Der Traum einer Diktatur

Weder der Kapitalismus noch das Internet haben China Freiheit geschenkt. Im Gegenteil
Staatspräsident Xi Jinping - eine Machtfülle wie Mao. Foto: picture alliance
Staatspräsident Xi Jinping - eine Machtfülle wie Mao. Foto: picture alliance
In China machen sich Staatschef Xi Jinping und seine Partei an die Neuerfindung der Diktatur für das Informationszeitalter. Sie tun dies in bewusster Konkurrenz zu den Systemen des Westens. Das hat gewaltige Implikationen für die Demokratien dieser Erde, analysiert der ehemalige China-Korrespondent der Süddeutschen Zeitung Kai Strittmatter.

Ich beschäftige mich nun mit China seit meiner Zeit als Student in München und Xi’an, seit mehr als drei Jahrzehnten. Und das unablässig Purzelbäume schlagende China schien mir in der Zeit immer der spannendste Ort unseres Erdballs. Aber so spannend wie jetzt war es wohl noch nie. Und noch nie ging es uns hier in Europa, in Deutschland, so direkt etwas an.

Das China, das wir kannten, es ist nicht mehr. Das China, das uns vier Jahrzehnte lang begleitete, das China von „Reform und Öffnung“, es macht gerade etwas völlig Neuem Platz. In China entsteht gerade etwas, was die Welt so noch nicht gesehen hat. Ein neues Land, ein neues Regime. Eines wird immer klarer: Die größte Herausforderung für unsere Demokratien, für Europa in den nächsten Jahrzehnten wird nicht Russland, es wird China sein. Dieses China arbeitet zuhause an dem perfekten digitalen Überwachungsstaat, und seine Seeleningenieure basteln wieder an dem „neuen Menschen“, von dem schon Lenin, Stalin und Mao träumten. Dieses China möchte die Welt nun ein Stück weit nach seinem Bilde formen.

Die Kommunistische Partei Chinas hat ihren Chef, Generalsekretär Xi Jinping, dort hingesetzt, wo seit Mao Zedong keiner mehr war. Ganz oben. Über sich nur noch den Himmel. China hat jetzt wieder einen „Steuermann“. Xi ist der mächtigste chinesische Führer seit Jahrzehnten, und er herrscht über ein China, das so stark ist wie seit Jahrhunderten nicht mehr. Eine Nation, die sich mit großem Ehrgeiz aufmacht, noch stärker zu werden - wirtschaftlich, politisch, militärisch. Eine Nation, der die Selbstdemontage des Westens wie ein Geschenk des Himmels in den Schoß fiel. Ein Regime, dem mit den Informationstechnologien des 21.Jahrhunderts und ihren radikal neuen Möglichkeiten der Kontrolle und der Manipulation Machtinstrumente bereit stehen, über die noch kein Diktator verfügen konnte. Und so machen sich Xi und seine Partei an die Neuerfindung der Diktatur fürs Informationszeitalter - in bewusster Konkurrenz zu den Systemen des Westens. Und das hat gewaltige Implikationen für die Demokratien dieser Erde. Xi Jinping hat seinem Volk und der Welt ein „neues Zeitalter“ versprochen, und in der Tat baut er an einem neuen China. Beide, Volk und Welt, haben Grund, nervös zu sein. Wo sich Deng Xiaoping dem Pragmatismus verschrieb, huldigt Xi Jinping wieder der Ideologie: Er predigt Marx und praktiziert Lenin mit lange nicht gesehener Wucht und Strenge, und weil er spürt, dass Marx vielen Leuten nichts mehr sagt, schenkt er ihnen noch Konfuzius und stürmischen Nationalismus dazu. Wo Deng dem Land Öffnung und Neugier predigte, schottet Xi China wieder ab.

