"Endlich bin ich frei"

Geboren in der Sowjetunion, heute Deutsche: die Jüdin Eleonora Grusha
Eleonora Grusha. (Foto: Carola Wolf)
Eleonora Grusha. (Foto: Carola Wolf)
Eleonora Grusha ist vor fünfzehn Jahren als Einwanderin aus der Ukraine ­gekom­men. Nun ist sie sechzig gewor­den.

Eleonora Grusha wohnt mit ihrer Familie in Potsdam, seit fast sechzehn Jahren. "Mit siebzehn Kisten sind wir damals hier angekommen, und wir haben verstanden: Unsere Zeit in der Ukraine ist endgültig um." Sie spricht nicht von "Heimat", wenn sie von dem Land spricht, in dem sie geboren wurde und 45 Jahre lang gelebt hat. "Wir waren immer Juden" - das sagt sie, die in der Sowjetunion geboren wurde und in der Ukraine gelebt hat. Nein, sie fühlt sich weder als Russin noch als Ukrainerin, sondern als Jüdin.

Dass sie vor fünfzehn Jahren in Potsdam landeten, war für sie der reine Zufall - eine deutsche Stelle hatte sie dorthin geschickt. Doch nun feiert sie hier mit vielen Freunden und Verwandten ihren sechzigsten Geburtstag. Sie hat das Gefühl, endlich angekommen zu sein. Gern erzählt sie aus ihrem Leben - einem harten Leben, aber einem ohne Sensationen, gewissermaßen eine ganz gewöhnliche Geschichte. Und doch spiegeln sich in ihr die Verwerfungen des vergangenen halben Jahrhunderts ex­em­plarisch wider.

IhrLeben spiegelt die Verwerfungen eines halben Jahrhunderts wider

Grusha beginnt ihre Erzählung mit ihren Eltern. Die waren beide Zahnärzte und arbeiteten im Krankenhaus einer Kleinstadt. Das reichte nicht einmal für den bescheidensten Komfort. Sie hatten keine eigene Wohnung, sondern mussten im Badezimmer des Krankenhauses übernachten. Erst als Eleonora geboren wurde, bekam die Familie eine kleine Wohnung, ohne Wasser, und die Toilette befand sich draußen auf dem Hof. Kindergärten gab es nicht, so holten die Eltern Mariussa zur Unterstützung ins Haus, eine fünfzigjährige Bäuerin.

Mariussa war als junge Frau nach Deutschland verschleppt worden. Nach ihrer Rückkehr in die Heimat wurde sie wegen "Kollaboration mit den Deutschen" verurteilt und inhaftiert. Als sie entlassen wurde, war sie krank und verstört, selbst die eigenen Kinder wa­ren ihr fremd geworden. Doch jetzt gehörte Mariussa bald zur Familie, und für Eleonora wurde sie ein wichtiger Mensch: "Ich habe sie geliebt, es war schrecklich, als sie Jahre später wieder heiratete und wegging."

Mit dem Tode Stalins 1953 begannen die Verleumdungsprozesse gegen jüdische Ärzte. Eleonoras Vater musste sich vor allen Mitarbeitern den Anschuldigungen stellen - jeder wusste, dass das lebensgefährlich war. Aber es ging gut, und 1961 beschlossen die Eltern, in eine Großstadt zu ziehen, nach Charkow. Dort lebten sie auf zwanzig Quadratmetern, sie mussten sich eine Dreizimmerwohnung mit zwei anderen Familien teilen. Ein Nachbar zeigte Eleonoras Mutter an, weil sie einen westlichen Radiosender gehört hatte. "Es ist gut, dass manches in der Erinnerung verloren geht", meint Eleonora.

Angst vor Antisemitismus

1967 bestand sie ihr Abitur mit Auszeichnung und begann das Studium der Mathematik und des Elektroingenieurwesens. Aber es war die Zeit eines zunehmenden Antisemitismus. "Wir mussten politisch aufpassen: Auf der Bühne war das Leben schön, hinter den Kulissen schwer."

1972 kauften die Eltern eine eigene Wohnung auf Kredit, nicht ahnend, dass sie die drei Zimmer sechzehn Jahre lang mit der Tochter und deren Familie würden teilen müssen. Mit 23 Jahren heiratete Eleonora den zwölf Jahre älteren Chemiker Alexander, der kein Jude ist. Doch schon ein halbes Jahr später erlitt der 35-Jährige einen schweren Herzinfarkt. "Er sagte damals: 'Du bist frei'", berichtet Eleonora. "Aber wir haben bald begonnen, versuchsweise ein Leben zu leben, als ob nichts passiert wäre. Seither sind wir zusammen, und es hat nie Streit gegeben."

Immerhin konnte ihr Mann wieder als Wissenschaftler arbeiten. Und 1975 bekamen die beiden einen Sohn. Eines Tages erzählt das Kind zuhause, im Kindergarten seien sie alle russisch-orthodox getauft worden. Die Mutter protestierte im Kindergarten und wies darauf hin, dass sie Juden seien. Die Kindergärtnerin entgegnet: "Das ist doch nicht schlimm, wir sind doch alle Juden, Christus war auch ein Jude."

