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Warum die Familie als zentraler Ort in der Pandemie in die Krise gekommen ist
Familie ist überall da, wo (Groß-)Eltern und (Enkel-)Kinder über Generationen hinweg miteinander und füreinander verbindlich Verantwortung übernehmen.
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Familie ist überall da, wo (Groß-)Eltern und (Enkel-)Kinder über Generationen hinweg miteinander und füreinander verbindlich Verantwortung übernehmen.

Familien und vor allem die Bedürfnisse von Kindern standen in der Corona-Pandemie bislang immer hinter anderen gesellschaftlichen Bedürfnissen zurück oder wurden ganz übersehen. Einen Paradigmenwechsel fordert der Erlanger evangelische Theologe Matthias Braun.

Dieses Virus hat uns viel gekostet. Mit den Worten „So leer waren die Akkus von Menschen noch nie“, beschreibt der Wirtschaftspsychologe Bertolt Meyer von der Technischen Universität Chemnitz in der Darstellung seiner neusten  Studienergebnisse die Situation vieler Menschen. Besonderes Augenmerk liegt für ihn dabei auf der psychischen Erschöpfung der Menschen. Und während einerseits alle erschöpft und müde sind, sind es doch nicht alle gleichermaßen. Vereinfacht gesagt: Je größer das Maß an Fürsorge und Verantwortung und je enger der Raum, desto schneller saugt es die Akkus leer. Und logischerweise: Desto länger dauert es auch, sie wieder aufzuladen.

Das ist vielleicht eine der aktuell am meisten unterschätzten Herausforderungen überhaupt: Die Erschöpfung geht nicht einfach so wieder weg. Ebenso wenig die Verantwortung und Sorge für andere. Leider funktionieren die meisten Menschen nicht wie ein Hybridantrieb: Bei steigender oder konstanter Belastung tankt man nicht in gleichem Maße wieder Energie.

Ach, die geneigte Leserschaft fragt sich, wovon in diesem Artikel eigentlich die Rede ist? Da haben Sie vollkommen recht. Das wollte ich eigentlich direkt am Anfang mitteilen, aber da musste ich kurz versuchen, Frieden zwischen zwei sich eigentlich sehr liebenden „Kriegsparteien“ zu stiften. Der eine hatte beschlossen, dass das Bett des Anderen nun sein Piratenschiff sei, was der andere wiederum gar nicht einsah.

Also: Es geht um Familie. Wenn im Folgenden von Familie die Rede ist, bezeichnet dies ein Ensemble an Praktiken und Orientierungen in einer Gruppe von Menschen, die über Generationen hinweg miteinander und füreinander Verantwortung übernehmen. Die jeweiligen Praktiken und Orientierungen können dabei sehr unterschiedlich sein und überschneiden sich dennoch in dem Versuch, jeweils konkrete Antworten auf die Frage nach einem verantwortlichen Umgang mit vulnerablem Leben zu finden. Familie vollzieht sich also überall da, wo (Groß-)Eltern und (Enkel-)Kinder über Generationen hinweg miteinander und füreinander verbindlich Verantwortung im Umgang mit verletzlichem Leben übernehmen und gestalten.

Verletzliches Leben

Familie als ein zentraler Ort der Gestaltung verletzlichen Lebens ist mit dem Virus selbst (neu) in eine Krise gekommen. Eine Krise, die vieles wieder in Frage gestellt hat, was es in den vergangenen Jahren an Errungenschaften zu feiern gab: Die Gleichberechtigung von Männern und Frauen in der Fürsorgearbeit ist herausgefordert, und nicht selten sind es die Frauen, die in ungleich höherem Maße in die Bresche springen. Es kommt zu ungleichen Belastungen bei gleichzeitiger Beschleunigung und Verengung. Familie ist zugleich Ort von Homeoffice, Karriere, Kinderbetreuung, Bildung, Armutsgefährdung, Nerv- und Lusterfahrung oder kurz mit den Worten des Münchener Soziologen Armin Nassehis: Beschleunigung auf engstem Raum. Eine Beschleunigung, die nicht immer verlustfrei ausbalanciert zu werden vermag. Familie, so zeigen unterschiedliche soziologische Studien, kann eben auch Ort von – nicht selten massiver – Gewalterfahrung und Missachtung sein.

