Vorbild Tankstelle

Vergesst die Parochie - um der Kirche willen!
Foto: privat
Kirche ist keine geschlossene Wohngemeinschaft auf Lebenszeit, sondern offene Sinngemeinschaft auf Zeit.

Die Ortsgemeinde gilt als Basis der Kirche. Ist sie das wirklich? Ist es nicht eher so, dass Kirchengemeinde und Lebenswelt biografisch, geografisch, gedanklich und emotional immer weiter auseinanderdriften? Mit unseren Gottesdiensten erreichen wir kaum noch jemanden. Mit den klassischen Gemeindeveranstaltungen auch nicht viel mehr als die Kerngemeinde. Außenstehende werden durch Bastel-, Senioren- oder Singkreise und ähnliches kaum angesprochen. Und wer sich ernsthaft auf die Suche nach genuin theologischen Angeboten macht, wird nur allzu oft enttäuscht.

Hat das Insistieren auf die Ortsgemeinde als das, was es durch alle Veränderungsprozesse hindurch unbedingt zu bewahren und zu stärken gilt, irgendetwas gebracht? Hat Kirche dadurch Menschen hinzugewonnen und begeistert für die Botschaft von der Liebe Gottes?

Natürlich gibt es auch in Kirche Wachstum - Gott sei Dank! Aber die meisten kirchlichen oder kirchennahen Wachstumsbewegungen wachsen nicht in oder wegen, sondern trotz der Kirchengemeinden, die sich je länger umso mehr auf ein angebliches Kerngeschäft zurückziehen, das immer kleiner, redundanter und selbstbezogener wird.

Natürlich braucht Kirche Orte. Natürlich braucht es ein Mindestmaß an Verwaltung und Organisation. Aber es braucht keine als Parochie verstandene Ortsgemeinde!

Wie wäre es, wenn wir von Kirche nicht als Parochie im Sinne einer die Menschen rundum versorgenden Gemeinde sprächen, sondern kirchliche Orte verstünden als „Servicestellen des Heiligen“ - religiöse Tankstellen sozusagen.

Tankstellen sind ja heute wahre Paradiese. Neben dem Treibstoff, den es zum Fortkommen braucht, gibt es auch so ziemlich alles andere für das Fahrzeug und für die Fahrer und Fahrerinnen. Schon das Benzin ist keine Einheitsware. Jedem Fahrzeug sein spezielles Benzin. Der eine braucht es kräftiger, die andere eher zähflüssig. Die eine tankt lieber an der Säule vorne, wo man anonym mit Karte zahlen kann, der andere geht hinein zum Tankwart und nimmt eine Flasche Öl mit, damit es wieder läuft wie geschmiert. Das ganze rund um die Uhr. Wie sähe es wohl aus, wenn es nur einmal in der Woche (zum Beispiel sonntags um 10 Uhr) Einheitsbenzin für alle gäbe…

Auftanken, kompetente Hilfe im Schadensfall, Gemeinschaft auf Zeit, professioneller und zugewandter Service, Rastplatz und Kraftquelle für die weitere Reise - das alles ist eine Tankstelle.

Das alles ist auch eine Kirche. Warum denn nicht? Warum müssen wir alle, die kommen, immer gleich auf Dauer „beheimaten“? Vielleicht kämen viele auf der Suche nach Einkehr, Sinn, Kraft, Gemeinschaft, Gott, wenn sie nicht Angst haben müssten, sofort angesprochen zu werden mit „Schön, dass Sie auch mal wieder da sind“ oder „Wollen Sie nicht die Leitung des Chores übernehmen?“

Vielleicht ist das Verweilen nicht auf Dauer. Vielleicht ist ein paar Kilometer weiter oder zwei Wochen später wieder etwas kaputt oder bricht dieselbe Wunde wieder auf. Dann wird es auch ein paar Kilometer weiter eine Tankstelle geben und zwei Wochen später eine Kirche. Kirche ist keine geschlossene Wohngemeinschaft auf Lebenszeit, sondern offene Sinngemeinschaft auf Zeit.

Ich muss nicht jeden Tag tanken. Ich muss nicht ständig auf die Landkarte meines Lebens schauen, ich bin nicht jeden Tag Seelsorgefall, und ich habe auf manche Dinge und Menschen manchmal schlicht keine Lust.

Wir sollten Menschen freundlich und offen als Gäste im Hause Gottes begrüßen, wenn sie bei uns zu Gast sein wollen. Und wir sollten sie getrost ziehen lassen, wenn sie wieder gehen wollen. Das bedeutet übrigens unter anderem, große Sorgfalt und großen Wert auf unsere Kasualien zu legen, weil diese wichtige Begegnungspunkte auf Zeit sind. Wie oft legen wir den Menschen hier Steine in den Weg! Ich finde es auch nicht schön, wenn weißbekleidete Frauen von ihren Vätern vor den Altar getragen werden oder Helene Fischer zur Beerdigung erklingt. Aber es sind Augenblicke, in denen wir Wort Gottes verkündigen können in konkreter Lebenswelt - in welcher Gebrochenheit auch immer.

Lasst die Menschen kommen, alle, die mühselig sind und beladen, alle, die überheblich sind und selbstverliebt - lasst sie kommen, wie sie sind. Wenn sie wirklich Gott begegnen in unserem Tun und in unserer Gemeinschaft, dann werden sie eines Tages wiederkommen oder woanders einkehren, wo Kirche ist. So soll es doch sein. Die Kirche ist für die Menschen da und nicht die Menschen für die Kirche. Wo Kirche wahrhaftig und aufrichtig für die Menschen da ist und Kirche ist - da wird sie auch bedeutsam sein. Nicht um ihrer selbst willen, sondern um der Menschen und um Gottes Willen.

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Sven Evers ist Landesjugendpfarrer der Evangelisch-Lutherischen Kirche in Oldenburg.

Sven Evers

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