Aufbruch zu neuen Ufern

Die Weimarer Reichsverfassung und ihre Religionsartikel
„Die Weimarer Nationalversammlung“. Farbdruck nach unbezeichnetem Aquarell (um 1955), am Rednerpult Friedrich Ebert. Foto: akg-images
„Die Weimarer Nationalversammlung“. Farbdruck nach unbezeichnetem Aquarell (um 1955), am Rednerpult Friedrich Ebert. Foto: akg-images
In der Weimarer Reichsverfassung von 1919 wurde festgelegt, dass es keine Staatskirche mehr in Deutschland gibt. Außerdem entstanden in Weimar die sogenannten Kirchenartikel, die 1949 unverändert ins Grundgesetz übernommen wurden und bis heute gelten. Heinrich de Wall, Professor für Staats- und Kirchenrecht in Erlangen, beschreibt die Entstehung und die Perspektive dieser Regelungen.

Der erste Absatz von Artikel 137 der Weimarer Reichsverfassung vom 11.8.1919 (WRV) lautet: „Es besteht keine Staatskirche.“ Dieser Artikel, der auch in seinen übrigen Absätzen grundlegende Bestimmungen zu den Religionsgemeinschaften, ihren Rechten und ihrer Stellung in der staatlichen Rechtsordnung enthält, gilt gemäß Artikel 140 des Grundgesetzes auch heute weiter. Mit Artikel 137 Absatz 1 WRV wurde das Ende des landesherrlichen Kirchenregiments, der deutschen Form des evangelischen Staatskirchentums, rechtlich festgeschrieben. Nach gängiger - und in richtigem Verständnis zutreffender - Lesart wurde damit auch die Trennung von Staat und Kirche besiegelt.

Viele „Väter und Mütter“ der Weimarer Reichsverfassung hätten dieser Lesart allerdings vermutlich vehement widersprochen. Den Grundsatz der Trennung von Staat und Kirche hat man nämlich in der Weimarer Nationalversammlung bewusst nicht in den Text der Verfassung aufgenommen. Die Forderung nach der Trennung von Staat und Kirche ist im Umfeld und in der Diskussion der verfassunggebenden Nationalversammlung in Weimar durchaus erhoben und intensiv diskutiert worden. In den Verhandlungen der Nationalversammlung hat man aber erkannt, dass unter der Trennung von Staat und Kirche ganz Unterschiedliches verstanden wurde. Dabei wurde aufgezeigt, dass auch in Staaten, in denen vermeintlich eine Trennung verwirklicht sei (genannt wurden zum Beispiel Frankreich, usa, Belgien, Irland und Holland), in der Sache unvermeidliche Berührungspunkte bestünden; auch in ihnen gebe es keine „vollständige Trennung“. Treffend hat der Abgeordnete Joseph Mausbach (Zentrum) in den Verhandlungen darauf hingewiesen, „daß vielfach mehrdeutige Worte wie Trennung von Staat und Kirche (…) der Verständigung im Wege stehen“. Lässt sich der (tatsächliche oder vermeintliche) Widerspruch zwischen dem Verzicht auf eine ausdrückliche „Trennung von Staat und Kirche“ in den Bestimmungen der Weimarer Reichsverfassung und dem heutigen Verständnis von Artikel 137 Absatz 1 WRV als Besiegelung einer solchen Trennung auflösen?

Damals wie heute ist weitgehend unbestritten, dass Staat und Kirchen spätestens seit dem Inkrafttreten von Artikel 137 Absatz 1 WRV voneinander unabhängige - und insofern getrennte - Organisationen sind. Dessen ungeachtet wird auch in der Gegenwart gelegentlich gefordert, dass Staat und Kirche endlich vollständig voneinander getrennt und damit der Geist der Verfassung verwirklicht werden sollte. Zweifel an einer „vollständigen“ Trennung kommen auch in verunglückten und verwirrenden Sprachbildern wie dem oft zitierten, von dem evangelischen Kirchenrechtshistoriker Ulrich Stutz in der Weimarer Zeit geprägten Begriff der „hinkenden Trennung von Staat und Kirche“, zum Ausdruck.

