen Partnern zählen zum Beispiel Kirchenbünde wie der Ökumenische Rat der Kirchen (ÖRK), der Lutherische Weltbund (LWB), die EKD und zahlreiche kirchliche Hilfsorganisationen.

Dabei war das SEF 1994 auf Bitten der sudanesischen Kirchen gegründet worden. Sie konnten das betäubende internationale Schweigen angesichts eines furchtbaren Krieges mit zigtausenden von Toten, Hundertausenden von Vertriebenen und schwerwiegenden Menschenrechtsverletzungen nicht länger er­tragen. So wurde das SEF als internationales Advocacy-Netzwerk für Frieden, Menschenrechte und Versöhnung unter dem Dach des Weltkirchenrates in Genf im Jahr 1994 eingerichtet. Von Anfang an hatten die sudanesischen Kirchen versucht, Außenstehenden die furchtbare Situation der Bevölkerung na­he zu bringen - und die Gründe, warum so viele Südsudanesen sich als Menschen zweiter Klasse im Sudan empfanden und sich nach einem eigenen Land, getrennt vom Norden, sehnten.

Aber es sollte acht Jahre dauern, bevor sie es schafften, wenigstens von ihrer eigenen "ökumenischen Familie" verstanden zu werden. Immer wieder hatten sie in internationalen Treffen ihre Stimme erhoben, hatten erklärt, argumentiert, fast gebettelt - aber sowohl die internationale Gemeinschaft wie auch viele der ökumenischen Partner meinten, sie würden übertreiben, eigenen politischen Interessen folgen, oder wären ganz einfach nicht in der Lage, regionale, kontinentale und internationale "Realpolitik" zu verstehen, die niemals etwas erlauben werde, das möglicherweise zur Teilung des größten afrikanischen Landes führen könnte.

Dann kam das Treffen in London, und wieder einmal sagten hochrangige Minister der Regierung Großbritanniens, des ehemaligen Kolonialherren Sudans, aber auch der damalige Erzbischof von Canterbury den Sudanesen, der Ruf nach Selbstbestimmung sei von Vornherein zum Scheitern verurteilt, und sie sollten ihr Vorhaben besser so schnell wie möglich vergessen.

Noch heute erinnere ich mich an den Gesichtsausdruck der Südsudanesen, darunter viele Persönlichkeiten, die heute im Unabhängigkeitsprozess eine Rolle spielen. Aber es war schließlich eine Frau, Joy Kwaje Eluzai (im vergangenen Jahr wurde sie bei den ersten freien Wahlen ins südsudanesische Parlament gewählt), die in deutlichen Worten ausdrückte, was die meisten gefühlt haben mussten: "Ich kann das nicht länger aushalten! Was machen wir Südsudanesen nur falsch? Warum können wir unsere Stimme nicht zu Gehör bringen? Wa­rum versteht Ihr einfach nicht, was wir sagen? Wenn Ihr denkt, wir reden nur Unsinn, dann ist es besser, dass wir von jetzt an allein auf unserem Weg weitergehen!"

Die Zuhörerschaft war schockiert. Der Vorsitzende des SEF, Eberhard Hitzler, damals Leiter des Afrikareferates der EKD, musste die Sitzung unterbrechen. Nach hektischen Konsultationen schlug er vor, man solle zunächst das weitere Vorgehen in zwei getrennten Gruppen diskutieren: "Internationale" und Sudanesen jeweils allein. Und dann passierte das kleine Wunder. Beeindruckt von Joys starken Worten und provoziert von den oben erwähnten Zweifeln an der Glaubwürdigkeit der sudanesischen Kirchen, fassten einige ­Mitglieder der internationalen Gruppe Mut und wiesen die Zweifel an der Grundlage ökumenischer Zusammenarbeit energisch zurück. Schließlich, nach stundenlangen, teils hitzigen Diskussionen, waren sie in der Lage, die anderen zu überzeugen. Die internationale Gruppe kam zurück ins Plenum, vereinigte sich wieder mit der sudanesischen durch ein klares Bekenntnis, das spä- ter zu dem "doppelten Ja von London" werden sollte: "Ja zur Selbstbestimmung! Ja dazu, gemeinsam weiter zu arbeiten, bis der Friede kommt - und auch danach!"

Der Wendepunkt

Das war ein Wendepunkt. Das SEF setzte sich nun für das grundlegende Recht ein, dass Südsudanesen ihren Willen frei zum Ausdruck bringen und über ihre Zukunft selbst entscheiden dürfen. Folgerichtig - und, das soll nicht verschwiegen werden, auch zur Enttäuschung einiger Freunde - hieß das Papier, das aus dem Londoner Treffen resultierte: "Lasst mein Volk wählen" und nicht: "Lasst mein Volk gehen", wie Moses es vom Pharao gefordert hatte. Unmittelbar danach startete das SEF eine Kampagne für Selbstbestimmung - gegen ganz erhebliche Widerstände von verschiedenen Seiten. Immer unter klarer Leitung der sudanesischen Kirchen, führte das sef Versöhnungskonferenzen zwischen ethnischen Gruppen im Südsudan weiter, mit denen es 1998 begonnen hatte (People to People’s Peace Process), es veranstaltete zahlreiche Foren, in denen die Zivilgesellschaft aus dem Süd- und Nordsudan die anstehenden Themen diskutierte und ihre Papiere in die offiziellen Verhandlungen einbringen konnte; es organisierte zahlreiche Advocacy-Besuche in Afrika, Eu­ropa und den usa; das sef ernannte ei­nen Sonderbeauftragten, den späteren Generalsekretär des örk, Samuel Kobia, für Gespräche auf höchster diplomatischer Ebene. So wurde am 9. Januar 2005 ein Friedensvertrag geschlossen und das Recht auf Selbstbestimmung darin verankert.