Die beschriebene Krisensymptomatik von Familie macht ein strukturelles Problem von Familie im öffentlichen Raum sichtbar. So selbstverständlich Familie als soziale Struktur menschlichen Lebens auch sein mag, so unklar ist ihre Rolle und Bedeutung im öffentlichen Raum. Denn auch das zeigt eine Krise wie SARS-CoV-2: Familie hat kaum eine Lobby. Das ist deswegen ein substanzielles Problem, weil Familie essenziell auf soziale Strukturen und Ressourcen angewiesen ist. Kinderbetreuung, Bildung, Pflege oder auch Gesundheit und Arbeit sind einige Beispiele für die vielen Handlungen und Lebensformen, mit denen die Lebensform Familie verwoben ist.

Orte der Gestaltung verletzlichen Lebens werden in Anknüpfung an die Arbeiten der Berliner Philosophin Rahel Jaeggis als Lebensform verstanden. Lebensformen können als soziale Gebilde beschrieben werden, in denen Menschen miteinander versuchen, für konkrete Probleme und Herausforderungen Lösungen zu finden. Die entscheidende Pointe in der Betrachtung der Lebensformen ist eine zweifache: Zum einen sind Lebensformen daran zu messen, inwiefern sie eine Lösung für das sich ihnen jeweils stellende Problem zu liefern in der Lage sind.

Damit ist zugleich gesagt, dass Lebensformen sowohl plural sind – es kann also nicht die eine Lebensform geben – als auch Gegenstand von Kritik sein können, nämlich immer dann, wenn sie das jeweils thematisierte Lebensvollzugsproblem nicht lösen können. Entscheidend für die Bestimmung einer Familie als eine solche ist also der konkrete Aufweis, dass Individuen mit- und füreinander Verantwortung tragen. Gerade darin besteht dann auch – zweite Pointe – der unverzichtbare gesellschaftliche Wert der Lebensform Familie: Sie muss ein Ort sein, an dem Individuen lernen, miteinander in Freiheit zu wachsen und zu leben, sich zu achten und Umgangsformen für und mit der Vulnerabilität der jeweilig anderen zu finden.

Privat und öffentlich

Familie als Lebensform zu denken, bedeutet, sie in ihrer Verschränkung von Darstellungen des Privaten und Öffentlichen zu betrachten. Familie, so kann man zugespitzt formulieren, ist zugleich privat und öffentlich. Sie ist privat, weil es um die Freiheitsrechte und Verantwortungsübernahme Einzelner geht, deren konkrete Ausgestaltung sehr individuell und einzigartig sein kann.

Diese privaten Konfigurationen von Familie sind aber zugleich angewiesen auf öffentliche Kommunikationsräume, Ressourcen und institutionelle Strukturen. Gerade die Erfahrungen in der SARS-CoV-2-Krise zeigen, dass es in Familien gerade dann zu privaten Tragödien und Rückschlägen kommt, wenn öffentliche Kommunikationsräume und Strukturen nicht mehr bereitstehen. Eltern fallen in längst überwunden geglaubte Rollenmuster, Lebensziele geraten in weite Ferne und mögliche Gewalterfahrungen scheinen aus der öffentlichen Sichtbarkeit zu verschwinden.

Es erweist sich als Trugschluss, dass die jeweilige Lebensform Familie sich nur (genug) auf sich selbst beziehen und an sich arbeiten muss, um eine gute Familie zu sein. Gerade hier kann und muss theologische Ethik in Anschlag bringen, dass und wie sehr die Gestaltung verletzlichen Lebens auf konkrete Gestaltungsräume und Möglichkeiten angewiesen ist.

Drittens aber ist die Lebensform Familie nicht einfach statisch oder gar schon immer gegeben. Sie ist Veränderungen unterworfen und bedarf – auch darauf haben Rahel Jaeggi und in ihrer Folge weitere Denkerinnen und Denker hingewiesen – Reflexion und Kritik. Die Lebensform Familie muss beständig und immer wieder daraufhin befragt werden, ob sie und die in ihr gestalteten Paradigmen die adressierten Probleme auch wirklich zu lösen in der Lage sind. Zu prüfen ist also, inwiefern es die Lebensform Familie tatsächlich vermag, einen Gestaltungsrahmen zu bieten, in dem Menschen über Generationen hinweg mit- und füreinander verantwortlich mit der Vulnerabilität menschlichen Lebens umzugehen lernen.