Eleonora beendete ihr Studium nicht, sondern wurde Schneiderin. Das er­wies sich als Berufung, schneidern konnte sie und tat sie gern. Kein Wunder, dass es zunehmend eng wurde in der Wohnung: Die Eltern hielten hie und da Privatsprechstunden ab, der Mann schrieb an seiner Dissertation, der Sohn "mit einem besonderen geistigen Vermögen", sagt Eleonora stolz, lernte für die Schule, sie selbst hatte Kunden zur Anprobe da. Aber eine Lösung für dieses Problem war vorerst nicht in Sicht. Schließlich wurde 1985 noch eine Tochter geboren - drei Jahre später erst bekam die Familie endlich ihre erste eigene Wohnung. Eleonora war vierzig Jahre alt.

Rettung durch ihre Schneiderei

1989: der große Umbruch. Die Sowjetunion löst sich auf. Charkow ist nun die zweitgrößte Stadt der unabhängigen Ukraine. Am Anfang stand das Aufatmen, die Leute schauten optimistisch in die Zukunft. "Es schien, als würde jetzt alles besser", sagt Eleonora, "aber es wurde schlechter. Der Staat hatte kein Geld. In sechs Monaten erlebten wir drei Inflationen." In dieser Zeit erhalten sie keinen Lohn, höchstens einmal einen oder fünf Dollar. Die Heizung funktioniert nicht, die Raumtemperatur schwankt zwischen neun und fünfzehn Grad. Eleonora erinnert sich an die Stimmung dieser Zeit: "Die Menschen wurden schnell aggressiv, jeder versuchte, nur einigermaßen zu überleben."

Für viele bedeuteten die Gärten der Datschen die Rettung - die Familie Eleonoras rettete die Schneiderei. Eleonoras Arbeitstag begann um fünf Uhr morgens. Doch die Unsicherheit war für alle eine Belastung; der Vater wurde krank, die Kinder stritten sich. Eleonoras Eltern waren mittlerweile alt geworden; ihr Mann Alexander litt an gesundheitlichen Problemen, dem Sohn drohte der Militärdienst, den er, so glaubt Eleonora, nicht überstanden hätte. Irgendwann hatte Eleonora keine Hoffnung mehr, dass sich das Blatt noch wenden könnte. Die Tochter aus Alexanders erster Ehe lebte in Berlin. Sie machte der Familie Mut, zu emigrieren: "Deutschland hat sich für die Juden geöffnet."

Vier Jahre mussten sie warten, bis sie die "Enquete" für die Einreise einreichen durften, ein weiteres Jahr verging für die Bearbeitung der Papiere in der Deutschen Botschaft in Kiew.

Eleonora nutzte die Zeit, um Deutsch zu lernen - mit Hilfe von Isabel Allendes Roman Das Geisterhaus. Nach einem dreimonatigen Sprachkurs konnte sie das Werk ohne Wörterbuch lesen. 1995 erhielt die Familie die Ausreisegenehmigung, auch die beiden alten Eltern durften mit. Der Sohn aber musste seine Verlobte zurücklassen.

Die Verlobte zurücklassen

Die Familie hatte kein konkretes Ziel, so wurde Eleonora Potsdam zugeteilt. Zunächst näht sie wieder, knüpft erste Kontakte und lernt die Berlin-Brandenburgische Auslandsgesellschaft kennen. Hier erhält sie eine einjährige Ausbildung zur Migrationsreferentin. Hilfe zur Selbsthilfe ist das Prinzip. Sie betreut russische Migranten, ist ehrenamtlich in der jüdischen Gemeinde tätig und wird in den Vorstand gewählt. Zwischendurch ist sie Ein-Euro-Jobberin und bildet sich an der Fachhochschule weiter.

Seit 2004 ist sie bei der Zentralen Wohlfahrtsstelle der Juden angestellt und betreut in Potsdam tausend ehemals sowjetische Bürger, Juden und Nicht-Juden, die in den letzten Jahren nach Potsdam zugezogen sind. Gerade hat sie sich entschieden, ihre Arbeitszeit von vierzig auf dreißig Wochenstunden zu reduzieren, um etwas mehr Zeit für die Familie zu haben. "Zum ersten Mal in meinem Leben kann ich mir das leisten", sagt sie.

Eleonoras Vater ist in Potsdam gestorben, ihre Mutter lebt in einer eigenen Wohnung. Ihr Mann, bei der Übersiedlung schon an die Sechzig, hat sein Hobby zum Nebenberuf gemacht: Er fotografiert meisterhaft, gestaltet Bücher und lädt hin und wieder zu Ausstellungen ein. Der Sohn hat seine Verlobte nachgeholt und ist längst mit ihr verheiratet, er ist beruflich erfolgreich und lebt in Berlin; die Tochter studiert in Leipzig.

"Mein Leben mag im Rückblick hart aussehen", sagt Eleonora. "Aber wir wa­ren bescheiden genug, es zu ertragen." Viel wichtiger aber ist ihr: "Heute bin ich frei. Endlich. Wie wichtig es ist, frei denken und leben zu können!"

Carola Wolf ist Mitbegründerin des Ost-West-Forums in ­Potsdam.

Carola Wolf

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