Nicht ohne meine Familie

Die „Ehe für alle“ im Spiegel moderner Güterethik
Rica Samiec (links) und ihre Frau Ute Samiec mit Pflegetochter Samantha im pfälzischen Mehlingen, 2017.  Foto: epd/ Heike Lyding
Rica Samiec (links) und ihre Frau Ute Samiec mit Pflegetochter Samantha im pfälzischen Mehlingen, 2017. Foto: epd/ Heike Lyding
Die Entscheidung für die „Ehe für alle“ nötigt die evangelische Kirche zur Klärung daraus resultierender ethischer und theologischer Fragen. Im zweiten Teil unserer Serie zum evangelischen Eheverständnis reflektiert Reiner Anselm, Professor für Systematische Theologie und Ethik in München und Vorsitzender der Kammer für Öffentliche Verantwortung der EKD, die Bedeutung der Familie für die Ehe.

Im Jahr 2013 wurde die Orientierungshilfe „Zwischen Autonomie und Angewiesenheit“, das sogenannte Familienpapier der EKD, öffentlich heiß diskutiert. Es lohnt sich, auch mehr als fünf Jahre nach dieser Diskussion noch einmal darauf zurückzukommen, denn mit einigem Abstand wird noch deutlicher als damals, dass in diesem Text eine tugendethische, das heißt, die am individuellen Verhalten orientierte Sicht auf die Spitze getrieben wird. Und zwar in einer Weise, dass das Wahrheitsmoment jedweder Ordnungstheologie, nämlich der Verweis auf eine soziale Struktur, die den einzelnen Entscheidungen immer schon vorausliegt, ganz aus dem Blick gerät.

Besonders deutlich wird das, wenn es im Text pointierend heißt: Politik, Wirtschaft und Zivilgesellschaft hätten „ein neues normatives Familienmodell zu fördern, das der partnerschaftlichen Familie, in der die Rechte und Pflichten jedes Mitgliedes, auch der Kinder, gerecht untereinander geteilt und wechselseitig anerkannt werden“. Die Zielsetzung ist deutlich: Mit einer solchen Herangehensweise soll der Pluralität gegenwärtiger Familienformen Rechnung getragen und zugleich vermieden werden, dass diese im Licht etablierter Vorstellungen als illegitim erscheinen.

Allerdings ist auch die Problematik dieser Sichtweise unmittelbar erkennbar: Hier wird die individuelle Stellungnahme zu den vorgegebenen Vorstellungsmus-tern von Familie verabsolutiert, sodass es nicht mehr um die Stellungnahme zu, sondern um die individuelle Konstruktion von Familie geht. Die Problematik liegt dabei nicht darin, dass so eine Vielzahl von Familienformen zugelassen wird. Die Schwierigkeiten liegen an einem anderen Punkt: Im Zuge einer durchaus berechtigten Kritik an einem statischen Verständnis vorgegebener Ordnungen wird nun das Kind mit dem Bad ausgeschüttet, indem das Vorgegebene primär als einschränkend thematisiert wird. Damit aber wird die Bedeutung des Vorgegebenen für die eigene Lebensführung in keiner Weise adäquat erfasst.

Schlichte Überforderung

Zum einen übersieht eine solche Position schnell den konstruktiven Charakter vorgegebener Strukturen. Stellt es doch schlicht eine Überforderung der Einzelnen dar, die Stabilität einer Lebensform allein auf die individuelle Zustimmung zu gründen - wie es übrigens auch eine latente Überforderung des Einzelnen darstellen würde, den Glauben nur auf eine individuelle Zustimmung und Entscheidung zu gründen. Gerade längerfristige und grundlegende Entscheidungen bedürfen der Stützung durch Institutionen oder eben durch überindividuelle Güter. Diese Güter, und das ist der zweite Aspekt, dienen auch dazu, die jeweiligen Interessen und Bedürfnisse so miteinander abzugleichen, dass es in gemeinsamen Entscheidungsprozessen nicht zu einer Dominanz des Stärkeren kommt.