Um die konkreten Möglichkeiten und Grenzen von Familie in den Blick zu nehmen, braucht es einen Perspektivwechsel – weg von der Frage, was eine Familie zu einer guten Familie macht. Zwar ist diese Frage wichtig, aber ihr fehlt die nötige kritische Kraft, solange sie nicht zentral nach den Gelingensbedingungen und benö­tigten Strukturen von Familie fragt.

Die Aufgabe einer solchen Kritik der Lebensform Familie ist es, immer wieder den Blick auf die besonders vulnerablen Personen innerhalb von Familien zu lenken und auch verborgene Ungleichheiten und Ungerechtigkeiten an die Oberfläche zu tragen und sichtbar zu machen.

Insofern hat eine Kritik von Lebensformen immer auch einen emanzipatorischen Charakter. Dass beispielsweise Kinder Ansprüche und Rechte auch und gerade in Familien haben, bleibt viel zu oft ein abstraktes Bekenntnis, ohne dass es konkret gelebt und umgesetzt wird.

Es ist schlechtweg nicht hinnehmbar, dass in der aktuellen Corona-Krise Kindern, die aufgrund einer Vorerkrankung zu einer Risikogruppe gehören, oft als einziger Ausweg bleibt, isoliert in ihren Familien zu bleiben. Hinzu kommt, dass das Infektionsschutzgesetz zu lange nicht vorsah, dass Eltern, die dann aufgrund eines Risikos des Kindes zuhause bleiben (müssen), einen Anspruch auf Verdienstausfall haben.

Isolierte Kinder

Zurecht mag man sofort einwenden, dass es Aufgabe von Politik sei, hier Lösungen zu entwickeln und finden. Aber zugleich bedarf es einer Kritik, die solche konkreten Missstände aufzudecken und sichtbar zu machen in der Lage ist. Eine Kritik, die bereit ist, sich die Hände schmutzig zu machen und in den Riss zu treten.

Eine Kritik von Lebensformen hat zur zentralen Aufgabe, die Abhängigkeit der Lebensform Familie von strukturellen und institutionellen Bedingungen zu einem zentralen Bestandteil ihres Nachdenkens zu machen. Dass die Lebensform Familie ein zentraler Ort sein kann, an dem Menschen miteinander und füreinander Verantwortung übernehmen und gerade hierin ein soziales Band, ein gemeinsam geteilter Boden entsteht, bedarf der Bereitstellung von Strukturen und Ressourcen. Das mag auf den ersten Blick wie ein Gemeinplatz klingen. Und in der Tat wäre es tollkühn zu behaupten, dass dies noch nie gesagt worden oder dieses Bedingungsverhältnis gänzlich unbekannt wäre. Und doch ist eine solche Kritik und damit das nüchterne, aber bestimmte Sichtbarmachen der Missstände gerade angesichts der Erosion von Gelingensbedingungen von Familie zentral.

Falls Sie sich immer noch fragen, wie die epische Schlacht um das Piratenschiff ausgegangen ist: Keine Sorge, da ist alles wieder in Ordnung. Ob das für die Lebensform ebenso gilt? Es wäre naiv zu meinen, dass sich das alles schon wieder einrenken wird. Die Akkus sind leer. Verletzungen sind entstanden. Verantwortungen und Zuständigkeiten haben sich verschoben. Manches wird sich vermutlich wieder einrenken.

Aber wenn die nächste Welle kommt, sollte das nicht unsere einzige Hoffnung bleiben. Was es braucht, ist nicht weniger als ein Paradigmenwechsel. Familien und vor allem die Belange und Bedürfnisse von Kindern standen in der Pandemie bislang immer hinter anderen gesellschaftlichen Bedürfnissen zurück oder wurden ganz übersehen.

Noch heute gibt es keinen klaren Plan, wie Kitas und Schulen sicher offengehalten werden können, um zu verhindern, dass sich für Kinder und Familien „die Welt“ auf kleinstem Raum abspielt. Wir müssen endlich beginnen, Familie konsequent als Lebensform von ihren Voraussetzungen und Gelingensbedingungen her zu denken und zu gestalten. Nur dann kann es gelingen, nicht mit leeren Akkus der nächsten Welle zu trotzen. 

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Matthias Braun

Dr. Matthias Braun ist Professor für Systematische Theologie / Ethik an der Rheinischen Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn.


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