Ende des Pragmatismus

Xi macht Schluss mit wichtigen Prämissen der Reform- und Öffnungspolitik Deng Xiaopings. Deng hatte China einst aus dem Chaos Mao Zedongs geführt, der das Land in Ruinen gelegt hatte. Damit das klappte, tat Deng vor allem eines: Er hielt dem Volk in einem bis dahin nicht gekannten Maße die Politik vom Hals. Er verdammte den maoistischen Personenkult und verschrieb der Partei eine kollektive Führung. Er betrieb, zumindest in den Jahren vor 1989, die Trennung von Staat und Partei, und er gestattete der Gesellschaft auch jenseits der Wirtschaft neue Freiheiten. All das verschaffte Chinas KP ihren viel gerühmten Pragmatismus, ihre sagenhafte Wandlungs- und Anpassungsfähigkeit. All das machte das chinesische Wunder erst möglich, das Xi Jinping erbte und auf dem er seinen Traum von der „Wiederauferstehung der großen chinesischen Nation“ aufbaut.

Und mit all dem bricht Xi nun. Er betreibt die Reideologisierung des Landes, er zieht alle Macht an sich, er erstickt alle Experimente, er schottet China wieder ab und er macht die Partei wieder allgegenwärtig und allmächtig. Sein China ist nicht länger ein Staat, der dem wirtschaftlichen Erfolg alles unterordnet - im Zentrum steht nun wieder die politische Kontrolle. Seine Partei ist keine mehr, die Aufgaben abgibt an den Staat, an die Unternehmen, an die Zivilgesellschaft, an die Medien, die sich Freiräume erkämpft hatten. Xi hat die Freiräume wieder ausgelöscht. Er hat es geschafft, in nur einer Amtszeit eine nervöse, von Krisenstimmung gebeutelte KP in seinen eisernen Griff zu bekommen und eine vielfältige, lebendige, manchmal unbotmäßige Gesellschaft zu „harmonisieren“, wie das in China heißt, also die Stimmen der Andersdenkenden zu ersticken und jeden Winkel dem Gebot der Partei zu unterwerfen. Der sich unkorrumpierbar gebende Xi säubert das Land und die Partei, auch ideologisch. Tatsächlich macht Xi die Partei noch ein ganzes Stück gottgleicher, als sie schon immer war. Noch allwissender, noch allgegenwärtiger. Er borgt sich einen alten Spruch Maos: „Egal ob die Regierung, das Militär, das Volk oder die Schulen, egal ob Osten, Westen, Süden, Norden oder das Zentrum - die Partei beherrscht alles.“

Die Ideologie ist zurück, der Personenkult ist zurück, die Einmanndiktatur ist zurück. Xi geht also einen Riesenschritt zurück in die Vergangenheit. Aber wenn das alles wäre, dann wären Xi und seine KP einfach nur wieder dort gelandet, wo vor ihm auch schon andere waren, die kpdsu zum Beispiel, und wir im Westen bräuchten uns nicht groß den Kopf zerbrechen dieser Partei und dieses Landes wegen. Der Schritt mit einem Bein zurück in die leninistische Diktatur ist aber nur das eine: Mit dem anderen Bein geht Xi Jinping weit in die Zukunft, dorthin wo noch kein anderer Herrscher vor ihm war, an einen Ort, von dem alle Diktatoren träumen - weil er ihnen mithilfe der modernen Informationstechnologien erstmals wirklich die totale und lückenlose Kontrolle der Untertanen ermöglicht. Xi Jinping erfindet die Diktatur gerade neu - er verpasst ihr ein digitales Update mit den Mitteln des 21. Jahrhunderts, mithilfe von Künstlicher Intelligenz und Big Data.

Xi und die Partei empfinden die Informationstechnologien des 21. Jahrhunderts nicht als Bedrohung, sondern als Gottesgeschenk, als Zauberwaffen. Mithilfe von Big Data und Künstlicher Intelligenz wollen sie ihren eigentlich hoffnungslos anachronistischen leninistischen Apparat in die Zukunft katapultieren. Und so stürzt sich China mit einer Leidenschaft und mit einer Wucht in die Digitalisierung aller Lebensbereiche wie im Moment kein zweites Land auf der Welt. Die Partei betreibt dieses Unterfangen aus mehreren Gründen: Sie verspricht sich einen Innovations- und Modernisierungsschub für die Wirtschaft. Gleichzeitig erhofft sie sich vor allem von der Künstlichen Intelligenz Krisensteuerungsmechanismen, die nicht nur Finanzwelt und Wirtschaft, sondern auch den politischen Apparat widerstandsfähig machen sollen gegen alle Arten von Herausforderungen.