Zugespitzt gefragt: Wer definiert, was „partnerschaftlich“ ist? Darauf gibt das Familienpapier ebenso wenig eine Antwort wie auf die Frage, wie sich die Entscheidung für eine gemeinsame Lebensform zu den individuellen Freiheitsrechten verhält. Dies wiegt vor allem deswegen schwer, weil gerade strukturelle Asymmetrien, wie sie für Familien konstitutiv sind, nur durch die Beziehung auf ein gemeinsam verfolgtes Gut, nicht aber durch den Verweis auf gegenseitige Rechte und Pflichten, in einen dienlichen Ausgleich gebracht werden können. Kann man sich etwa ernstlich vorstellen, dass der Verzicht auf Freiheitsrechte seitens der Eltern durch eine Selbstverpflichtung der Kinder kompensiert würde? Nur durch die Ausrichtung an dem gemeinsam verfolgten Gut der Familie gewinnen solche Formeln ihren Sinn und ihre handlungsleitende Kraft.

Was motiviert heute eigentlich dazu, sich zu einer Partnerschaft zu bekennen, eine Ehe einzugehen und dann auch eine eigene Familie zu gründen? In diesem Zusammenhang spielt das, was im EKD-Familienpapier „Verlässlichkeit“ genannt wird, eine entscheidende Rolle: Die ungebrochene Hochschätzung der Familie resultiert aus einer doppelten Sehnsucht, die sich aber nur erschließt, wenn man die Fragen von Familie und Ehe eben nicht tugend- oder pflichtenethisch, sondern güterethisch konzipiert. Denn Güter beinhalten eben das Erstrebenswerte, und die Güter, die mit Familie und Ehe erstrebt werden, sind Verlässlichkeit und Intergenerationalität. Verlässlichkeit und Intergenerationalität sind zudem auch die beiden Punkte, an denen sich das Familienthema zu seiner religiösen Dimension erweitert. Wohlgemerkt: das Thema Familie. Denn ich bin der Meinung, dass sich das Eheverständnis nur vom Gut Familie her begründen und interpretieren lässt. Die Ehe ist abgeleitet von der Familie zu verstehen. Der normative Gehalt des Gutes „Familie“ bestimmt auch den Gehalt der Ehe.

Die Verlässlichkeit der Familie resultiert dabei genau aus der Tatsache, dass die eigene Familienzugehörigkeit für mich selbst kontingent ist. Dadurch, dass diese Bindung vom Einzelnen nicht zur Disposition gestellt werden kann, erzeugt Familie selbst eine entsprechende Bindungskraft. Gerade unter den Bedingungen moderner Gesellschaften, die im Wesentlichen projekthaft organisiert sind und in denen dauerhafte Bindungen eher die Ausnahme darstellen, ist es die Indisponibilität von Familie, die deren Attraktionskraft ausmacht. Im Unterschied zu allen anderen Bindungen ist die Zugehörigkeit zu einer Familie weder Gegenstand einer eigenen Entscheidung noch revidierbar. Sie ist, jedenfalls im biologischen Sinne, nicht austauschbar. Genau diese Indisponibiltät macht ihre nicht nur ungebrochene, sondern sogar eher steigende Attraktivität aus.

Grundsätzlich auf Dauer

Gegenüber dieser Indisponibiltät der Familie gilt für die Ehe, dass sie grundsätzlich auf einer Entscheidung beruht und als solche revidierbar ist. Der Gedanke, dass die Ehe grundsätzlich auf Dauer geschlossen wird, verdankt sie jedoch ihrer Bindung an die Familie und damit dem Gedanken der Intergenerationalität. Die besondere Bedeutung der Familie für die Realisierung individueller Freiheit besteht in der Intergenerationalität von Familienstrukturen, die einen in die Lage versetze, die Begrenzungen des Alters zu meistern. Auch dieser Gedanke verweist darauf, dass der Normalfall von Familie das Zusammenleben mit den eigenen oder den als eigenen angenommenen Kindern handelt. Das bringt es zugleich mit sich, dass das entsprechende Familienmodell zugleich das motivierende und orientierende Gut auch für diejenigen Formen von Familie darstellt, bei denen das - aus welchen Gründen auch immer - nicht der Fall ist. Die Ethik ist daher gut beraten, diesen Charakter als Normalfall anzusehen und alle anderen Formen daran zu messen - nicht im Sinne einer Abwertung, wohl aber im Sinne eines normativen Ideals. Das bedeutet aber auch, dass Partnerschaften, die konstitutiv keine eigenen Nachkommen haben können, in dieser Perspektive als defizitär wahrgenommen werden können. Welche Folgerungen man dann daraus zieht, verweist auf die wahrscheinlich größte Herausforderung einer christlichen Ethik in der Gegenwart, nämlich die Verhältnisbestimmung zur Naturalität beziehungsweise zur Körperlichkeit.