Damit aber war es nicht getan - der Friedensvertrag wurde nur zögerlich umgesetzt, und die Gefahr des Scheiterns wurde Anfang 2010 so groß, dass alle Kräfte mobilisiert und alte Mitstreiter reaktiviert werden mussten, einschließlich der erneuten Berufung von Samuel Kobia, die Sudan-Sonderbeauftragung der EKD, jetzt besetzt mit Volker Faigle, wurde weitergeführt.

Heute, im Frühjahr 2011, haben die Südsudanesen ihr Recht auf Selbstbestimmung wahrnehmen können, und sich genau so entschieden, wie es unsere Partner all die Jahre vorhergesagt hatten.

Mission erfüllt? Nein, leider nicht. Die Probleme, die auf Regierung und Verwaltung des Südsudan zukommen, sind gewaltig: Es fehlt an ausgebildetem Personal, der lange Krieg hat ohnehin schwach ausgeprägte Strukturen zerstört, die vergangenen sechs Jahre wa­ren zu kurz, sie aufzubauen. Militärisch geprägtes Denken und ein Sicherheitsbegriff, der zunächst darauf abzielt, das eigene (politische) Überleben zu garantieren, statt sich am Konzept der "menschlichen Sicherheit" zu orientieren, haben zur Folge, dass ein Großteil staatlicher Ausgaben in den Militär- und Sicherheitsapparat fließt, das Rechtssystem noch nicht funktioniert und Korruption weit verbreitet ist. Zivilgesellschaftliche Gruppen sind noch schwach. Die Kirchen könnten helfen, aber viele wichtige ehemalige Kirchenvertreter sind heute im Regierungsapparat tätig.

Den Kirchen fällt es schwer, die Lücken zu füllen. Zwar herrscht im Süden ein säkulares System, aber die neue Rolle der Kirche im neuen Staat ist noch nicht gefunden, die Gefahr zu großer Staatsnähe nicht gebannt. Kirchen müssen aber dringend mit der Versöhnungsarbeit weitermachen, als neutrale Vermittler. Seit dem Referendum sind in einigen Bundesstaaten des Südsudan wieder Kämpfe aufgeflammt, teils aufgrund alter Streitereien um Wasser und Weiderechte, teils um politische Ämter; die Gefahr ist groß, dass sie, wie schon im Krieg, entlang ethnischer Grenzen weiter eskalieren werden. Besonders schwierig ist die Lage in Abyei, wo dieser Tage gekämpft wird. Hier ist das meiste Öl zu finden - und die Zugehörigkeit des Distrikts ist aus historischen Gründen zwischen Nord und Süd umstritten. Abyei wurde im Friedensvertrag gesondert das Recht auf Selbst­bestimmung zugesichert. Doch Nord- und Südsudan konnten sich nicht einmal darüber einigen, wer dort wahlberechtigt sein soll: nur die sich klar südsudanesisch definierenden Dinka-Ngok oder auch die arabisch-stämmigen Misseriya.

Probleme auf beiden Seiten

Der neue Staat jedenfalls steht nun vor der Aufgabe, die immens großen Erwartungen der Bürger in Bezug auf eine schnelle Entwicklung wenigstens ansatzweise zu erfüllen - und er muss zu einer Nation werden, in der sich alle gleichermaßen anerkannt fühlen. Dazu gilt es, die Wirtschaft aufzubauen und unabhängiger von der bisher einzigen Einnahmequelle, dem Öl, zu werden, Arbeitsplätze auch außerhalb von Regierung und Verwaltung zu schaffen.

Aber auch der Norden steht vor großen Problemen. Die Regierung unter dem mit Haftbefehl des internationalen Strafgerichtshofes gesuchten Präsidenten Omer El Beshir hat sich zwar in den Wahlen im April vergangenen Jahres wie die splm im Süden die absolute Mehrheit gesichert, sie muss jetzt aber erst einmal damit fertig werden, ein Drittel des Landes, und zudem das ressourcenreichste Drittel, verloren zu ha­ben.

Angesichts der vielfältigen Konflikte in dem verbliebenen Landesteil und ei­ner katastrophalen wirtschaftlichen La­ge wird sie derzeit die Vorgänge in den unmittelbaren Nachbarländern Ägypten und Libyen ganz genau beobachten. Vielleicht überlegt sie sich es ja doch noch einmal, ob sie auf dem angekündigten Weg weitergehen möchte: nämlich dem der vollen Wiedereinführung der Scharia, einer weiteren Arabisierung und des Wegfalls der Anerkennung der ethnischen, kulturellen und religiösen Vielfalt aus der Verfassung. Andernfalls wird es ihr eher nicht gelingen, den Norden zusammenzuhalten - zu viele Menschen sind schon jetzt unzufrieden und fordern ihre Rechte, und auf Dauer wird die nordsudanesische Regierung es nicht schaffen, die Proteste weiter gewaltsam zu unterbinden.

Die im Norden verbleibenden Kirchen sind mit dem Weggang der Südsudanesen in einer noch kleineren Minderheitsposition und müssen sich neue Verbündete suchen. Bei ihnen, wie auch bei vielen zivilgesellschaftlichen Gruppen, herrscht derzeit die Angst, dass sich westliche Partner jetzt verstärkt dem Süden zuwenden und sie in ihrem Ringen um Gerechtigkeit im Norden vergessen werden könnten.

Die internationalen Partner und Staaten schließlich sollten aus der Geschichte dieses Konflikts gelernt haben, in Zukunft eine noch so verführerische so genannte Realpolitik zu meiden und genau zu prüfen, wem man zuhört, wenn es um zukünftige Zusammenarbeit geht.

Marina Peter

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