Machen sich Pfarrer strafbar?

Ein Überblick zu den gegenwärtigen Rechtsfragen zum Kirchenasyl
Manchmal muss beim Kirchenasyl improvisiert werden. Foto: kna/ Harald Oppitz
Manchmal muss beim Kirchenasyl improvisiert werden. Foto: kna/ Harald Oppitz
Durch das europarechtlich verbindliche „Dublin“-System ist Deutschland fast nie für das Asylverfahren der Flüchtlinge zuständig, die es in die Bundesrepublik schaffen. Hier greift das Kirchenasyl, das der Staat in Ausnahmefällen toleriert. Die rechtliche Problematik analysiert der Jurist Simon Bieda, der derzeit am Kirchenrechtlichen Institut der EKD in Göttingen zum Thema Kirchenasyl promoviert.

In Den Haag soll eine armenischen Familie abgeschoben werden. Die protestantische Bethelkerk hat die Familie aufgenommen und veranstaltet nun schon seit drei Wochen ununterbrochen einen Dauergottesdienst. Denn der Artikel 12b des niederländischen Allgemeinen Betretungsgesetzes verhindert, dass die Polizei eine Kirche während eines Gottesdienstes betritt. Der Pfarrer kündigte an, er habe noch meterweise Predigt im Regal. Die öffentlichkeitswirksame Aktion soll die Politik dazu bringen, zumindest ein sogenanntes ‚Kinderpardon‘ auszusprechen, wodurch nach niederländischem Recht die ausreisepflichtigen Kinder der Familie bleiben könnten.

Hierzulande sind keine derartigen Dauergottesdienste bekannt. Dabei gibt es in Deutschland sehr viel mehr Kirchenasylfälle. Vorvergangenes Jahr wurden dem Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF) etwa 600 Kirchenasyle gemeldet, 2017 waren es rund 1.500. Und auch ein Betretungsverbot wie in den Niederlanden gibt es nicht. Die Polizei ist rechtlich durch nichts daran gehindert, Abschiebungen in Kirchenräumen zu vollstrecken. Auf welcher Basis toleriert der deutsche Staat dann die Kirchenasylgewährung? Machen sich Kirchenasylflüchtlinge und Pfarrerinnen und Pfarrer strafbar? Und wieso könnte die gegenwärtige Praxis kurz vor dem Ende stehen?

Das Kirchenasyl spielte das letzte Mal in den achtziger und neunziger Jahren eine Rolle, als viele Menschen vor dem Zerfall des Ostblocks fliehen mussten. Die Asylzahlen wurden Anfang der Neunzigerjahre so hoch, dass sich die Politik gezwungen sah zu handeln. Das Asylgrundrecht des Artikel 16a GG „Politisch VerfOLGte genießen Asylrecht“ wurde durch nachfolgende Absätze relativiert. Man kehrte der kollektiven Erfahrung von hunderttausenden Menschen, die vor dem Nationalsozialismus fliehen mussten und die zu einem Asylgrundrecht für jedermann geführt hatten, den Rücken zu. Flüchtlingen aus sicheren Dritt- und Herkunftsstaaten konnten seit dem sogenannten Asylkompromiss abgeschoben werden.

Respekt vor sakralem Raum

Kirchengemeinden lernten die Schicksale der Flüchtlinge kennen und bekamen mit, dass ein Land nicht unbedingt sicher sein muss, nur weil es politisch für „sicher“ erklärt wurde. So entstand die Idee, an die alte Tradition des Kirchenasyls, die schon bis ins Altertum und Mittelalter zurückreicht, anzuknüpfen. Im Mittelalter sollte vor allem Selbstjustiz verhindert werden, indem jemand bis zur Verkündung eines Urteils in der Kirche Schutz finden konnte. In der modernen Version des Kirchenasyls geht es darum, Flüchtlingen vor ihrer Abschiebung in „sichere“ Staaten zu bewahren. Ihnen wird vorübergehend Schutz gewährt, um in der Zeit eine andere politische Entscheidung zu erwirken. In den Neunzigerjahren versuchte man, Härtefallkommissionen einzuschalten oder Petitionen einzureichen. Polizei und Ausländerbehörden schreckten in den allermeisten Fällen davor zurück, Abschiebungen in Kirchenräumen durchzuführen. Warum das so ist, ist bis heute unklar. Der sakrale Raum scheint auch im säkularen Staat einen gewissen Respekt auszulösen.

