Hände weg vom Paragraphen 218

Warum die rechtliche Lage bei Schwangerschaftsabbrüchen nicht verändert werden sollte
Protest gegen Abtreibungsgegner am Rande des „Marsches für das Leben“ in Berlin, 2018. Foto: epd/ Christian Ditsch
Protest gegen Abtreibungsgegner am Rande des „Marsches für das Leben“ in Berlin, 2018. Foto: epd/ Christian Ditsch
Das Werbeverbot für Schwangerschaftsabbrüche, dem Ärzte und Ärztinnen in Deutschland unterliegen, steht derzeit in der Kritik. Doch in der Debatte um den Paragraphen 219a tauchen immer wieder Forderungen auf, die gesamte Rechtslage bei Schwangerschaftsabbrüchen neu zu gestalten. Davor warnt Lars Klinnert, Professor für Ethik an der Evangelischen Hochschule Rheinland-Westfalen-Lippe in Bochum.

In den vergangenen Monaten ist eine öffentliche Debatte um eine mögliche Streichung des Paragraphen 219 a StGB entbrannt, nach welchem sich strafbar macht, wer um des eigenen Vermögensvorteils willen Schwangerschaftsabbrüche bewirbt. Zu Recht muss der Gesetzgeber nun darüber nachdenken, ob es Ärztinnen und Ärzten, die legale Schwangerschaftsabbrüche durchführen, nicht sinnvollerweise erlaubt sein soll, in sachlicher Form auf dieses Angebot hinzuweisen. Im Zuge einer breiten Solidarisierungswelle mit mehreren angeklagten Gynäkologinnen, der sich unter anderem die Evangelischen Frauen in Deutschland angeschlossen haben, ist allerdings auch die seit 1995 geltende Abtreibungsgesetzgebung insgesamt wieder verstärkt in die Kritik geraten. So forderte die bekannte Frauenrechtlerin Alice Schwarzer kürzlich in ihrer Zeitschrift Emma, den „faulen Kompromiss“ der so genannten Beratungsregelung aufzukündigen und den Schwangerschaftsabbruch endlich als „elementares Menschenrecht“ anzuerkennen.

Indes ist die in feministischen Kreisen populäre Formel von einem „Menschenrecht auf Abtreibung“ in zweierlei Hinsicht anfechtbar: Erstens bezieht sich der von den Menschenrechten gewährte Schutz üblicherweise auf grundlegende Realisierungsdimensionen der menschlichen Würde, nicht aber auf bestimmte Handlungen. So wird beispielsweise ein „Menschenrecht auf Gottesdienst“ in keinem einschlägigen Rechtstext festgelegt; vielmehr ergibt sich das konkrete Recht, einen Gottesdienst zu veranstalten oder an einem Gottesdienst teilzunehmen, aus dem Menschenrecht auf Religionsfreiheit. In ähnlicher Weise kann aus den weithin anerkannten Menschenrechten auf Selbstbestimmung sowie auf körperliche und seelische Unversehrtheit abgeleitet werden, dass kein Mensch über den Körper eines anderen Menschen verfügen darf – und somit auch nicht die Gesellschaft oder der Staat. Erst auf dieser Grundlage lässt sich dann postulieren, dass eine Frau weder direkt (also mit rechtlichem Zwang) noch indirekt (etwa durch einen fehlenden oder erschwerten Zugang zu entsprechender medizinischer Versorgung) dazu genötigt werden darf, eine Schwangerschaft auszutragen.

Diesem Prima-facie-Recht steht jedoch zweitens die Tatsache entgegen, dass in den Schwangerschaftskonflikt zwangsläufig ein weiteres Menschenrechtsubjekt involviert ist. Das Bundesverfassungsgericht hat mehrfach betont, dass ein menschliches Individuum vom frühestmöglichen Zeitpunkt seiner Identifizierbarkeit an unter staatlichem Schutz zu stehen hat. Es liegt nämlich in der Natur der in Artikel 1. Absatz 1 Grundgesetz als unantastbar proklamierten Menschenwürde, dass sie an das Menschsein als solches geknüpft ist – und nicht erst durch zusätzliche Qualifikationsmerkmale (wie etwa Angenommensein oder Geborensein) erworben werden muss. Wann immer bestritten wird, dass auch dem ungeborenen Menschen ein bedingungsloses „Dasein um seiner selbst willen“ (BVerfGE 88, 203) zukommt, droht das die freiheitliche Rechtsordnung konstituierende Fundamentalprinzip Menschenwürde selbst unterminiert zu werden. Die Tötung eines Embryos oder Fötus kann daher niemals von vornherein rechtmäßig sein. Theologisch gesprochen, ist auch der noch nicht geborene Mensch als Ebenbild Gottes anzuerkennen, das zu einem verantwortlichen Handeln aus Gottes- und Nächstenliebe herausfordert.

Vitale Basis

Zwar kann durchaus zugestanden werden, dass ein menschliches Wesen erst im Laufe eines komplexen Prozesses die notwendigen Eigenschaften und Fähigkeiten erlangt, um seine Menschenrechte effektiv wahrnehmen zu können. Das Recht auf Leben jedoch liegt der praktischen Ausübung aller anderen Menschenrechte als deren „vitale Basis“ (BVerfGE 39, 1) zugrunde und darf daher nicht an bestimmte Entwicklungsstufen gekoppelt werden. Dem im Uterus befindlichen Fötus kann dieses elementarste aller Menschenrechte allein durch seine Mutter gewährt werden, die sich dadurch in einer unübertragbaren Garantenstellung befindet. Ihr Bauch gehört ihr – um einen Slogan aus den Siebzigerjahren aufzunehmen – unter diesen Umständen gerade nicht mehr allein. Vielmehr kommt ihr die moralische und rechtliche Pflicht zu, im Rahmen ihrer physischen, psychischen und sozialen Möglichkeiten für das Leben ihres ungeborenen Kindes einzustehen. Da hieran nichts weniger als die Achtung seiner Menschenwürde hängt, können die damit für die Mutter (sowohl während als auch nach der Schwangerschaft) womöglich verbundenen Belastungen normalerweise als zumutbar angesehen werden.

