Die „Russische Welt“ lockt nicht alle

Krise und Neuanfang: Aktuelle Entwicklungen bei den Orthodoxen Kirchen in der Ukraine
Patriarch Bartholomäos von Konstantinopel (links) überreicht Epifani von Perejaslawl, Oberhaupt der neuen Orthodoxen Kirche der Ukraine, in der Georgskathedrale in Istanbul einen Erlass zur Eigenständigkeit der neuen Kirche. Foto: dpa/Mykola Lazarenko
Patriarch Bartholomäos von Konstantinopel (links) überreicht Epifani von Perejaslawl, Oberhaupt der neuen Orthodoxen Kirche der Ukraine, in der Georgskathedrale in Istanbul einen Erlass zur Eigenständigkeit der neuen Kirche. Foto: dpa/Mykola Lazarenko
Die Gründung der neuen Orthodoxen Kirche der Ukraine (OKU) vor einigen Wochen hat die orthodoxe Welt in Osteuropa in Bewegung gebracht. Was sind die Hintergründe dieser Neugründung - und welche Auswirkungen hat sie für Religion, Gesellschaft und Politik in der Ukraine und in Russland? Erläuterungen von der Theologin Regina Elsner vom Zentrum für Osteuropa- und internationale Studien in Berlin.

Am 1. Februar wurde in Moskau der 10. Jahrestag der Inthronisation von Patriarch Kirill (Gundjaev) mit einem Festakt im Kreml und einem Festgottesdienst in der Christus-Erlöser-Kathedrale begangen. Nur zwei Tage später, am 3. Februar, wurde in Kiew Metropolit Epiphanij (Dumenko) als Oberhaupt der neuen Orthodoxen Kirche der Ukraine (OKU) inthronisiert. Die zeitliche Nähe der beiden kirchlichen Großereignisse wirft ein schillerndes Licht auf die gegenwärtige Situation der Orthodoxen Kirche. Als Kirill vor zehn Jahren als Patriarch der Russischen Orthodoxen Kirche inthronisiert wurde, verbanden sich viele Hoffnungen mit ihm. Bekannt als weltoffener Vertreter der Russisch-Orthodoxen Kirche (ROK), mit reicher Erfahrung in ökumenischen Gesprächen, einem Verständnis für die Bedeutung theologischer Bildung und ohne Berührungsängste mit Gesellschaft und Politik, erwarteten viele einen Aufbruch der Kirche in die moderne Gesellschaft. Nach zehn Jahren sind diese Hoffnungen ernüchtert.

Aktuell wird mit der ROK und persönlich mit Patriarch Kirill in erster Linie eine der größten Krisen der Orthodoxie in ihrer Geschichte verbunden, der Abbruch der Kommuniongemeinschaft mit dem Ökumenischen Patriarchat von Konstantinopel in Istanbul. In den vergangenen Jahren hatte sich der Machtkampf zwischen dem Ökumenischen Patriarchat und Moskau zugespitzt. Neben der Frage nach der höchsten Autorität unter den prinzipiell gleichberechtigten orthodoxen Kirchen ging es dabei immer auch um die orthodoxe Verortung im 21. Jahrhundert. Die weltoffene, liberale Position des Ökumenischen Patriarchats steht dabei im Konflikt mit dem von Kirill in den vergangenen Jahren ausgearbeiteten Konzept der „traditionellen Werte“.

In der Ukraine eskalierte dieser schwelende Konflikt nun 2018 in mehrfacher Hinsicht. Im kirchlichen Kontext standen sich die Machtansprüche der beiden Patriarchate gegenüber, denn beide behaupteten, zuständig zu sein für die Anerkennung einer autokephalen, also eigenständigen orthodoxen Kirche in der Ukraine. Nach wie vor gibt es kein einheitliches, kirchenrechtlich anerkanntes Verfahren für die Anerkennung einer Kirche als autokephal.