Seit 2015 sind die Asylzahlen in Deutschland wieder gestiegen, und wieder wurde das Kirchenasyl ein Thema. Auch geht es erneut um die Verhinderung von Abschiebungen. Denn mit dem europarechtlichen Dublin-System wurde eine Regelung geschaffen, die festlegt, welcher Staat für das Asylverfahren zuständig ist. Nach Artikel 3 Absatz 2 Dublin III-Verordnung (VO) ist das grundsätzlich der Ersteinreisestaat. Wenn also jemand in Deutschland Asyl beantragt, prüft das BAMF, ob der Asylsuchende nicht schon in einem anderen Dublin-Staat einen Asylgesuch gestellt hat. Da Deutschland von Dublin-Staaten und solchen, die mit der Regelung assoziiert sind, umgeben ist, ist das beinahe immer der Fall. Und mit dem Flugzeug kann man kaum nach Deutschland einreisen, da die Fluggesellschaften aufgrund einer EU-Richtlinie angehalten sind, den aufenthaltsrechtlichen Status zu überprüfen. Transportieren sie zum Beispiel jemanden ohne gültige Visa, drohen ihnen finanzielle Strafen. Durch diese Umstände ist Deutschland fast nie für das Asylverfahren zuständig, und Länder wie Griechenland, Italien, Ungarn sind es fast immer. Sogenannte Dublin-Flüchtlinge sind also regelmäßig von Abschiebungen bedroht.

Wie in den Neunzigerjahren erinnerte man sich der Kirchenasylgewährung. Die Dublin III-VO, die der Grund für die sogenannten Rücküberstellungen in die eigentlich für das Asylverfahren zuständigen Dublin-Staaten ist, enthält allerdings auch Möglichkeiten, die es damals noch nicht gab. Wenn sich nämlich ein Asylsuchender über sechs Monate in einem Staat aufhält, wird dieser für das Asylverfahren zuständig (Art. 29 Abs. 2 S. 1 Dublin III-VO). Was als Sanktion für solche Staaten dienen sollte, die die Zuständigkeitsregeln nicht durchsetzen, wurde zur Hoffnung mancher Flüchtlinge und Gemeinden. Denn im Kirchenasyl könnte man die sechs Monate ausharren und dadurch die Überstellungsfristen ablaufen lassen.

Falls jemand jedoch „flüchtig“ ist, sieht Artikel 29 Absatz 2 S. 2 Dublin III-VO eine Verlängerung der Überstellungsfristen auf 18 Monate vor. Damit sollte dem jeweiligen Staat mehr Zeit für die Rücküberstellung gelassen werden, wenn Flüchtlinge untertauchen und dadurch unauffindbar sind. Das BAMF kündigte sodann auch an, Kirchenasylflüchtlinge europarechtlich als „flüchtig“ anzusehen mit der Folge, dass Kirchenasyl gewährende Gemeinden möglicherweise anderthalb Jahre für Verpflegung und Unterbringung von Asylsuchenden aufkommen müssten. In dieser Situation kündigte der damalige Bundesinnenminister, Thomas de Maizière, im Frühjahr 2015 an, das Kirchenasyl nicht dulden zu wollen. Es gäbe für das Verhalten der Gemeinden keinerlei Rechtsgrundlage.

Eine besondere Härte

Der Ton begann sich zu verschärfen, als de Maizière das Rechtsverständnis der Gemeinden mit dem islamischen Scharia-Recht verglich. Als die offene Konfrontation von Staat und Kirche kurz bevorstand, traf sich der ehemalige Präsident des BAMF mit Vertretern der evangelischen und katholischen Kirchen und hielt Ende Februar 2015 eine Absprache fest, die einen Ablauf der Kirchenasylgewährung festlegte. Sollte sich an diese Absprache gehalten werden, würde das Bundesamt die Überstellungsfristen nicht auf 18 Monate verlängern. Das Kirchenasyl sollte sogar möglichst dadurch verhindert werden, dass die Gemeinden, die eine Kirchenasylgewährung erwägen, dem Bundesamt in einem Dossier begründen, warum es sich um eine besondere Härte, also Gefahr für Leib oder Leben, im Falle der Abschiebung handelt. Sollte ein Härtefall tatsächlich vorliegen, würde das Bundesamt das Selbsteintrittsrecht nach Artikel 17 Absatz 1 S. 1 Dublin III-VO ausüben und damit das Asylverfahren übernehmen. Da Deutschland dann für das Asylverfahren zuständig wäre, gäbe es keinen Grund mehr für ein Kirchenasyl.