Die gegenseitige Unabhängigkeit von Staat und Kirche als Organisationen, der eigentliche Kern ihrer Trennung, ist in der Tat durch die Weimarer Reichsverfassung besiegelt worden. Allerdings auch nicht mehr als das - eben besiegelt und nicht hervorgerufen. Artikel 137 Absatz 1 WRV war insofern kein Paukenschlag. Er ist nur der Endpunkt eines längeren Prozesses, der die vormals enge Verbindung der evangelischen Landeskirchen mit dem Staat im Laufe des 19. Jahrhunderts gelockert hat. Das landesherrliche Kirchenregiment, das die Befugnis des Landesherrn zur rechtlichen Leitung der Kirche bezeichnet, war in den deutschen Ländern ganz unterschiedlich ausgestaltet. Dessen ungeachtet lässt sich im Gesamtbild ein Auseinandertreten der kirchlichen und der staatlichen Organisation im Laufe des 19. Jahrhunderts bis zur Weimarer Reichsverfassung hin beobachten. Zum Teil war die kirchliche Verwaltung zum Beginn des 19. Jahrhunderts weitgehend in die staatliche Verwaltung integriert. Die Schaffung eigener kirchlicher Organe war danach ein entscheidender Schritt zur Verselbständigung der Kirchen vom Staat. Solche Elemente eigenständiger kirchlicher Organisation waren die Synoden als gesetzgebende Organe, die seit dem zweiten Drittel des 19. Jahrhunderts eingerichtet worden sind. Dazu tritt die Ausgliederung der kirchlichen Verwaltungsorgane aus der staatlichen Verwaltung durch die Einrichtung von selbständigen Konsistorien, Ober- oder Landeskirchenräten. Dabei war der Grad von deren Selbständigkeit und der Umfang der verbleibenden staatlichen Aufsicht in den Ländern wiederum unterschiedlich. Jedenfalls standen im Ergebnis kirchliche und staatliche Organisation mehr oder weniger eigenständig einander gegenüber. Die organisatorische Einheit von Staat und Kirche bestand nur noch in der Person des Landesherrn als Träger der Staatsgewalt einerseits und des Kirchenregiments andererseits. Insofern kann man bereits für den Beginn des 20. Jahrhunderts von einer Kirche sprechen, die vom Staat weitgehend, wenn auch nicht vollständig getrennt war.

Abdankende Monarchen

Nachdem die Monarchen abgedankt hatten, bestand kein Zweifel daran, dass sich diese Abdankung nicht nur auf ihre staatliche Funktion bezog, sondern auch ihre Eigenschaft als Träger des landesherrlichen Kirchenregiments umfassen musste. Damit entfiel aber eben ein wichtiger Teil der kirchlichen Organisation. Die kirchenregimentlichen Befugnisse wurden 1918/19 meist durch kirchliche Gesetze beziehungsweise durch Gesetze der abdankenden Monarchen auf die Kirche selbst übertragen. Dies ist ein Beispiel dafür, dass man von der Selbständigkeit der Kirche gegenüber dem Staat, die durch den Wegfall der Monarchen als Träger des Kirchenregiments vervollständigt worden war, ausging und sie festigen wollte.

In dieser Situation ist aber in einigen Ländern, insbesondere im bei weitem größten und wichtigsten, nämlich Preußen, durch die revolutionären Regierungen versucht worden, die kirchenregimentlichen Befugnisse des abgedankten Monarchen selbst zu übernehmen. Dies geschah ausgerechnet durch Vertreter der politischen Linken, die vorher besonders energisch die Trennung von Staat und Kirche gefordert hatten und die sich damit in eklatanten Widerspruch zu dieser eigenen Forderung setzten. Auch deshalb ist es kein Wunder, dass der Begriff der Trennung nicht nur bei Vertretern der Kirche, sondern auch bei Abgeordneten der Nationalversammlung politisch infiziert und negativ besetzt war. Das lag allerdings auch daran, dass unter dem Begriff der Trennung von Staat und Kirche ganz unterschiedliche Forderungen zusammengefasst wurden.

Neben der an sich unstreitigen organisatorischen Selbständigkeit der Kirche vom Staat und dem damit verbundenen Selbstbestimmungsrecht der Kirche wurde unter der Parole der Trennung von Kirche und Staat die Abschaffung des Religionsunterrichts, die Aufhebung der theologischen Fakultäten an staatlichen Hochschulen, die Abschaffung der Militär- und Anstaltsseelsorge oder die Abschaffung des Feiertagsschutzes verstanden, auch die Abschaffung der Rechte, die im Status der Kirchen als öffentlich-rechtlichen Körperschaften zusammen gefasst waren, darüber hinaus die Aufhebung aller finanziellen Leistungen des Staates an die Kirchen, die Entziehung ihres Rechtes zur Erhebung öffentlicher Abgaben und so weiter und so fort.

In Anbetracht dieses unscharfen und unklaren Begriffs, der nicht nur die organisatorische Stellung der Kirchen gegenüber dem Staat bezeichnete, sondern auf die Beseitigung aller religiöser Beziehungen des öffentlichen Lebens hinzuwirken schien, ist es wenig verwunderlich, dass aus den Kirchen selbst erheblicher Widerstand gegen die Forderung nach der Trennung von Staat und Kirche geäußert wurde. Die katholischen Bischöfe Preußens bezeichneten sie in einem Hirtenbrief vom 20.12.1918 sogar als „bittere und gottlose Rechtsverletzung“ und als „Frevel gegen Gott den Herrn“.

