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Warum die Diakonie für das kirchliche Arbeitsrecht vor dem Bundesverfassungsgericht klagt
Das Bundesverfassungsgericht in Karlsruhe. Foto: dpa/ Sebastian Gollnow
Das Bundesverfassungsgericht in Karlsruhe. Foto: dpa/ Sebastian Gollnow
In der Aprilausgabe von zeitzeichen hat der Bonner Sozialethiker Hartmut Kreß die Kirchen für ihren Umgang mit aktuellen Gerichtsurteilen zum kirchlichen Arbeitsrecht kritisiert. Ihm antwortet Ulrich Lilie, Präsident der Diakonie Deutschland und Herausgeber von zeitzeichen. Er begründet, warum die Diakonie vor dem Bundesverfassungsgericht dafür kämpfen will, dass theologische Kernfragen nicht von Juristen entschieden werden sollen.

Wie kann die Diakonie im Markt der sozialen Dienstleister erkennbar der evangelische Wohlfahrtsverband bleiben? Wie kann sie – um es mit den Worten des Europäischen Gerichtshofs (EuGH) zu sagen – ihr „Ethos der Organisation“ wahren? Oder ist sie, wie es der Bonner Sozialethiker und evangelische Theologe Hartmut Kreß in der Aprilausgabe von zeitzeichen schrieb, „faktisch ein normaler Arbeitgeber wie andere“? Die Antwort heißt: Nein, denn dann bräuchte es die Diakonie nicht mehr. Menschen, die unsere Hilfe in Anspruch nehmen, dürfen schließlich erwarten, dass sie in einem kirchlichen Umfeld umsorgt werden, dass sie bei Bedarf zum Gottesdienst geleitet werden, mit ihnen gebetet wird. Dazu gehört, dass in diakonischen Einrichtungen evangelische Christen arbeiten. Nicht zwingend überall, aber dort, wo es nach unserem Selbstverständnis erforderlich ist. Diese Haltung, die sich aus dem deutschen Verfassungsrecht ableitet, wird seit einigen Jahren juristisch angefochten. Die Diakonie Deutschland will nun Rechts-sicherheit herstellen. Daher hat unser Träger – das Evangelische Werk für Diakonie und Entwicklung – Beschwerde beim Bundesverfassungsgericht eingelegt: gegen ein Urteil des Bundesarbeitsgerichts (BAG) in der Causa Egenberger vom Oktober 2018, und mittelbar gegen eine dem BAG-Urteil zu Grunde liegende Entscheidung des EuGH aus dem April 2018. Zum Hintergrund: Es geht um den Fall einer Bewerberin, die aus fachlichen Gründen nicht zu einem Personalauswahlgespräch eingeladen wurde. Da für die Stelle eine Kirchenmitgliedschaft gefordert war, sah sich die konfessionslose Kandidatin diskriminiert, klagte auf Schadenersatz – und bekam vor dem BAG Recht. Eine Entscheidung, die aus Sicht der Diakonie Deutschland und der Evangelischen Kirche in Deutschland so nicht stehen bleiben kann. Der Fall ist komplex. Im Vordergrund steht eine Frage des Arbeitsrechtes, aber es geht auch darum, wer entscheiden darf, welche Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der Diakonie evangelisch sein müssen und welche nicht. Es geht um die Säkularität des Staates, die auch durch die Autonomie der Kirchen sichergestellt wird. Und es geht um die Frage, ob der EuGH wirklich in das Staatskirchenrecht der Bundesrepublik eingreifen darf.

Verfassungsrechtlich heikel

Die Europäische Union hat aus gutem Grund in Artikel 17 des Vertrags über die Arbeitsweise der EU (AEUV) die Religionsgemeinschaften in den Mitgliedsstaaten vor Beeinträchtigung geschützt. Der EuGH hat dieses Recht in seinem Urteil 2018 in voller Kenntnis der deutschen Rechtslage nicht angemessen beachtet und – wie wir meinen – außerhalb seines Mandats gehandelt. Wir halten darum auch das Urteil des Bundesarbeitsgerichts mit seiner Übernahme der Luxemburger Auslegung für verfassungsrechtlich problematisch. Die Religionsfreiheit wird durch Artikel 4 des Grundgesetzes geschützt. Sie umfasst einzelne Personen und Gruppen. In dem Grundrecht spiegelt sich auch die historische Erfahrung eines totalen Regimes. Die weitsichtigen Mütter und Väter unserer Verfassung wollten den neuen Staat in seiner Machtfülle beschränkt wissen. Die Religionsgemeinschaften und ihre Wohlfahrtsverbände sollen gemeinwohlorientierte und gemeinnützige Aufgaben übernehmen – unabhängig und im Rahmen der für alle geltenden Gesetze. Zudem wurde den Religionsgemeinschaften und ihren Einrichtungen Selbstbestimmungsrecht in ihren eigenen Angelegenheiten garantiert. Zur Regelung nach Artikel 140 des Grundgesetzes in Verbindung mit Artikel 137 der Weimarer Reichsverfassung gehört die Freiheit der Religionsgemeinschaften, sich nach eigenen Werten zu organisieren und Mitarbeitende auszuwählen.