Mit dieser Frage ist auch der systematische Kern der Debatte über eine „Ehe für alle“ angesprochen. Der Emanzipationsdiskurs der Sechzigerjahre, der zu einer umfassenden Revision der bis dahin vorherrschenden Normen im Bereich des Zusammenlebens der Geschlechter führt, war maßgeblich davon getragen, der Zurückdrängung der Körperlichkeit und damit auch der Triebhaftigkeit in der christlichen Tradition entgegenzutreten. Im Hintergrund steht dabei eine Umstellung im Verständnis des Natürlichen: Dieses wird nun nicht mehr als der Gegensatz zum Sittlichen verstanden, sondern umgekehrt muss sich das Sittliche daran messen lassen, ob es mit dem Erleben der eigenen Leiblichkeit kompatibel ist. Besonders deutlich wird dies in der Neubewertung der Homosexualität, bei der die körperliche Verfasstheit, nicht die kulturelle Norm zur Grundlage wird. Flankiert wird diese Entwicklung durch die nun aufkommende ökologische Bewegung, die sich anschickte, die naturalen Grundlagen zum Referenzpunkt sittlicher Urteilsbildung zu erheben.

Verbunden ist diese Entwicklung aber noch mit einer anderen, nämlich der eingangs erwähnten Hochschätzung des Einzelnen. Die maßgebliche Verschiebung in der Bedeutung, die dem Körper und damit den naturalen Grundlagen der Lebensführung zugemessen wird, liegt in der strikten Individualität der Körperbeziehung: Anders als im Naturrecht, anders auch als in der Verwendung des Natur-Arguments in der Ökologiedebatte ist es die Einzigartigkeit des eigenen Körpers, die nun in den Mittelpunkt gerückt wird. Die Dekonstruktion der kulturellen Prägungen dient demselben Ziel: Auch hier gilt es, die Einzigartigkeit des Individuums als Referenzpunkt festzuhalten.

So sympathisch eine solche Sicht ist, weil sie der aus der Erfahrung totalitärer Herrschaft erwachsenen Hochschätzung des Einzelnen entspricht, so sehr zeigen sich doch bei näherer Betrachtung auch die Schwierigkeiten: Gerade im Bereich der Bioethik bleibt ein normatives Konzept des Normalen , bleibt also ein überindividueller Bezugspunkt der Körperlichkeit unverzichtbar, und zwar dann, wenn es um die Unterscheidung von Gesundheit und Krankheit geht. Wollte man darauf verzichten, so könnte der Wunsch nach medizinischer Therapie nicht begrenzt werden, weder am Anfang noch am Ende des Lebens. Gleichzeitig aber wäre es schwer, gesellschaftliche Unterstützung für ein nur subjektiv empfundenes Krankheitsbild einzufordern. Medizinische Unterstützung stünde dann in der Gefahr, von einem Anspruchsrecht zur Freiwilligkeit degradiert zu werden.