Vor diesem Hintergrund haben die Verfassungsmütter und -väter diesen Begriff nicht in den Text der Verfassung aufgenommen, sondern stattdessen Regelungen über konkrete Sachfragen und Probleme getroffen. Dass dabei die Unabhängigkeit der Kirche vom Staat und ihre Selbstbestimmung Grundlage sein sollte, das verdeutlicht die an erster Stelle des Artikel 137 stehende Aussage „es besteht keine Staatskirche“, aber auch das in Absatz 3 gewährleistete Selbstbestimmungsrecht der Religionsgemeinschaften in den Schranken des für alle geltenden Gesetzes. Im Übrigen hat man für einzelne Themen Lösungen gefunden: Für das Besteuerungsrecht, für die Anstaltsseelsorge, für den Religionsunterricht, für Vermögensgarantien, für die Sonn- und Feiertage, für theologische Fakultäten, für den Rechtsstatus als Körperschaften des öffentlichen Rechts. Dagegen hat man davon abgesehen, ein zusammenfassendes Schlagwort oder einen Begriff für ein Prinzip in den Verfassungstext aufzunehmen. Erst in der späteren rechtswissenschaftlichen Debatte um die Bedeutung der Weimarer Artikel hat man dann intensiv diskutiert, was das dahinterstehende staatskirchenrechtliche „System“ sei.

Die Einzelregelungen bilden den sogenannten „Kulturkompromiss“ der Weimarer Reichsverfassung. Sie beruhen auf dem Verständigungswillen der politischen Richtungen und Parteien in der Weimarer Nationalversammlung. Man hat das Ergebnis als „dilatorischen Formelkompromiss“ (Carl Schmitt) bezeichnet, also als eine die zugrundeliegenden Konflikte und Positionen hinter mehrdeutigen Begriffen verdeckende und ihre Lösung aufschiebende Regelung. Auch wenn die Kirchen sich anfänglich mit ihrer neuen verfassungsrechtlichen Stellung schwer getan haben, war der Weimarer Kompromiss so tragfähig, dass er auch nach 100 Jahren noch eine solide Basis der Verhältnisbestimmung von Staat und Kirche ist, und das unter stark veränderten religionssoziologischen und - demografischen Verhältnissen. Dies zeigt, dass die Weimarer Regelungen entgegen ihrem vermeintlich „dilatorischen“ Charakter auf soliden und konsensfähigen Grundentscheidungen fußen, nämlich individueller und kollektiver Religionsfreiheit, Selbstbestimmungsrecht der Religionsgemeinschaften sowie Gleichheit der Religionen.

Vieldeutige Begriffe

Das Beispiel der Weimarer Verfassung und ihrer Entstehung lehrt uns aber auch noch etwas anderes, das auch in den gegenwärtigen Fragen weiterhelfen kann. Es ist zielführender, konkrete Lösungen für ebenso konkrete Sachfragen und Probleme zu suchen, als um abstrakte Begriffe und Konzepte und die Konsequenz ihrer Durchsetzung zu streiten.

Dass die Weimarer Verfassung abstrakte und vieldeutige Begriffe wie Trennung von Staat und Kirche oder auch Säkularität oder Laizität, um andere Konzepte zu nennen, vermeidet und stattdessen Regelungen für konkrete Problemfelder anbietet, kann uns auch ein Leitfaden für die Diskussion um Fragen des Religionsverfassungsrechts in heutiger Zeit sein. Es kann uns auch für den Umgang mit dem Islam Wege weisen. Da die Verfassung keinen abstrakten Begriff, kein übergeordnetes Konzept festlegt, ist der Weg frei, tragfähige Lösungen für einzelne Problemfelder wie etwa den Religionsunterricht oder die theologischen Fakultäten zu finden, ohne sich dabei mit der Frage um deren Vereinbarkeit mit umstrittenen und vielschichtigen Konzepten wie dem Grundsatz der Trennung oder, um ein anderes Beispiel zu nennen, der religiös-weltanschaulichen Neutralität des Staates abzukämpfen. Auch dieses, vom Bundesverfassungsgericht aus der Zusammenschau zentraler Bestimmungen des geltenden, im Kern auf der WRV beruhenden Staatskirchen- beziehungsweise Religionsverfassungsrechts abgeleitete Konzept ist schillernd und verleitet dazu, es mit den unterschiedlichsten Vorstellungen zu füllen.

Die Verfassung selbst nennt den Neutralitätsgrundsatz aber nicht - sehr wohl aber Religionsfreiheit, Selbstbestimmungsrecht der Religionsgemeinschaften, Gleichheit der Religionen und Verbot der Staatskirche. Diese Verfassungsvorschriften sind Maßstäbe für die Gestaltung des Verhältnisses zum Islam in Einzelfragen. Man muss versuchen, in den dadurch gesetzten Grenzen Lösungen zu finden, die den Interessen von Staat, Religionsgemeinschaften und Individuen gerecht werden. Ob und inwiefern diese dann in ein Konzept wie das der Trennung von Staat und Kirche oder der religiös-weltanschaulichen Neutralität passen, darüber mag man streiten. Man sollte aber nicht behaupten, dass die Verfassung, die gerade kein solches Konzept in ihren Rang erhebt, einer solchen Lösung entgegensteht.

Diskussionen darüber, ob die „Trennung von Staat und Kirche“ tatsächlich verwirklicht sei, zeigen bisweilen eine tiefe Verwurzelung, ein Gefangensein in einer Begriffsbildung des 19. Jahrhunderts. Es wäre vernünftig, sich davon zu lösen, wie es bereits die Weimarer Reichsverfassung getan hat.

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Heinrich de Wall

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