Vielfalt und Christlichkeit

Rechtfertigt eine auf dieser Rechtslage fußende Haltung den Vorwurf der Gewerkschaftsseite, der auch nach der Bekanntgabe unserer Verfassungsbeschwerde kam – so sicher wie das Amen in der Kirche? Dass Diakonie und Kirche es ablehnten, gesellschaftliche Entwicklungen in ihren Strukturen abzubilden und krampfhaft an überkommenen Mustern festhielten? Nein, es geht uns nicht um Verteidigung überkommener Privilegien. Schon heute müssen nicht alle der über 530.000 Hauptamtlichen Mitglied einer evangelischen Kirche sein. Was früher so gut wie unmöglich war, ist seit der letzten Änderung der Loyalitätsrichtlinie vom 9. Dezember 2016 – also bereits vor den jüngsten Urteilen von EuGH und bag – zu einer willkommenen Normalität geworden: Konfessionslose oder Muslime sind auch als Mitarbeitende ausdrücklich willkommen, wenn sie das Ethos unserer Organisation zu achten bereit sind. Mitarbeitende in der Seelsorge, Verkündigung und Bildung müssen allerdings evangelisch sein, und Leitungskräfte sollen einer christlichen Kirche angehören. Beides – die gewollte Vielfalt und die Christlichkeit – hat mit unserem Selbstverständnis in einer sich verändernden Gesellschaft zu tun, auch mit Professionalität und Pragmatismus. In dem evangelischen Krankenhaus, in dem ich meine ersten Berufsjahre als Krankenhauspfarrer verbracht habe, arbeitete bereits vor 25 Jahren neben wunderbaren Zehlendorfer Diakonie-schwestern eine sehr geschätzte, Kopftuch tragende muslimische Oberärztin, weil wir als Innenstadtkrankenhaus eben viele türkische Patientinnen hatten. Seitdem hat sich unser Land weiter verändert. Es ist noch bunter und vielfältiger geworden, und die Diakonie will helfen, diese Gesellschaft teilhabeorientierter und chancengerechter für alle mitzugestalten. Diese Überzeugung wurzelt in unserem Glauben. Längst beschäftigen wir uns im Bundesverband intensiv mit den Themen, die sich mit der kulturellen und religiösen Sensibilität unserer Arbeitsgebiete verbinden. Wir haben eine neue Abteilung gegründet, das Zentrum Engagement, Demokratie und Zivilgesellschaft. Dort wird am Thema Diakonie in der postmigrantischen Gesellschaft gearbeitet. Und ein weiteres Beispiel: „wir & hier.“ – so wird ein gemeinsam von EKD und Diakonie Deutschland veranstalteter viertägiger Kongress im nächsten Jahr heißen, bei dem wir am Gemeinwesen orientierte Ansätze der Diakonie und der Kirche in immer diverser und ungleicher werdenden Sozialräumen ausbauen und befördern wollen: Kirche und Diakonie mit Anderen. Eine rückwärts gewandte und nur auf ihre überkommenen Privilegien bedachte Organisation sähe anders aus als das, woran wir jeden Tag (und jede Nacht) mit sehr vielfältigen und engagierten Menschen arbeiten. Für dieses Konzept von diakonischer Vielfalt, für das wir mit theologischen Begründungen engagiert eintreten, ziehen wir vor das Bundesverfassungsgericht. Das EuGH-Urteil vom April 2018, an dem sich das BAG im Herbst orientierte, hat zwei Rechtsgüter gegen einander abgewogen: Das Recht der Kirchen (und anderer Organisationen, deren Ethos auf religiösen Grundsätzen oder Weltanschauungen beruht) auf Autonomie einerseits, und anderseits das Recht der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer, aufgrund ihrer Religion oder Weltanschauung nicht diskriminiert zu werden. Die Luxemburger Richter haben damals „vergleichend und prüfend genau bedacht“ und beide Rechtsgüter geschützt. Das heißt: Der EuGH hat bekräftigt, dass es einem staatlichen Gericht nicht zustehe, über den Glauben, den wir in der Kirche pflegen, als solchen zu befinden. Es stehe ihm aber wohl zu, festzustellen, ob es bei einer konkreten Stelle, die in Kirche und Diakonie zu besetzen ist, „wesentlich, rechtmäßig und gerechtfertigt“ ist, vom Bewerbenden diesen Glauben zu erwarten. Dieser Logik folgend entschied dann das bag, dass die Diakonie in dem konkreten Fall kein Recht gehabt hätte, die konfessionslose Bewerberin nicht zum Gespräch einzuladen. Der für uns entscheidende fachliche Grund – nämlich die Qualifizierung der Bewerberin – fiel nicht mehr ins Gewicht. Ist das die Zukunft für kirchliche und andere weltanschauungsorientierte Arbeitgeber? Das muss Karlsruhe klären.