Vor diesem Hintergrund sind dann auch die aktuellen Fragestellungen aus dem Bereich Familie zu beantworten: Unter welchen Umständen haben ungewollt Kinderlose Anspruch auf medizinische Unterstützung? Nur dann, wenn die körperlichen Voraussetzungen eines Paares grundsätzlich gegeben sind und lediglich aktuale Beeinträchtigungen Empfängnis und Geburt eines Kindes unmöglich machen? Oder auch dann, wo im Falle gleichgeschlechtlicher Partnerschaften diese Voraussetzungen eben nicht gegeben, aber durch Fortpflanzungsmedizin substituiert werden können? Und genügen im letztgenannten Fall das individuelle Recht auf Fortpflanzung und das subjektiv empfundene Leiden, oder müssen solche Leistungen von der sozialen Akzeptanz entsprechender Maßnahmen sowie der Lebensformen, die damit verbunden sind, getragen sein? In dieser Debatte ist häufig darauf hingewiesen worden, dass - entgegen der Auffassungen, die mit der Figur des Naturrechts oder der Schöpfungsordnung argumentieren - die vorausgesetzten Normen als kulturelle Konstruktionen und damit zugleich auch als wandelbare Vorgaben betrachtet werden müssen.

Insbesondere die durch Judith Butlers frühe Arbeiten zum diskursiven, Macht repräsentierenden Charakter der Geschlechteridentität haben diesen Aspekt hervorgehoben: Geschlecht, Identität, Subjekt und Körper haben keine naturale Grundlage, sondern kommen durch diskursive Praktiken zustande. Eine solche Position läuft aber Gefahr, nach der Dekonstruktion des Subjekts keine Basis mehr bieten zu können für grundlegende Rechte, auch keine Basis mehr für den Widerstand gegen die Verletzung körperlicher Integrität. Zudem negiere eine solche Position des diskursiv hergestellten Körpers die nicht dekonstruierbaren weiblichen Besonderheiten von Schwangerschaft und Geburt. Für die Ethik bedeutet das, einen Mittelweg zu suchen zwischen einer Position, die die Individualität konkreter Personen unter eine allgemeine Norm zu fassen und darin beschränkt und einer Position, die Natur und Körper als kulturelle Konstruktionen fasst und dabei selbst die emanzipativen Ziele in Gefahr zu bringen droht, für die sie sich eigentlich einsetzen wollte. Es gilt, wenn man so möchte, ebenso wenig einem ethischen Doketismus das Wort zu reden wie einer undifferenzierten Naturrechtsethik.

Grenzen schwer zu ziehen

Nur auf dieser Grundlage kann eine Sensibilität für die Einzigartigkeit, aber auch Verletzlichkeit von konkreten Personen erhalten und bestärkt werden. Dabei wächst die Begründungspflicht mit dem Maß der Abweichung, weil mit der bewussten Abweichung, erst recht mit deren technischer Gestaltung auch eine höhere Verantwortlichkeit einhergeht: Verantwortung kann nur im Blick auf disponible, nicht durch die biologischen Grundlagen festgelegte Handlungen übernommen werden. Die Grenzen sind hier im Einzelnen schwer zu ziehen. Sie zeigen aber auf ihre Weise auch, wo der besondere Beitrag einer christlichen Ethik liegen könnte: In der Kategorie der Geschöpflichkeit, die genau im Zwischenraum naturaler Festlegung und kulturalistischer Verflüssigung angesiedelt ist: Ein Geschöpf Gottes zu sein bedeutet nach evangelischer Überzeugung, im Unterschied zu Gott selbst zur geschaffenen Natur zu gehören, also eine naturale Grundlage zu haben. Aber zugleich soll mit Geschöpflichkeit auch ausgesagt werden, dass der Einzelne in dieser natürlichen Verfasstheit nicht aufgeht. Er ist weder nur ein Produkt der Natur und ihrer Gesetzmäßigkeit, noch bleibt er vollständig in ihr verhaftet. Geschöpflichkeit bedeutet vielmehr, eine Perspektive zu kennen und anzunehmen, die über das Vorfindliche hinausgeht und darin die natürlichen Vorgaben überschreiten kann.

Informationen

Eine Langfassung dieses Textes ist jüngst als epd -Dokumentation unter dem Titel „Auf dem Weg zu einem neuen evangelischen Eheverständnis“ erschienen. Bestellung unter Telefon: 0800/758 753 7. Als nächster Text zu diesem Thema erscheint in der Aprilausgabe ein Beitrag des Bielefelder Theologen Thorsten Moos.

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