Diese Verfahrensweise – die jeweilige Gemeinde meldet das Kirchenasyl unmittelbar an die Ausländerbehörden, schaltet einen kirchlichen Ansprechpartner ein, begründet in einem Dossier, warum es sich um eine unzumutbare Härte, also ultima ratio, handelt und beendet das Kirchenasyl, falls das BAMF keinen Härtefall anerkennt – funktionierte ein Jahr lang zur vollen Zufriedenheit aller. Doch im Vorfeld der Bundestagswahl 2017 schienen sich die Dinge zu ändern. Bereits 2016 gab es Ermittlungsverfahren gegen Pfarrer von Kirchenasyl gewährenden Gemeinden. Ihnen wurde Beihilfe zum unerlaubten Aufenthalt vorgeworfen, § 95 AufenthG, § 27 Absatz 1 StGB. Selbst wenn die Ermittlungen eingestellt wurden, Pfarrer sich also nicht in einer Hauptverhandlung verantworten mussten, kam es zu Verfahren gegen Asylsuchende. Ihnen wurde strafrechtlich vorgeworfen, sich ohne Erlaubnis auf dem deutschen Bundesgebiet aufgehalten zu haben. Das Oberlandesgericht (OLG) München kam im Mai 2018 in einer bemerkenswerten Entscheidung jedoch zu einem Freispruch.

Nach § 95 Absatz 1 Nummer 2c) AufenthG macht sich strafbar, wer sich ohne Erlaubnis in Deutschland aufhält. Eine Erlaubnis kann durch Aufenthaltstitel, Visa oder ähnliches erteilt werden. Unter bestimmten Umständen kann man jedoch aufenthaltsrechtlich geduldet werden. Das ist zum Beispiel der Fall, wenn eine Abschiebung aus rechtlichen oder tatsächlichen Gründen unmöglich ist, § 60a Absatz 2 AufenthG. Das OLG München kam aufgrund der Tatsache, dass sich vollständig an die Absprache von BAMF und Kirchen aus 2015 gehalten wurde und das BAMF den Einzelfall erneut prüfte, zu der Bewertung, dass es widersprüchlich wäre, wenn sich jemand unter diesen Umständen strafbar macht. Denn wenn das BAMF den Einzelfall auf individuelle Härten tatsächlich prüft, kann es nicht strafbar sein, die Entscheidung abzuwarten. Die Entscheidung, jemanden nicht abzuschieben, sondern den Fall erneut zu prüfen, ist eine des Bundesamtes, und eine Abschiebung ist während der erneuten Prüfung dann unmöglich.

Ärztliche Atteste reichten aus

Damit wird der Asylsuchende solange geduldet, bis das BAMF das Härtefall-Dossier positiv oder negativ beschieden hat. Aufgrund der Duldung ist der Aufenthalt erlaubt, und es liegt keine Strafbarkeit nach § 95 AufenthG vor. Damit ist bis zur einer höhergerichtlichen Entscheidung erst einmal geklärt, dass sich ein Kirchenasylflüchtling nicht strafbar macht, sofern sich die Gemeinde an die Vorgaben aus der BAMF-Kirchen-Absprache hält.

Die Vorgaben aus der Absprache scheinen sich aber mit der Zeit geändert zu haben. Die Bundesarbeitsgemeinschaft Asyl in der Kirche (BAK) kritisierte jedenfalls Veränderungen seit einem Zuständigkeitswechsel innerhalb des BAMF im Jahr 2016. Seitdem soll die Anerkennungsquote der Dossiers von anfangs 80 Prozent auf 20 Prozent gesunken sein. Gleichzeitig sollen die Anforderungen an die Dossiers gestiegen sein. Während anfangs noch ärztliche Attests ausreichten, um Krankheiten zu belegen, die im Dublin-Ersteinreiseland nicht behandelt werden können oder zumindest zu einer Reiseunfähigkeit führen, mussten nun fachärztliche Gutachten eingereicht werden.