Theologische Kernfragen

Mit unserer Verfassungsklage wenden wir uns auch dagegen, dass theologische Kernfragen, die unser Selbstverständnis betreffen, von Juristen entschieden werden sollen, die für solche Fragen eben nicht gerade die geborenen Fachleute sind. Kritiker sprechen von „Richter-Theologie“. Jedenfalls ist tiefe Skepsis angebracht, ob Juristen besonders geeignet sind, darüber zu entscheiden, ob eine Person den möglichen religiösen Anforderungen an eine Stelle entspricht. Perspektivisch stellt sich die Frage, wie zunehmend säkular sozialisierte Richterinnen und Richter, die über keine theologische, kirchliche oder diakonische „Feldkompetenz“ verfügen, arbeitsrechtliche Richtlinien für die Einstellungspraxis der Kirchen festlegen können. Woher gewinnen sie Kriterien, um über Kernfragen des Ethos unserer evangelischen Organisation wie das „Priestertum aller Gläubigen“ zu urteilen? Wird es ihnen „wesentlich, rechtmäßig und gerechtfertigt“ erscheinen, dass in der evangelischen Kirche und ihren Institutionen Glauben nicht nur von Theologinnen und Theologen vertreten und gelebt wird? Wie soll ihnen einleuchten, dass es uns aus theologischen Gründen, die unsere konfessionelle Identität betreffen, nach wie vor ein Anliegen ist, in allen Arbeitsbereichen und auf allen Hierarchieebenen auch Menschen zu beschäftigen, die glauben oder sich zumindest mit der evangelischen Kirche identifizieren können? Glaube spielt gerade nicht nur in der Seelsorge eine Rolle. Glaube ist ein Kompass, der in jeder Aufgabe orientiert. Und als evangelische Arbeitgeberin freuen wir uns, wenn wir Mitarbeitende finden, die diesen Glauben leben. Wenn sie, ob getauft oder nicht, diese „Unternehmenskultur“ mit gestalten. Und wenn sie dem Leitbild zustimmen, das nahezu jede diakonische Einrichtung hat. Eine Erwartung, die wohl jede Arbeitgeberin haben darf – sogar die Kirche und ihre Diakonie. Wir müssen in einer immer vielfältiger werdenden Gesellschaft im Rahmen der für alle geltenden Gesetze sicherstellen können, dass die von der Verfassung gewollten Frei- und Handlungsspielräume von Religionsgemeinschaften erhalten bleiben. Das hat nach unserer Überzeugung auch etwas mit dem Freiheitsverständnis unserer Verfassung zu tun, das sich unterscheidet von einem kalten Gleichheitskonformismus, der letztendlich einheitsgraue Menschen hervorbringt. Nur so können wir unseren gemeinwohlorientierten und gemeinnützigen Beitrag leisten zur Gestaltung dieser bunten und diversen Gesellschaft, von der auch die Kirchen ein gewollter Teil sind, und dazu beitragen, den Zusammenhalt zu erhalten. Nun ist das Bundesverfassungsgericht am Zuge. Wir brauchen Klarheit darüber, dass das Selbstbestimmungsrecht der Religionsgemeinschaften nicht durch aus unserer Sicht problematische Urteile ausgehöhlt wird.

zum Text von Hartmut Kreß

Ulrich Lilie

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Foto: Rolf Zöllner

Ulrich Lilie

Ulrich Lilie (geboren 1957) studierte evangelische Theologie in Bonn, Göttingen und Hamburg. Bis 2011 arbeitete er unter anderem als Krankenhausseelsorger mit dem Zusatzauftrag der Leitung und Seelsorge im Hospiz am Evangelischen Krankenhaus Düsseldorf. 2011 übernahm Lilie den Theologischen Vorstand der Graf-Recke-Stiftung in Düsseldorf. Seit 2014 ist er Präsident der Diakonie Deutschland.


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