Davon, die Untertanen lückenlos und total überwachen zu können, träumten die Autokraten der Welt schon lange, und die KP glaubt, diesen Traum nun verwirklichen zu können. Schon jetzt hat die KP das Land mit dem „Himmelsnetz“ überzogen: einem fast lückenlosen Netz von KI-basierten Überwachungskameras. Das Parteiblatt Volkszeitung schrieb im vergangenen Jahr, das System sei jetzt schon in der Lage, jeden der 1,4 Milliarden Chinesen „innerhalb von einer Sekunde“ zu erkennen. Und das ist erst der Anfang. Wenn die Hi-Tech-Pläne der KP nun Wirklichkeit werden, dann sehen wir in China die Rückkehr des Totalitarismus im digitalen Gewande: Jeder Schritt, jeder Atemzug und jeder Gedanke eines jeden Untertanen wird einfließen in die Datensammelsysteme des Apparats. Alles wird in Echtzeit aufgezeichnet, ausgewertet und sanktioniert. Ein Pekinger Minister jubelte schon, mit Hilfe von KI und Big Data könne die Partei endlich „im Voraus wissen, wer ein Terrorist sein und wer Böses im Schild führen könnte“. Natürlich weiß die Partei das schon lange, bevor es der Betreffende selbst weiß. Die KP Chinas möchte damit den perfektesten Überwachungsstaat schaffen, den die Welt je gesehen hat. Noch besser: einen, dem man die Überwachung oft nicht einmal ansieht, weil er sie in die Köpfe der Untertanen selbst verpflanzt. Dieses neue China soll kein riesiger, von Askese und Zucht geprägter Kasernenhof sein wie noch bei Mao, sondern eher eine von außen bunt anzusehende Mischung aus George Orwells „1984“ und Aldous Huxleys „Schöne neue Welt“, wo sich der Mensch dem Kommerz und Vergnügen verschreibt und so ganz von allein der Überwachung ergibt.

„Die Digitalisierung hat dem chinesischen Volk die Chance des Jahrtausends geschenkt“, jubelte eine Parteizeitung im letzten Jahr. Die KP ließ schon 2017 einen Plan über die Entwicklung der Künstlichen Intelligenz ausarbeiten. Im Jahr 2025 möchte China dem Plan zufolge selbst „wichtige Durchbrüche“ in der KI-Forschung und -Anwendung erreichen. Fürs Jahr 2030 schließlich wünscht sich Peking, dass China alleine an der Spitze steht und „das wichtigste KI-Innovationszentrum der Welt“ ist. China wieder auf dem Weg zur Nummer Eins. Und sie liegen im Plan: Wie das Allen Institute for Artificial Intelligence aus Seattle im März schrieb, werden Chinas KI-Wissenschaftler in diesem Jahr zum ersten Mal ihre amerikanischen Kollegen überholen bei der Anzahl ihrer Studien innerhalb der meistzitierten fünfzig Prozent aller KI-Papiere. Das wertvollste KI-Startup haben sie schon: Die Gesichtserkennungs-Firma SenseTime, bei der sie mir während eines Besuchs stolz erzählten, allein in den vergangenen zwölf Monaten seien 3.000 Gesuchte dank ihrer Gesischtserkennungskameras festgenommen worden.

Allgegenwärtige Algorithmen

SenseTime-Technologie wird auch in Xinjiang eingesetzt, Chinas Westprovinz, die im Verlauf von nur eineinhalb Jahren nicht nur zum Lagerstaat wurde, in dem mehr als eine Million muslimische Uiguren in Umerziehungslagern einsitzen. Xinjiang ist zudem zum Labor geworden für Chinas Hi-Tech-Überwachung.