Das Ökumenische Patriarchat beruft sich auf seinen Ehrenvorsitz, die ROK sieht sich als Mutterkirche zuständig für die Entlassung in die Selbständigkeit. Die Bestrebungen innerhalb der Ukraine nach kirchlicher Unabhängigkeit wurden jedoch vom Moskauer Patriarchat stets mit dem Hinweis auf die untrennbare geistliche Verbundenheit der beiden Völker aufgrund der Taufe der Rus im Jahr 988 bei Kiew sowie den quasi autonomen Status der kanonischen Ukrainischen Orthodoxen Kirche (uok) abgelehnt.

Mehrere Millionen Gläubige der auf diese Weise nicht anerkannten Ukrainischen Orthodoxen Kirche des Kiewer Patriarchats und der Ukrainischen Autokephalen Orthodoxen Kirche waren so seit 1992 von der Gemeinschaft mit den orthodoxen Kirchen ausgeschlossen, obwohl es keinerlei Unterschiede in der Glaubenslehre gab. Mehrfache Versuche, ihre schwierige pastorale Situation innerhalb der Ukraine oder auch mit dem Moskauer Patriarchat zu lösen, scheiterten.

Unhaltbare pastorale Lage

Moskau ignorierte dabei auch die Dringlichkeit der andauernden Konflikte um die kirchliche Zugehörigkeit, die in der Ukraine familiäre und gesamtgesellschaftliche Spannungen provozierten. Das kirchliche Bewusstsein, zu der einen Gemeinschaft des orthodoxen Glaubens zu gehören, wurde dadurch nachhaltig beschädigt. Die Entscheidung des Ökumenischen Patriarchen, im Oktober 2018 die bisher ausgeschlossenen Gläubigen wieder in die Gemeinschaft der Kirche aufzunehmen, war maßgeblich von deren unhaltbarer pastoraler Lage angetrieben. Für das Moskauer Patriarchat war dies jedoch ein inakzeptabler Eingriff in den Zuständigkeitsbereich der ROK, der bisher von allen orthodoxen Kirchen respektiert worden war. Tatsächlich ist das Vorgehen des Ökumenischen Patriarchen sowohl aus kirchenrechtlicher als auch aus historischer Sicht fragwürdig. Die harsche Reaktion Moskaus ist jedoch nur im gesellschaftspolitischen Kontext des Konflikts zwischen Russland und der Ukraine und der politischen Verstrickung der ROK zu verstehen.

Seit dem Beginn seiner Amtszeit hatte Kirill das Konzept der „Russischen Welt“ ausgearbeitet und schrittweise als zentrale gesellschaftliche und politische Verankerung der Kirche im russischen Diskurs implementiert. Die Idee der Zusammengehörigkeit der Völker der historischen Rus, ihre Verbundenheit in Spiritualität und Werten über alle nationalen Grenzen hinweg und in Abgrenzung zum Westen, wurde zum zentralen Inhalt der kirchlichen Selbstdarstellung. Die Ukraine als Ursprung der russischen Orthodoxie hatte in dieser Vorstellung einen ganz besonderen symbolischen Wert.

Als 2013 während der pro-europäischen Proteste in der Ukraine deutlich wurde, dass große Teile der ukrainischen Bevölkerung die Vereinnahmung durch Russland äußerst kritisch sehen, verstärkte die ROK ihre Rhetorik der Zusammengehörigkeit der Völker. Dies stand auch im Kontrast zu der Tatsache, dass sich alle Kirchen der Ukraine - auch die in Gemeinschaft mit Moskau stehende Ukrainische Orthodoxe Kirche - solidarisch mit den Menschen und ihrem Verlangen nach Selbstbestimmung zeigten.

Schließlich nutzte Wladimir Putin die Idee der „Russischen Welt“ zur Legitimierung der Annexion der Krim und der militärischen Intervention in der Ostukraine und führte die Argumentation der ROK, die sich stets für den Respekt nationaler Grenzen ausgesprochen hatte, in eine Sackgasse: Weder sah sie sich in der Lage, Putins Vorgehen offen zu kritisieren, noch konnte sie sich glaubwürdig auf die Seite ihrer eigenen Gläubigen in der Ukraine stellen.