Gleichzeitig wurde auf der Konferenz der Innenminister der Länder im Dezember 2017 festgehalten, dass das Kirchenasyl in Teilen der Öffentlichkeit zunehmend kritisch gesehen würde. Nach Aussagen des Innenministeriums von Schleswig-Holstein läge dies vor allem an den gestiegenen Kirchenasylzahlen. Zum Oktober 2018 erneuerte das Bundesinnenministerium per Erlass die Drohung, Kirchenasylflüchtlinge als „flüchtig“ anzusehen. Falls das Kirchenasyl nicht am Tag des Eintritts gemeldet, kein kirchlicher Ansprechpartner beteiligt, das Härtefalldossier nicht innerhalb eines Monats eingereicht und das Kirchenasyl nicht innerhalb von drei Tagen bei negativer Entscheidung verlassen werde, würden die Überstellungsfristen auf 18 Monate verlängert. Abgesehen von den praktischen Problemen der Umsetzbarkeit, so sind fachärztliche Gutachten selbst bei Krankenversicherten kaum innerhalb eines Monats zu erlangen, sind auch rechtliche Bedenken anzumelden.

Denn schon vom Wortlaut her ist es äußerst schwierig, Kirchenasylflüchtlinge als „flüchtig“ anzusehen. Unter „Flüchtigsein“ versteht man für gewöhnlich Flüchtlinge, die untertauchen, deren Aufenthalt also nicht mehr bekannt ist. Bei Flüchtlingen im Kirchenasyl ist der Aufenthalt aber bekannt. Die Meldung an die Ausländerbehörden ist essentiell für das moderne Kirchenasyl.

Kein Betretungsverbot für Kirchen

Vom Sinn und Zweck wird von manchen Verwaltungsgerichten aber argumentiert, verhalte sich ein Kirchenasylflüchtling genauso missbräuchlich wie jemand, der sich versteckt hält. Es gehe auch darum, die Überstellungsfristen ablaufen zu lassen. Dagegen kann aber eingewendet werden, dass sich Flüchtlinge im Kirchenasyl gerade einem erneuten Härtefallverfahren zuwenden. Ihr Interesse ist gerade, dass das Asylverfahren in Deutschland durchgeführt wird. Daher reichen sie Dossiers ein und begründen, warum sie zum Beispiel reiseunfähig sind. Auch ist gar nicht klar, ob Artikel 29 Absatz 2 S. 2 Dublin III-VO überhaupt solch eine subjektive Seite beinhaltet, dass auf die Motive des Flüchtlings geschaut wird. Objektiv taucht er auf jeden Fall nicht unter. Dies ist auch das stärkste Argument gegen eine Auslegung vom Sinn und Zweck her. Artikel 29 Dublin III-VO soll Staaten dazu bewegen, die Zuständigkeitsregeln durchzusetzen. Wenn der Staat dies aber nicht tut, obwohl er könnte, kann das nicht zu Lasten des Asylsuchenden gehen.

Diese Ansicht scheint bisher auch von den meisten Verwaltungsgerichten geteilt zu werden. Diejenigen, die diese Ansicht nicht teilen, verweisen mit der rechtsmissbräuchlichen Intention der Asylsuchenden auch darauf, dass schon kein Rechtsschutzbedürfnis bestehen dürfe. Kirchenasylflüchtlinge dürften also schon gar nicht gegen einen negativen Bescheid klagen, da sie mit dem Eintritt ins Kirchenasyl ihren Anspruch auf Rechtsschutz verspielt hätten. Dem kann mit den gleichen Argumenten wie oben begegnet werden, dass eine erneute Einzelfallprüfung des Staates nicht zu Lasten des Asylsuchenden gehen kann. Es wäre völlig widersprüchlich, den Asylsuchenden dafür zu bestrafen, dass er die vom Staat durch die BAMF-Kirchen-Absprache geschaffene Möglichkeit einer erneuten Härtefallprüfung nutzt.

Fazit: Die Flüchtlingskrise 2015 hat zu einem erneuten Aufkommen des Kirchenasyls geführt. Zwar gibt es in Deutschland keine Betretungsverbote für Kirchen, der Staat toleriert aber das Kirchenasyl in Ausnahmefällen. Dazu wurde eine Absprache von BAMF und Kirchen geschaffen, die ein anderes Staats-Kirchen-Verhältnis offenbart als das in den Niederlanden. Die Absprache ist aber nicht rechtlich bindend und wird staatlicherseits immer restriktiver gehandhabt. Wie lange es noch bei der Absprache bleibt, gilt abzuwarten.

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Simon Bieda

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