Zentraler Bestandteil dieses neuen Chinas wird auch das zuletzt viel beschriebene „Soziale Bonitätssystem“, das die Untertanen in „Vertrauenswürdige“ und „Vertrauensbrecher“ einteilt. Von 2020 an soll das System jede Handlung eines jeden Chinesen in Echtzeit aufzeichnen und die Summe seines wirtschaftlichen, sozialen und moralischen Verhaltens sodann mit Belohnungen und Strafen vergelten. Jeder Bürger erhält dann einen Bewertungsstempel, der über seinen Zugang zu gesellschaftlichen Ressourcen entscheidet. Schon im letzten Jahr wurde 17,5 Millionen Bürgern der Kauf eines Flugtickets verweigert, weil sie auf einer schwarzen Liste als Vertrauensbrecher registriert waren. Allgegenwärtige Algorithmen schaffen in dieser Vision den ökonomisch produktiven, sozial harmonierenden und politisch gefügigen Untertanen, der sich am Ende stets vorbeugend selbst zensiert und sanktioniert.

Das alles ist deshalb von Bedeutung für uns, weil China gleichzeitig zum ersten Mal seit vielen Jahrzehnten mit großen Schritten „ins Zentrum der Welt“ (so Xi Jinping 2017) marschiert. Parteichef Xi Jinping hat seinem Volk die Erfüllung eines „Chinesischen Traums“ versprochen, der nichts anderes ist als die Rückkehr Chinas zu alter Größe. Gleichzeitig ist der Wettbewerb der Systeme zurück. Nicht der Westen, China selbst habe „die echteste Demokratie“, erklärte Xi - und die effizienteste dazu. Chinas KP möchte die Welt nun ein Stück weit nach ihrem Bilde formen. Sie tut das mit gewaltigen Projekten wie der Neuen Seidenstraße, das natürlich mindestens so sehr geopolitisches wie wirtschaftliches Projekt ist. Und sie tut das mit der aggressiven globalen Expansion ihrer Propagandamedien und mit verstärkten Einflussoperationen weltweit.

Chinas KP drängt längst in unsere Universitäten, sie drängt in unsere Denkfabriken, sie drängt in unsere Medien und sie übt Druck aus auf unsere Unternehmen - so dass schon jetzt deutsche Verlage wie Springer Nature (der größte Wissenschaftsverlag der Welt) ihre Webseiten zensieren auf Drängen Pekings, und der Autokonzern Daimler sich öffentlich vor der KP in den Staub wirft, weil die Firma zuvor den Dalai Lama mit einem Kalenderspruch auf ihrem Instagramm-Kanal zitiert hatte.

Xi Jinping hat der Welt die „Weisheit Chinas“ versprochen, aber die Normen und Werte, der die KP nun weltweit Einfluss verschaffen will, sind natürlich nicht der Weisheit der klassischen chinesischen Philosophie entsprungen - es sind schlicht die Normen und Werte einer leninistischen Diktatur. Das chinesische Modell, die neoautoritäre Inbesitznahme des Internets und der neuen Technologien - im Moment funktioniert das nicht nur prima, es strahlt auch schon aus: Länder wie Russland, Saudi-Arabien, Vietnam oder Kambodscha nehmen sich längst ein Vorbild an Peking, dem Vorreiter in Sachen raffinierter Netz- und Bürgermanipulation. China und seine Hi-Tech-Firmen haben schon begonnen mit dem Export der digitalen Diktatur.

Ich war 1986 als Student und 1997 als Journalist nach China gegangen. Wenn man damals über China schrieb, dann schrieb man über China. Wenn man heute über China schreibt, dann schreibt man immer auch über uns. Einst hieß es, der Kapitalismus werde China die Freiheit bringen. Er hat es nicht getan. Dann hieß es, das Internet werde Chinas Parteiherrschaft unterwandern. Im Moment sieht es eher so aus, als unterwandere China den Kapitalismus und das Internet gleich mit. Zeit, dass wir aufhorchen, aufwachen!

Literatur

Kai Strittmatter hat gerade ein Buch über China und den Ausbau der Diktatur dort geschrieben: Die Neuerfindung der Diktatur. Wie China den digitalen Überwachungsstaat aufbaut und uns damit herausfordert. Piper Verlag (München) 2018, Preis: Euro 22,-

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zur Rezension von Kai Strittmaters Buch "Die Neuerfindung der Diktatur"

Kai Strittmatter

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