Diese politischen Prozesse, die Tatenlosigkeit des Moskauer Patriarchats und die defensive Haltung der uok katalysierten den Prozess der kirchlichen Unabhängigkeit der ukrainischen Orthodoxie massiv. Auch Menschen, die der Frage der kirchlichen Zugehörigkeit vorher kaum Beachtung geschenkt hatten, empfanden die Ignoranz der Kirchenleitung gegenüber ihrer ukrainischen Identität als Ärgernis. Als der Ökumenische Patriarch Bartholomäus I. im September 2018 tatsächlich erste Schritte zur Errichtung einer autokephalen ukrainischen Kirche unternahm, wurde dem Moskauer Patriarchat deutlich, dass es die Ukraine sowohl als symbolischen Kern der „Russischen Welt“ als auch als Glaubensschwester zunächst verloren hat.

Der Abbruch der Kommunionsgemeinschaft mit dem Ökumenischen Patriarchat und die aggressive Rhetorik der Vertreter des Moskauer Patriarchats illustrieren die russische Ohnmacht angesichts dieser Entwicklung. Nach wie vor ist keine andere orthodoxe Kirche der Entscheidung Moskaus zum Abbruch der Gemeinschaft gefolgt. Zu offensichtlich sind die politischen Aspekte dieses Konflikts zwischen Moskau und Konstantinopel in der Ukraine, als dass weitere Kirchen ein tatsächliches Schisma der Glaubensgemeinschaft riskieren würden. In der ROK selbst wurde kritisiert, dass der Kommunionsabbruch de facto ein Kommunionsverbot für russische Gläubige und damit eine Instrumentalisierung des Kerns christlichen Glaubens darstellt. Sowohl innerkirchlich als auch gesellschaftspolitisch stehen die ROK und Patriarch Kirill vor einem enormen Glaubwürdigkeitsverlust.

Politische Kriegsrethorik

Aber auch der Beginn der neuen, autokephalen Orthodoxen Kirche der Ukraine ist ambivalent. Zweifelsohne ist die Legalisierung des kirchlichen Lebens der Gläubigen aus den vorher unkanonischen Kirchen auf lokaler Ebene ein großer Gewinn für die Menschen und eine Chance zur Überwindung von Spaltungen in der ukrainischen Gesellschaft. Allerdings untergräbt die politische Kriegsrhetorik auf beiden Seiten das Ansinnen, mit der neuen Kirche die ukrainische Gesellschaft zu vereinigen. Das Moskauer Patriarchat und die russische politische Elite diffamieren die neue Kirchenstruktur als nationalistisches politisches Projekt und ignorieren damit die orthodoxe Identität der Gläubigen. Aber auch die nun neu gegründete Orthodoxe Kirche der Ukraine (OKU) und vor allem die ukrainische politische Führung sorgt mit der pauschalen Beschuldigung der uok als verlängertem Arm des russischen Aggressors für Ärger und Unverständnis bei den Gläubigen, die sich fraglos als Ukrainer und Ukrainerinnen identifizieren und der russischen Politik äußerst kritisch gegenüberstehen.

Es sind vor allem die Gemeinden und Priester vor Ort, von denen die tatsächliche deeskalierende Arbeit abhängt. Die Zugehörigkeit der Gemeinden zu der einen oder anderen kirchlichen Struktur muss nun an jedem Ort ausgehandelt werden, und dieser Prozess wird viel Zeit brauchen. Laut Gesetz bedarf es einer Zweidrittelmehrheit der Gemeindemitglieder, allerdings gibt es keine offiziellen Mitgliederregister. Die Kirchbauten gehören meistens der Gemeinde und verbleiben so bei der Kirche, für die sich die Mehrheit der Gemeindemitglieder entscheidet. Von den rund 12.000 Gemeinden der uok sind bis Anfang Februar etwas mehr als 200 Gemeinden der neuen Kirche beigetreten.