Eine andere Situation ergibt sich allerdings, sobald infolge der Schwangerschaft ihre eigene Menschenwürde auf dem Spiel steht. In einem solchen Konfliktfall überwiegt ihr Abwehrrecht, die eigene körperliche, seelische und biografische Integrität zu schützen, unbestreitbar das Anspruchsrecht des ungeborenen Kindes auf die weitere Bereitstellung der für eine faktische Realisierung seines Lebensrechtes erforderlichen Umweltbedingungen. Im Anschluss an fast fünfzig Jahre alte Überlegungen der amerikanischen Philosophin Judith Jarvis Thomson kann daher Abtreibung (ausschließlich) als eine Art Notwehrrecht der Schwangeren gegen einen (freilich nicht intendierten) Angriff des Fötus auf ihre Menschenwürde legitimiert werden.

Die geltende Rechtslage erkennt im Rahmen der so genannten Indikationsregelungen zwei Fallkonstellationen an, in denen eine fortgesetzte Schwangerschaft regelmäßig zu einer Würdeverletzung führen kann: Der Schwangerschaftsabbruch ist ausdrücklich nicht rechtswidrig, wenn entweder Leben oder Gesundheit der betroffenen Frau durch die Schwangerschaft bedroht sind oder aber wenn die Schwangerschaft selbst bereits auf würdeverletzende Weise (nämlich durch eine Straftat gegen die sexuelle Selbstbestimmung) zustande gekommen ist. Darüber hinaus enthält sich der deutsche Gesetzgeber in den ersten zwölf Wochen nach der Empfängnis jeder eigenen Bewertung darüber, unter welchen Umständen das weitere Austragen eines Kindes die „zumutbare Opfergrenze“ (Paragraph 219 Absatz 1 StGB) übersteigt. Er toleriert diesbezüglich vielmehr die individuelle Urteilsfindung der Schwangeren selbst, indem er den juristischen Tatbestand eines Schwangerschaftsabbruchs unter der formalen Bedingung einer verpflichtenden Beratung mindestens drei Tage vor dem Eingriff schlichtweg als „nicht verwirklicht“ (Paragraph 218 a Absatz 1 StGB) ansieht.

Lebensnahe Abwägung

Diese Beratungsregelung stellt keineswegs bloß einen politischen Kompromiss zwischen permissiven und restriktiven Positionen dar. Sie nimmt vielmehr eine ebenso scharfsinnige wie lebensnahe Abwägung der betroffenen Grundrechte vor: Zum einen wird jeder staatliche Gebärzwang gegen die schwangere Frau zurückgewiesen, indem das letztendliche Befinden über die Zumutbarkeit oder Unzumutbarkeit ihrer Situation gerade keiner öffentlichen Instanz zugestanden wird, sondern einzig und allein ihrer selbstbestimmten Gewissensentscheidung. Zum anderen wird mittels der Beratungspflicht sowohl das individuelle als auch das gesellschaftliche Bewusstsein dafür geschärft, dass der Fötus eben nicht unter der freien Verfügungsgewalt seiner Mutter steht, sondern allenfalls in der exzeptionellen Notsituation eines unauflöslichen Würdekonfliktes hinter ihren berechtigten Interessen zurückstehen muss.

Ob der verfassungsgerichtliche Auftrag tatsächlich erfüllt worden ist, durch die Schwangerschaftskonfliktberatung samt flankierenden Schutzmaßnahmen einen nicht nur symbolischen, sondern letztlich auch effektiven Lebensschutz zu gewährleisten, lässt sich angesichts von immer noch rund 100.000 Schwangerschaftsabbrüchen im Jahr bezweifeln – auch wenn die Abtreibungsquote in den vergangenen 15 Jahren immerhin um etwa ein Viertel gesunken ist. Unübertrefflich aber erscheint nichtsdestotrotz die rechtssystematische Glanzleistung des geltenden Paragraphen 218 a StGB, der in der existenziellen Grundsituation des tiefgreifenden Verwobenseins von mütterlicher und kindlicher Menschenwürde einen geradezu optimalen Ausgleich herstellt zwischen einem prinzipiellen Rechtsschutz für das ungeborene Leben einerseits und einer weitgehenden Entscheidungsfreiheit für die schwangere Frau andererseits.

Eine alternative Regelung, welche die konfligierenden Würdeansprüche in ähnlicher Besonnenheit miteinander zu vereinbaren vermag, ist bislang von niemandem vorgeschlagen worden. Sowohl Abtreibungsgegner als auch Abtreibungsbefürworter sind daher gut beraten, den seit über zwei Jahrzehnten bestehenden Rechtsfrieden nicht zugunsten einer kurzfristigen Aufmerksamkeit für einseitige Maximalforderungen in Frage zu stellen, die nicht nur gesellschaftlich und politisch unrealistisch, sondern auch rechtlich und ethisch unzulässig erscheinen.

Lars Klinnert

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