Dies ist ein Buch zur rechten Zeit. Gegenwärtig wird Mitmenschlichkeit von bestimmten politischen Kräften in einer Weise diffamiert, dass man sich an die Nazi-Polemik gegen „Humanitätsduselei“ erinnert fühlt. Der Fortschritt in Naturwissenschaft und Technik erreicht und überschreitet bisher gültige Grenzen des Menschlichen. Akute globale Krisen vielfältigster Art lassen einen mit neuer Dringlichkeit danach fragen, wie sich überhaupt noch ein gemeinsames Verständnis des Humanen gewinnen lässt. Der Verzehr der natürlichen Lebensgrundlagen durch den modernen Menschen schließlich führt vor die immense Aufgabe, sich selbst lebensnotwendige Grenzen zu setzen. Da ist Volker Gerhardts philosophischer Versuch, Humanität zu denken, höchst willkommen. Doch zum Glück ist dies keines dieser aktualistischen Debatten-Bücher, die auf kurzfristige Erregung zielen. Sein Buch besitzt einen weiten Blick und einen langen Atem. Weit greift es zurück auf klassische Philosophen wie Platon, Kant oder Nietzsche. Mit besonderer Sorgfalt lässt es auch oft übersehenen Denkern wie Cicero, Erasmus oder Wilhelm von Humboldt, die viel zum Verständnis der Humanität beigetragen haben, die verdiente Aufmerksamkeit zukommen. Doch Gerhardt betreibt keine Philosophiegeschichte für Experten, sondern versucht, ein Gespräch über die Epochen hinweg zu führen und Antworten auf gegenwärtige Fragen zu finden.
Was ist der Mensch? Diese philosophische (und theologische) Hauptfrage versucht Gerhardt dadurch zu durchdringen, dass er einerseits den Menschen als Teil der Natur versteht und andererseits seine Besonderheit darin fasst, dass der Mensch das einzige Tier ist, das sich selbst zum Problem wird und über sich selbst nachdenken muss. Weder erklärt er den Menschen zur Krone der Schöpfung, noch lässt er sich auf Abwertungen des Humanen ein. Darin zeigt Gerhardt ein eigentümliches Charisma der Vermittlung, kunstvoll balanciert er angebliche Gegensätze so aus, dass ein differenziertes, stimmiges und spannungsreiches Bild des Menschen entsteht. Bei aller ruhigen Nachdenklichkeit hat er aber auch ein engagiertes Buch geschrieben. Es brauche heute, „Mut, ein Mensch zu sein“, „Menschheit“ als das zu denken, was uns eigentlich eine Identität beschert (und eben nicht Klasse, Religion, Hautfarbe oder Nation) und für Menschenliebe einzutreten. Und dies gerade in einer Zeit, da die Menschheit die Grundlagen allen Lebens bedroht.
Es ist erstaunlich, wie viele Hauptaspekte des Menschlichen in diesem gar nicht überlangen, weil fein komponierten Buch beleuchtet werden: der Mensch als „homo quaerens“ und sein Verhältnis zum Tier, seine Vernunft und ihre Beziehung zu Körper und Gefühlen, die Technik, das Spiel und das öffentliche Leben - und dies in einer einfach-eleganten Sprache, so dass man als Leser folgen und mitdenken kann.
Sehr anregend sind schließlich die theologischen Spuren, die man in diesem philosophischen Buch finden kann. Denn der Begriff der Menschheit hängt für Gerhardt mit dem der Gottheit zusammen: „Gott ist das uns schlechthin Unbekannte, und glauben heißt, ihm dennoch zu vertrauen. Schon darin liegt das denkbar größte Selbstvertrauen des Menschen, das er braucht, um angesichts der Altlasten seiner Vergangenheit, der Gegensätze seiner Gegenwart und der Ungewissheit seiner Zukunft den Mut zum eigenen Handeln nicht zu verlieren. Also befreit der Glauben an ein Göttliches nicht davon, selbst alles Erdenkliche zu tun, damit der Mensch in seiner Menschlichkeit eine Zukunft hat. Wohl aber bietet er die besten Gründe, sich mit allen Menschen im Anspruch auf eine gemeinsame Bewältigung ihres Daseins einig zu sein.“
Johann Hinrich Claussen