An vielen Orten verblieb jedoch ein Teil der Gemeinde in der uok, so dass tatsächlich weniger von einer Vereinigung mit der neuen Kirche, sondern eher von Übertritten gesprochen werden kann. In einigen wenigen Fällen einigten sich die Gemeinden auf eine gemeinsame Nutzung der Kirche im Ort, in den meisten werden neue Kirchen gebaut oder in vorhandenen Räumen eingerichtet. In vereinzelten Fällen kommt es trotz der neuen rechtlichen Regelungen zu gewaltsamen Übernahmen und intransparenten Entscheidungsprozessen. Von den Kritikern der neuen Kirche wird jede dieser gewaltsamen Auseinandersetzungen um Kirchen zum Anlass genommen, den gesamten Prozess zu diskreditieren.

Da es sich bisher um keine Wechsel im großen Maßstab handelt und sich auch von den rund 90 Bischöfen der uok bisher nur zwei der OKU angeschlossen haben, ist von einer dauerhaften Etablierung von zwei parallelen Kirchenstrukturen auszugehen. Diese Situation ist zwar eine Anomalie im orthodoxen Kirchenrecht, für die Ukraine ist es jedoch lediglich eine neue Variante ihrer historisch geprägten religiösen Vielfalt. Diese hat bisher im Unterschied zu Russland die Entstehung einer Staatskirche verhindert. Besonders der gemeinsame Einsatz aller Kirchen während des Maidan 2013/14 und die nach wie vor konstruktive gemeinsame Arbeit des Allrussischen Rates der Kirchen und Religionen haben gezeigt, dass sich alle Kirchen als Teil und Partner der Gesellschaft verstehen und nicht von der politischen Führung der einen oder anderen Seite vereinnahmen lassen wollen.

„Kirche ohne Putin“

Es ist weniger die Propaganda Russlands als vielmehr der politische Rahmen der Entstehung der OKU als Teil des Wahlkampfes, der diese Unabhängigkeit zurzeit fragwürdig macht. Tatsächlich ist das geistliche Erbe der ukrainischen Orthodoxie nicht auf das vom ukrainischen Präsidenten Petro Poroschenko deklarierte „Kirche ohne Putin“ zu reduzieren, und die politische Instrumentalisierung der Kirche wird dem Selbstbewusstsein der Gläubigen aller Kirchen nicht gerecht.

Namhafte Theologen aus beiden ukrainischen Kirchen haben bereits Vorschläge für die Schwerpunkte der theologischen und pastoralen Arbeit gemacht. Ihre „10 Thesen für die Orthodoxe Kirche der Ukraine“ machen auch deutlich, dass es der Kirche weniger um Fragen der internationalen Anerkennung der neuen Kirche oder um Zahlenspiele der Kirchenübertritte gehen sollte, sondern vielmehr um die pastoralen und strukturellen Möglichkeiten, welche die Trennung vom Moskauer Kirchenmodell eröffnen - größere Synodalität, flache Hierarchien, absolute Transparenz bei Finanzen und Personal, ein verstärktes soziales und menschenrechtliches Engagement.

Nach jüngsten Umfragen geben 70 Prozent der ukrainischen Bevölkerung an, orthodox zu sein, 43,9 Prozent davon als Gläubige der Orthodoxen Kirche der Ukraine, 15,2 Prozent als Gläubige der Ukrainischen Orthodoxen Kirche, knapp 38 Prozent davon identifizieren sich als „einfach orthodox“. Es ist ein deutlicher Hinweis darauf, dass viele Menschen von ihrer Kirche keine politischen Zugehörigkeitsdebatten mehr wollen, sondern eine glaubwürdige Teilnahme an ihrem Leben. Und das ist vom Krieg, von Millionen Binnenflüchtlingen und von schwerwiegenden sozialen Reformen geprägt.

Regina Elsner

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